Auftritt
Bremen: Anja, Rony und neun Kinder
Theater Bremen: „The Art of Making Money – Die Bremer Straßenoper“ von Lola Arias. Regie Lola Arias, Ausstattung Dominic Huber
Erschienen in: Theater der Zeit: Philipp Hochmair: Ein Mann, alle Rollen (11/2013)
Assoziationen: Theater Bremen
Ein Theater für alle, ein Stadttheater, in dem sich jeder wiederfinden kann – das war das große Ziel, das Generalintendant Michael Börgerding ausgegeben hatte, bevor er voriges Jahr seine Intendanz am Theater Bremen antrat. Börgerding öffnete das Haus für Kooperationen, etwa mit der freien Schwankhalle für das Festival „Outnow!“ (TdZ 9/2013), ließ das Schauspielhaus umgestalten, baute Barrieren ab, wo es nur ging. Zum Auftakt der laufenden Spielzeit ist der Intendant nun noch einen erheblichen Schritt weitergegangen: Das Theater Bremen hat Lola Arias’ Uraufführung „The Art of Making Money – Die Bremer Straßenoper“ herausgebracht, ein Stück, in welchem nicht Schauspieler in künstliche Rollen schlüpfen, sondern in welchem Obdachlose aus ihrem Leben erzählen. Authentischer kann ein Theater das Leben der Bewohner seiner Stadt kaum aufgreifen.
Das übergeordnete, auch manch Kulturschaffendem nicht immer vollkommen fremde Thema lautet schlicht: Wie überlebt man? Wie komme ich als Bettler, Straßenmusiker oder Prostituierte zu ausreichend viel Geld? Den Spannungsaufbau hat die argentinische Regisseurin Lola Arias, die das Stück gemeinsam mit den Stadtstreichern verfasst hat, vom Brecht’schen Theater abgeleitet: Spannend ist nicht das Ende, sondern wie es zu diesem Ende kommen konnte. Denn das Ende bildet in dieser Straßenoper den Anfang: Alle Protagonisten stellen sich zunächst dem Publikum als das vor, was aus ihnen geworden ist. Da wäre der Obdachlose Bugs mit seinem Hund Kumpel; die ehemalige Prostituierte Bea skizziert ihre Karriere von der Hamburger Reeperbahn bis in den Waller Hafen; die Chakarov- Brüder aus Bulgarien erklären, wie sie mit ihrer Musik wo in Bremen zu welcher Zeit am meisten Geld verdienen können. Und schließlich erzählt der Obdachlose Rony, ein ehemaliger Häftling, wieso er einst eine Bank ausgeraubt hat – und wie er sich nun mit seiner Frau Anja, einer Mutter von neun Kindern, auf Bremens Straßen durchschlägt.
Umso spannender für jene, die diese Leute kennen. Und tatsächlich: Wer sich regelmäßig in Bremen aufhält, wird sicher einmal Anja und Rony vor dem Roland-Center betteln gesehen haben, er wird die Chakarov- Brüder vom Marktplatz, der Söge- oder der Martinistraße kennen. Faszinierend, wie Lola Arias die Geschichten dieser Obdachlosen zu einem Theaterstück verbindet – und wie gut ihre Darsteller spielen: nicht mitleidheischend, auch nicht anklagend und schon gar nicht sich selbst entblößend.
Um auch die letzten Zweifel daran zu beseitigen, dass der Zuschauer in dieser Inszenierung zum Zeugen des wahren Lebens wird, lässt Lola Arias auf einer großen Leinwand im Hintergrund immer wieder Videosequenzen und Fotos von jenen Schauplätzen einblenden, von denen ihre Protagonisten berichten. Zuweilen moderieren diese ihre Geschichten auch in den Videos an, um sie anschließend auf der Bühne zu vertiefen, wodurch Handlung, Bühnenbild und Videos in einem geradezu symbiotischen Verhältnis zueinander stehen.
Und so gut Arias auch das Spiel auf der Bühne mit ihren Darstellern von der Straße einstudiert hat, lässt sie den Zuschauer doch erkennen, dass hier eben keine professionellen Schauspieler die Geschichten Obdachloser erzählen, sondern Letztgenannte höchstselbst. Am Rande der Bühne, für jeden sichtbar, agieren die „echten“ Schauspieler des Theaters Bremen Matthieu Svetchine und Claudius Franz: zwischendurch soufflieren, übersetzen und interviewen sie die Hauptdarsteller des Abends. Ein Rad greift ins andere. Ein großes Erlebnis. //
Alexander Schnackenburg