Gespräch
Residuen des Verschwindens
Christine Litz, Anne Kersting und Harald Welzer im Gespräch über das Projekt „Depot Erbe“ des Museums für Neue Kunst Freiburg und des Theaters Freiburg
von Christine Litz, Anne Kersting und Harald Welzer
Erschienen in: Arbeitsbuch 2017: Heart of the City II – Recherchen zum Stadttheater der Zukunft (06/2017)
Assoziationen: Baden-Württemberg Theater Freiburg
Anne Kersting: „Depot Erbe“ ist ein Projekt, bei dem über zwanzig Choreografen und Performer ins Museum gehen. Was bedeutet es, das eigene Medium, die eigene Räumlichkeit, die eigene Institution zu verlassen? Ihre Thematik hat sich nicht groß verändert. Aber das Publikum ist ein anderes. Auf einmal habe ich Theater-, Tanz- und Performancekünstler, die sich normalerweise an ein Publikumskollektiv richten, jetzt aber ganz andere Adressaten haben. Zudem adressieren sie, ohne anwesend zu sein, das ist der erste große Unterschied zwischen Theater und Museum.
Die Bühnenkünstler machen zum ersten Mal die Erfahrung, etwas zu hinterlassen, sie vererben dem Museum etwas, und sei es auch temporär, in diesem Fall für fünf Wochen, sind aber selbst nicht anwesend. Sie sind nicht Vertreter des Materials, nicht die Sprecher ihres Materials vor Ort. Und sie richten sich eben nicht an eine Gruppe, die planbar ist über eine Uhrzeit und Vorbestellungszahlen, anhand derer man sehen kann, wer kommt und wie viele, sondern sind wirklich in der Geste der Hinterlassenschaft und weniger der direkten Adressierung.
Christine Litz: Das ist die interessante Schnittstelle. So ein Museumsbesuch ist viel anarchischer, als ihr das aus dem Theater kennt. Im Theater kommt das Publikum an einen von euch festgelegten Ort und kann über eine von euch bestimmte Zeit etwas konsumieren. Man weiß, wo das Publikum sitzt, weiß, wie was ablaufen wird. Man hat sozusagen diese dramaturgischen Zügel des Adressierens im Griff. Im Museum kommt der Besucher oder die Besucherin allein oder in einer Gruppe, kann von hinten anfangen oder von vorn, er kann Dinge einfach überspringen, bei manchen wiederum Stunden verweilen. Er kommt, wann er will, geht, wann er will, kommt unter Umständen wieder. Die Bedingungen der Wahrnehmung sind viel freier und selbstbestimmter. Das kann verunsichern. Ein wesentlicher Unterschied von Theater und Museum ist sicher auch, dass die Exponate oder „die Geste der Hinterlassenschaft“, wie du das nennst, sich im Museum anders materialisieren müssen, um ausgestellt und gesammelt werden zu können. Also die Frage nach dem Umgang mit dem materiellen und immateriellen Erbe.
Harald Welzer: Vielleicht besteht ja aber auch das Erbe des Immateriellen darin, dass es kein Erbe gibt. Nehmen wir Tino Sehgal. Die wirklich absolute Qualität dieser choreografischen Arbeit besteht ja darin, dass sie nur in der Zeit existiert, nicht vorher, nicht hinterher und schon gar nicht archiviert wird. Das ist meiner Meinung nach die ästhetische Qualität oder das ästhetische Erlebnis einer solchen Arbeit. Und das kann ich halt nirgendwo anders hintransformieren. Das finde ich super! Das ist in gewisser Weise essenziell. Diese spezifische Zeitlichkeit, dass es eben nicht in der Zeit stattfindet. Deshalb ist meine erste Reaktion: Ist doch schön, wenn es weg ist!
Kersting: Umso irritierender der Begriff Erbe, inklusive den Ansprüchen, Hoffnungen und Wünschen, die dahinterstecken, gerade in Europa, in Deutschland, wo die ökonomische Frage absolut immanent ist, weil es noch wahnsinnig viel zu vererben gibt.
Welzer: Knete, ohne Ende.
Kersting: Ja, Knete. Und vom historischen Erbe ganz zu schweigen. „Depot Erbe“ ist sicherlich ein Projekt, das sich an einem Begriff abarbeitet.
Welzer: Aber vielleicht kommt ja als Schlussfolgerung heraus: Immaterielles lässt sich nicht vererben. Das wäre ein Ergebnis, das mich total interessiert. Was sich vererben lässt, ist die Erzählung darüber, aber nicht der Akt selbst. Trotzdem bleibt für mich die Frage: Was ist der Mehrwert, dies zu zeigen?
Kersting: Christine, als Hausherrin des Museums für Neue Kunst, was ist für dich der Mehrwert?
Litz: Ich fand als Allererstes die Arbeitshypothese spannend: Jede einzelne Person, die ins Museum geht, ist ein Erbe, eine Erbin. Also das Selbstverständnis: Ich gehe nicht nur in ein Museum, um mir etwas anzuschauen, aus ästhetischen oder narrativen Gründen, weil ich von der Schule gezwungen wurde, weil mich die Ausstellung interessiert oder weil es gerade regnet. Vielmehr geht es um die Frage: Was wird mir da wie präsentiert? Was sehe ich, und was hat das mit mir zu tun?
Als städtisches Museum sind wir eine öffentliche Institution, unsere Sammlung gehört allen – keinem spezifisch.
Dieses Bewusstsein zu schaffen, dass man die Exponate anschaut wie ein Erbe, wie wenn man in die Wohnung der verstorbenen Großmutter geht, fand ich eine spannende Disposition. Den Status des Erben bewusst zu machen und beispielsweise zu überlegen, wie man Besitz anders definieren kann. Wie könnten andere, alternative Erbgemeinschaften aussehen? Wie kann man überhaupt darüber sprechen? Wie kann man den Status quo in Zukunft denken? Und natürlich auch: Wie kann man etwas, das nur zeitweilig materiell wird, wieder aufführen beziehungsweise zeigen?
Im Verlauf des Projekts kamen interessante Dinge zutage, wo es tatsächlich plötzlich ein materielles Produkt gab, wie das Buch in Ivana Müllers Installation. Da hätten die Künstler vorschlagen können, wir überlassen das jetzt dem Museum, damit es unter der Inventarnummer XY als ein Kunstwerk aus dem „Depot Erbe“ weitergegeben wird. Nein, sie stellen ein Faksimile des gelesenen, mit Randnotizen versehenen Buches aus, während das Original in den nächsten zehn Jahren zur weiteren Lektüre weltweit weitergereicht wird. Jeder kann das Buch besitzen, nur nicht das Museum. Interessant fand ich auch, dass sie diskutiert haben, das Buch der städtischen Bibliothek zur ganz normalen Ausleihe zur Verfügung zu stellen.
Um mittels dieser alternativen Drehungen und Wendungen über unser kulturelles Erbe nachzudenken, dafür machen wir dieses Projekt. Und ich glaube, da kommt ein bisschen mehr heraus, als festzustellen, man kann es dann doch nicht vererben. In der Ausstellung gibt es einen Parcours von Angeboten, die versuchen, dieses Denken zu aktivieren. Da entsteht eine zufällige Erbengemeinschaft, die sich damit auseinandersetzen muss, wie es mit bestimmten Dingen weitergeht. Es geht um andere Strategien, sich als Erbe oder als Erbin zu empfinden, sich auch einzubringen, ein Verhältnis aufzubauen und nicht nur etwas anzugucken.
Kersting: Wenn du dir die europäische Tradition von Erbschaft anschaust, stößt du sehr schnell auf zwei fragliche Konnotationen: Besitz und Abstammung. In dieser Logik ist der Begriff Erbschaft verfangen und löst viele Assoziationen aus. Auf Erbschaft erfolgt immer eine Reaktion: annehmen, dazugehören, besitzen, erinnern, bewahren, weitergeben, ablehnen, vergessen. „Depot Erbe“ ist eine Behauptung. Christine, du sprachst von einer Arbeitshypothese: Wer erbt, besitzt nicht – er nimmt teil. Teilhabe enthält keine Aspekte des Besitzens, außer, dass du vielleicht eine recht erschwingliche Eintrittskarte bezahlt hast. Und wer nicht besitzt, braucht sich auch nicht zu fragen, was ihm per Genealogie oder per kultureller Herkunft zusteht. Die Künstler und Künstlerinnen von „Depot Erbe“ definieren kulturelles Erbe als eine unbeendete Hinterlassenschaft an die Besucher des Museums und laden dazu ein, sich der Werke anzunehmen, jenseits der Frage, wem sie gehören oder später gehören werden. Sie präsentieren eigens für die Ausstellung entwickelte Arbeiten, die stets auf die Zukunft ihrer Betrachter verweisen. Es sind begonnene Erinnerungen, deren Weitergabe jedes Werk zu dem macht, was es ist – kein archivierbares Objekt, sondern eine Einladung, es fortzusetzen.
Was ist die Konsequenz einer Erbschaft? Oder eben, wenn es heißt, Immaterielles lässt sich nicht vererben: Wo geht es hin? Verschwindet es, verstreut es sich, bekommt es mehrere Besitzer?
Welzer: Halten wir das doch mal für möglich. Es ist doch gut, wenn Sachen verschwinden. Wir sind ja eine extrem materielle Kultur, und jedes Jahr wird das Schwergewicht des Materiellen größer und größer und größer. Die Leute sind ja vollkommen in der Materialität eingemauert. Da ist es auch unglaublich gut, dass es noch Residuen des Verschwindens gibt. Das sind ja Residuen des Nicht-Besitzens, der Nicht-Vereinnahmung. Dinge sind dann weg. Und das ist ja auch ein Teil des Wesens des Ästhetischen: dass ich es nicht festhalten kann.
Auch wenn ich mit einem Werk konfrontiert bin – sobald ich raus bin aus dem Museum, ist es weg. Was bleibt, ist meine Erfahrungsspur oder die Gänsehaut, aber die Konfrontation mit dem Werk ist weg. Weil die Beziehungssituation verschwunden ist. Genauso wie ein Gespräch, wenn es zu Ende ist, weg ist. Das existiert nicht mehr, und das ist doch gut, weil ich als Gedächtnisforscher immer sagen würde: Gedächtnis funktioniert nur, wenn es Vergessen gibt. Gedächtnis funktioniert nicht, wenn man alles behält.
Das ist übrigens auch das Problem der Materialität des Internets. Das übersetzt ja Nicht-Vorhandenes in permanent Vorhandenes und mauert einen genauso ein wie die materielle Kultur. Eigentlich muss man das Vergessen konservieren (lacht). Also nicht das Vergessen, sondern die soziale Tatsache, dass Dinge vergessen werden. Das muss man stark machen und nicht versuchen, durch unendliche Übersetzungsvorgänge einen Aufbewahrungszustand zu erzeugen.
Kersting: Ja, kein Aufbewahrungszustand, darüber reden wir ja gerade. Ich glaube, es gibt die Möglichkeit, durch ebensolche künstlerischen Projekte zu reflektieren oder es sogar erfahrbar zu machen, wie man sich von dieser Besitzhaftigkeit, von diesem Zugriff auf das Materielle lösen könnte.
Litz: Da ist man im Museum genau am richtigen Ort. Es gibt Künstler wie Dieter Roth, der seit den 1960er Jahren Objekte aus organischen Materialien anfertigte, die dem Prozess der Veränderung preisgegeben werden und schließlich zerfallen. Wir haben in unserer Sammlung zwar keinen Dieter Roth, aber wenn wir einen hätten, würden Restauratoren ihr ganzes Wissen darauf verwenden, dass der aktuelle Zustand der Skulpturen so lange wie möglich erhalten bleibt, auch wenn es den Absichten des Künstlers diametral entgegensteht. Das Museum ist sozusagen in dieser irren Annahme, dass es, obwohl es erst 250 Jahre alt ist, in Zukunft noch sehr lange existieren wird. Daraus leitet es ab, die Materialität von heute so unverändert wie möglich für die nächsten fünfhundert, tausend, tausendfünfhundert Jahre zu konservieren. Das ist wie Luft anhalten. Die Frage nach der Materialität ist eine Kernfrage des Museums und sein konservatives Selbstverständnis als bewahrende Institution. Die in der Ausstellung angesprochene Voraussetzung von „Ich bin Erbe von etwas, ich nehme mich einer Sache an, ich kümmere mich um etwas“ ist spannend im Zusammenhang mit der Institution Museum. Am Ende dieser Ausstellung wird es außer Dokumentationen und Texten nichts Sammelbares geben. Diese Ausstellung wird sich auflösen.
Kersting: Rund dreißig Kilometer von Freiburg entfernt gibt es den Barbarastollen, einen ehemaligen Versorgungsstollen, der seit 1975 als Zentrales Archiv Deutschlands genutzt wird. Dort werden fotografisch archivierte Dokumente gelagert, die von hoher nationaler oder kulturhistorischer Bedeutung sind. Wir haben eine Zeit lang tatsächlich mit diesem Szenario gespielt: Was wäre, wenn wir nach dem Projekt darüber nachdenken müssten, was in eines dieser atomsicheren Fässer rein soll? Wofür würden wir uns entscheiden? Wofür nicht? Allein über dieses Science-Fiction-Szenario könnte ich noch mal ein ganzes Projekt machen.
Welzer: Man kann diese Frage auch viel weiter aufspannen. Wir teilen ja die Annahme unserer Kultur über sich selbst. Und da wir eine extrem materielle und materialistische Kultur sind, können wir so etwas wie Erbe kaum anders denken. Das ist gewissermaßen immer an das Materielle gebunden. Womöglich aber könnte es ja sein, dass das, was Menschen und Kulturen tun, im Wesentlichen deswegen eine Historizität hat, weil es gar nicht an das Material gebunden ist. Das könnte eine irre Fragestellung sein.
Ich gebe mal ein Beispiel, dass ich faszinierend finde: Städte existieren unglaublich lange, Tausende von Jahren. Sie überleben alle Regime, alle Donald Trumps, allen Scheiß, den es gibt. Und selbst, wenn sie zerstört sind, werden sie wieder aufgebaut. Das heißt, die Stadt sieht hinterher völlig anders aus als vorher, aber irgendetwas ist da vorhanden, was transportiert wird und was eine Form von Bedeutung für die Leute hat. Obwohl die vielleicht schon einer ganz anderen Generation entstammen. Das könnte ein Hinweis darauf sein. Ähnlich wie bestimmte Gesten, bestimmte Wahrnehmungen, bestimmte nichtmaterialisierte Mitteilungen. Das, was tatsächlich in einem emphatischen Sinne Erbe ist, könnte ganz woanders angesiedelt sein, als wir es normalerweise glauben.
Ich habe ja vorhin nach dem Erkenntnisgewinn gefragt. Das wäre für mich zumindest als Möglichkeit etwas Interessantes. Ich weiß, ihr habt da historisch gearbeitet, und wir suchen natürlich immer nach dem, was man festhalten kann, aber es kann gut sein, dass das, was die menschliche Überlebensform stark macht, genau das Gegenteil davon ist.
Litz: Die Frage ist, ob das, was wir materiell festhalten können, das ist, worum es geht. Zum Beispiel, wenn man sich die Readymades von Marcel Duchamp ansieht. Das berühmte Pissoir ist ja schon lange nicht mehr das Original, sondern ein Nachbau von Arturo Schwarz. Bei den Readymades geht es auch gar nicht darum, dass Duchamp einen Alltagsgegenstand ins Museum bringt und damit einen Schnitt setzt. Das ist arg verkürzt. Bei diesem spezifischen Pissoir ging es darum, dass es damals die Künstlervereinigung Society of Independent Artists gab, die gesagt hat: Jede Person, die bei uns fünf Dollar bezahlt, darf an unserer Ausstellung teilnehmen – wir stellen alles aus, was immer euch einfällt. Ein sogenannter Richard Mutt, sprich Duchamp, hat also fünf Dollar bezahlt und dieses Pissoir zur Ausstellung eingereicht. Und plötzlich hieß es: Moment, das können wir leider nicht ausstellen, weil wir denken, das ist keine Kunst.
Es geht also im Kontext dieser Arbeit um etwas ganz anderes als das, was wir am Ende materiell vorfinden und was dem eigentlich viel Explosiveren gar nicht mehr gerecht wird.
Kersting: Es gibt ein Projekt der in Berlin lebenden schottischen Künstlerin Katie Paterson, das genau diese Zeitlichkeit von Erbschaft auf den Kopf stellt, weil sie die Materialisierung verzögert. Sie hat in Norwegen mehrere Hektar Wald gepachtet und Bäume gepflanzt, die zur Papierherstellung geeignet sind. Jedem Baum wird ein Autor zugeteilt. Die Idee ist, dass diese Bäume hundert Jahre wachsen und nachher zu Papier verarbeitet werden. Geschrieben wird also für den Baum, und jener Baum ist das Archiv dessen, was geschrieben wird. Das Buch, die Materie erscheint aber erst in hundert Jahren. Das heißt, jeder Autor produziert einen Text, ein Werk für eine Zeit, die er nicht mehr erleben wird. Und auch die Künstlerin wird das Ende des Projekts nicht mehr erleben. Jeder Baum ist die Bibliothek eines Buchs, das es materiell noch nicht gibt. Wie werden die Bücher bei ihrer Veröffentlichung zu datieren sein? Sind sie kulturelles Erbe aus der Zeit, in der sie geschrieben wurden, oder aus der Zeit, in der sie gelesen sein werden? Der Zeitbegriff verändert sich.
Welzer: Das finde ich interessant. Wenn man sich zum Beispiel klassische Gartenbaukunst oder Parkkunst anschaut, ist das ja im Grunde dasselbe Prinzip: Diejenigen, die den Park entwerfen, werden ihn nie sehen. Das ist ja total spannend, wenn ich mir ausmale, ich lege zum Zeitpunkt X einen Park an und wähle bestimmte Baumsorten aus, die eine bestimmte Wachstumszeit haben, stelle mir dabei vor, wie dieses Arrangement in 130 Jahren im Herbst aussieht, weil es mir auf die Laubfärbung ankommt, die aber erst entsteht, wenn die Bäume ein bestimmtes Alter haben. Das heißt, ich entwerfe etwas, was ich nie sehen werde. Das ist eine ähnliche Operation, und vielleicht besteht Kultur ja tatsächlich in dem Vorhalten von Dingen, die gar nicht für die Zeitgenossen bestimmt sind. Womit man wieder bei dem Begriff des Erbens wäre – aber immateriell.
Litz: Ja genau! Und das ist ja das Faszinierende an den von Ihnen vorher geäußerten Gedanken. Dass man sagt, du hast zwar die Materie, und natürlich ist das das Einzige, woran wir im Moment festhalten können. Aber dass das Immaterielle jetzt auch noch materialisiert werden muss, ist ja der falsche Weg.
Bei „Depot Erbe“ sind die Künstler nicht diesen Weg gegangen. Sie sind dem nicht erlegen, zu sagen: Wir sind zwar keine bildenden Künstler, aber wir stellen es ins Museum, und am Ende kann es in die Museumssammlung übergehen. Das wäre der einfache Weg gewesen. Stattdessen haben sie andere Wege gefunden. Das Buch reist weltweit weiter, sodass eine kollektive, öffentliche, eine über die Zeit weiter fortschreitende Erbengemeinschaft entsteht, die sich bildet, weil sich jemand des Buches annimmt. Oder der Reis, der in einer Installation von Stan’s Cafe vorkommt und vielleicht am Ende einfach nur gekocht wird. Vielleicht kommen andere Erbengemeinschaften zustande. Sozusagen ein Versuch, sich tatsächlich alternative Möglichkeiten zu überlegen, wie es weitergehen kann.
Kersting: Im Grunde genommen ist es das Ausüben einer Fortsetzungspraxis. Man verlässt den Werkbegriff. Bei wem ist der Reis gelandet, wenn Künstler ihn mittels ihrer Installation weggeben und die Entscheidung über den Verbleib den Besuchern überlassen wird? In wessen Händen wird das Buch aus Ivana Müllers Installation landen? Ein kurzer Einblick in ein Zukunftsszenario: Wo geht es hin, wohin ist es verschwunden, wo hat es sich tatsächlich verankert, wo nicht?
Die Frage stellt sich auch bei der Übergabe des Theaters Freiburg an die nächste Intendanz: Was archiviert man? Ist irgendjemandem damit geholfen, wenn wir Programmhefte archivieren? Da finde ich zum Beispiel das Projekt von Olga de Soto spannend, die sich seit Jahren mit der Zeitzeugenschaft von Zuschauern beschäftigt, indem sie Erinnerungen von Zuschauern sammelt, aus unterschiedlichen Zeiten und Ländern, um zu schauen, wie und wo sie kursieren. Wo findet sie etwas wieder? Und selbst wenn sie etwas wiederfinde – sie bündelt ja nichts, sie will sich tatsächlich nur die Verbreitung, die Verstreuung anschauen. Das ist noch mal ein ganz großes Thema für das Theater Freiburg – jenseits von „Depot Erbe“. Ein Theater nach elf Jahren Intendanz – was wird es hinterlassen? Wird es irgendetwas hinterlassen? Ein Theater ist ja kein Archiv.
Welzer: Ja, Gott sei Dank.
Kersting: Es ist als solches nicht angelegt. Und trotzdem werden solche Fragen gestellt. Trotzdem überlegt eine Dramaturgie-Abteilung: Sollen wir ein Abschlussheft machen?
Welzer: Ich meine, man hat das doch, wenn man umzieht. Diese ganzen fürchterlichen, einst mit sehr großem Aufwand hergestellten Dokumentationen, Programmhefte, Kataloge. Natürlich habe auch ich Kataloge, ohne Ende, und ich fühle mich echt erschlagen davon, zumal beim Umziehen. Gleichzeitig weiß man, dass unglaublich viel Geld, Mühe und Worte da reingeflossen sind. Deshalb schämt man sich, sie wegzuschmeißen. Das ist ja nicht wie eine Zeitung. Aber vielleicht auch doch. Ich finde, Dinge, die einfach weg sind, sind unendlich wichtig. Das ist auch die Dialektik des Erbes. Erbe ist ja auch eine fürchterliche Belastung.
Wir unterliegen natürlich gerade in Deutschland als Erbe einer unglaublichen Schwerkraft der Geschichte. Gegenwärtig aber, glaube ich, macht sich die Gesellschaft davon wieder frei, in einem positiven Sinne. Aber dass Vergangenheit und Erbe eine so hohe Bedeutung haben, hat natürlich mit diesem negativen, mit diesem spezifischen Erbe zu tun.
Ich finde es übrigens interessant, damit ich nicht missverstanden werde: Wir sind jetzt ja in der dritten oder sogar vierten Nachkriegsgeneration, und das Tolle ist, dass diese letzte Generation einen eigenständigen Umgang mit dieser Vergangenheit entwickeln kann. In der wissenschaftlichen Diskussion kommt ja ständig die große Frage auf: Was passiert, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt? Ich sage dann immer: Jetzt kann man frei mit Geschichte umgehen, einen emanzipativen Umgang mit der Geschichte pfle en. Solange Zeitzeugen von der Last der Geschichte künden, gibt es eine Determination des Umgangs mit dieser Geschichte. Das ist für zwei Generationen extrem wichtig gewesen, weil sie teils darin verstrickt waren. Aber jetzt muss auch mal ein anderer Umgang möglich sein, zumal Gegenmenschlichkeit heute anders aussieht als vor achtzig Jahren. In der Erinnerungskulturdebatte werde ich für solche Sätze geteert und gefedert und für konterrevolutionär erklärt, aber das alles nur, weil es deren Business ist.
Kersting: Ich finde ja die Frage, was passiert, wenn die Zeitzeugen nicht mehr sprechen, in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation wieder extrem wichtig. Was erzählt die entstehende Lücke in der Erzählung, und wer setzt die Hinterlassenschaften der Zeitzeugen fort?
Litz: Wer übernimmt das Erbe und vor allem wie? Ich finde beispielsweise, dass man Joseph Beuys erst wieder ausstellen kann, wenn alle tot sind, die mit ihm gearbeitet haben.
Welzer: Das kann sein, ja.
Litz: Sonst schreit immer jemand: Nein, das ist nicht authentisch oder das ist anders. Freiheit des Umgangs, das wird erst passieren, wenn jemand wirklich noch mal einen ganz anderen Blick darauf werfen kann.
Kersting: Das ist auch die Erfahrung, die der Tanz momentan macht – er ist in einer ungeheuer ambivalenten Situation. Wenn der Tanz ökonomisch gut funktionieren will, also Publikum generieren will, muss er entweder wahnsinnig verschwitzt sein, oder er braucht eine historische Referenz, Ikonen, die zu einer Lesart verhelfen. Denn der Tanz ist ja im Gegensatz zum Theater – und das höre ich immer wieder in Gesprächen mit Zuschauern – für viele ein nicht lesbares Medium. Nicht, weil sie ihn nicht lesen können, sondern weil sie nicht wissen, wie man ihn verbal bespricht. Viele meinen, keine Sprache dafür zu haben. Und da sind wir dann wieder in diesem Mechanismus der Bewahrung.
Welzer: Aber wenn etwas gut ist, dann liegt seine Qualität darin, dass es sich nicht in etwas anderes übersetzen lässt. Das ist genau der springende Punkt. Das ist das, was ich vorher meinte: Wie gehe ich in ein Museum? Mich interessieren nicht die Waschzettel, mich interessieren auch nicht die Kunsthistoriker, mich interessiert das Werk. Das ist bei Tanz genau das Gleiche. Der hat seine Qualität genau darin, dass ich es nicht verbalisieren kann. Ich kann ja auch nicht sagen, warum ich einen Song besonders gut finde. Da können mir zwar zweihundert Musikwissenschaftler mitteilen, warum ich das möglicherweise gut finde. Es sind aber in der Regel nicht die Songs, die ich gut finde, bei denen jemand gesagt hat, weshalb ich das gut finde. Genauso wie ein Gespräch eine Qualität darin hat, dass es stattfindet. Aber ich kann ja nicht hinterher eine Kontextualisierung und Analyse des Gesprächs vornehmen, mittels derer ich rausbekomme, weshalb es gut gewesen ist. Verstehen Sie? Das, was uns interessiert und affiziert und auch Erfahrung generiert, ist das, was in der Zeit stattfindet. Oder wenigstens in dem ihm angemessenen Medium stattfindet. Natürlich kann ich bei einem Kunstwerk Erfahrungen machen, obwohl das Ding fünfhundert Jahre alt ist, dasselbe kann ich mit einem Roman machen, und dasselbe kann ich vielleicht auf eine Weise mit einem Theaterstück machen. Aber die eigentliche Qualität hat sozusagen der Moment in der nicht zerdehnten Zeitlichkeit.
Wir haben jetzt einfach eine Form von materialisierter Kultur, die im Grunde genommen alles manifestiert, kulturkritisch gewendet. Es muss alles greifbar sein, kontextualisierbar sein, einen Wert haben und so weiter. Das ist ja ein extremer Verlust von Freiheit. Wenn etwas weg ist, dann entsteht ein Raum von Freiheit. Wenn etwas da ist, definiert es, was da ist.
Kersting: Olga de Soto hat für ihre Erinnerungsarbeit im Hinblick auf historische Tanzstücke einen ganzen Fragenkatalog entwickelt. Sie macht das ja schon seit Jahren. Inzwischen hat sich ihr Fragenkatalog dahingehend verändert, dass sie eigentlich mit den Leuten über das Vergessen spricht. Ihre erste Frage ist immer: Was erinnerst du nicht?
Welzer: Dazu gibt es zwei berühmte Geschichten. Kant hat nach dem Zerwürfnis mit seinem Adlatus Lampe in sein Tagebuch notiert: „Lampe muss vergessen werden.“ Das ist ja ein paradoxales Unterfangen, weil ich es dadurch, dass ich es aufschreibe, erinnere. Und von Timm Ulrichs gibt es den schönen Grabstein: „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen!“ Das ist der Witz: Es geht eben nicht. Vergessen kann ich nur, wenn ich vergesse. Ich kann nicht memorieren, dass ich etwas vergessen will. Weil, und das ist sogar neurologisch so, jeder Abruf die synaptische Struktur, die einmal angelegt wurde, verfestigt. Eine Erinnerung ist ja eine bestimmte Architektur, und die verschwindet irgendwann, wenn ich sie nicht benutze. Was cool ist. Aber wenn ich sie benutze, manifestiert sie sich. Also wollen wir doch bitte alle vergessen. Vergessen wir auch dieses Gespräch.
(alle lachen)