Theater der Zeit

Rezension

„Wir waren kriegswichtig.“

Eine Studie untersucht den Berliner Friedrichstadt-Palast in der NS-Zeit

von Sophie-Margarete Schuster

Assoziationen: Berlin Buchrezensionen Friedrichstadt-Palast

„Als Intendant entschuldige ich mich dafür, dass es fast acht Jahrzehnte gedauert hat, bis wir unsere Rolle und Verantwortung in der NS-Zeit wissenschaftlich aufarbeiten ließen.“ Mit diesen Worten leitet Dr. Berndt Schmidt, Intendant und Geschäftsführer des Friedrichstadt-Palastes, die historische Arbeit zur Geschichte des Berliner „Theater des Volkes“ ein und übergibt das Wort an den Herausgeber Guido Herrmann. Die kurze Einleitung nimmt nicht nur eine thematische Hinführung vor, sondern bietet ebenso Einblicke in den Arbeitsprozess des gelungenen Forschungsprojektes und den Umgang mit diesem Jahrzehnte alten blinden Fleck der Theatergeschichte. So lautete die Vermutung des Herausgebers im Vorfeld des hundertjährigen Jubiläums der Bühne zunächst: „Wir können nur Fenster in die Geschichte öffnen, nie alles aufarbeiten.“ Das mag vielleicht stimmen, doch der Blick aus dem Fenster, das die Historikerin und Autorin Sabine Schneller in „Dein Tänzer ist der Tod“ für die Lesenden offenhält, lohnt sich definitiv.

Das Buch teilt sich in vier chronologisch erzählte Kapitel. Der Beschäftigung mit dem „Theater des Volkes“ zwischen 1934 und1944 geht dabei ein Rückblick auf die Epoche des Großen Schauspielhauses – die Wirkungsstätte des jüdischen Theatervisionärs und Gründers der gigantischen Arenabühne Max Reinhardt – voraus. Dass der Untersuchungszeitraum nicht erst 1934 einsetzt, sondern sich um die Zeit der Entstehung und Entwicklung des Großen Schauspielhauses erweitert, erweist sich als besonders gewinnbringend für das Fazit der Arbeit. Über den zeitlich weitgefassten Blick wird eine Geschichte der Aneignung und des Raubs sichtbar, die sich auf zwei Ebenen vollzog: Die Vorarbeit durch jüdische Künstler:innen wie der Tänzer und Choreograf Erik Charell schuf ein Erbe, dessen sich die Nationalsozialisten durch Vertreibung und Enteignung ermächtigten, und ohne das, so Schneller, das „Theater des Volkes“ nicht hätte betrieben werden können. Darüber hinaus wurden außerdem – und das legt die historische Aufarbeitung der Autorin frei –­ „Plagiate und Kopien als Novitäten verkauft“ und zur Sicherung des erfolgreichen Theaterbetriebes Stammbäume und unpassende Vergangenheiten kurzerhand „arisiert“.

Als besonders nennenswert tritt bei dieser Publikation die ausgesprochen umfangreiche Bebilderung hervor, die nicht nur die Lektüre begleitet, sondern auch die Vorstellung von theatergeschichtlicher Forschung für die Lesenden konkretisiert. Unter den zahlreichen Abbildungen finden sich neben historischen Inszenierungsfotos, Werbeplakaten und Ausschnitten aus Programmheften ebenso Faksimile schriftlicher Dokumente, die auch Nicht-Historiker:innen dazu verlocken, sich an ganz eigener Quellenarbeit zu versuchen. An dieser Stelle sei allerdings anzumerken, dass eine Unterteilung des Literaturverzeichnisses in historische Quellen und Forschungsliteratur der besseren Orientierung durchaus gedient hätte.

Die historische Erzählung der Autorin verschränkt sich an vielen Stellen mit greifbaren Inszenierungsbeschreibungen, die unter Einbezug journalistischen Quellenmaterials dicht an die Kunst dieser Zeit herantreten. Indem Schneller die Aufarbeitung der machtpolitischen Rahmenbedingungen mit Schilderungen der künstlerischen Mittel und ihrer Wirkungen verwebt, lässt die Autorin eine wichtige Erkenntnis zutage treten: Das Theater hielt während der NS-Zeit keineswegs die Luft an, um erst mit der Zäsur 1945 wieder aufzuatmen. Das Theater stand nicht still; es füllte weiter fleißig Säle und war – um in den Worten Schmidts zu sprechen – „kriegswichtig“. Es liegt nun also in der Verantwortung eines jeden Theaters, sich dieser Bewusstwerdung zu stellen. Mit „Dein Tänzer ist der Tod“ leistet Sabine Schneller bereits einen entscheidenden Baustein im Prozess dieser noch nicht beendeten Aufarbeitung.

 

Sabine Schneller: „Dein Tänzer ist der Tod“. Das Berliner „Theater des Volkes“ im Nationalsozialismus. BeBra Verlag, Berlin 2023, 288 S., Print 28 Euro.

 

Erschienen am 22.5.2023

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