Theater der Zeit

Protagonisten

Die Zeit der weichen Uhren

Sven Müller, neuer Intendant am Theater Neubrandenburg und Neustrelitz, führt das Haus gemeinsam mit Schauspielchefin Tatjana Rese mit neuem Selbstbewusstsein

von Gunnar Decker

Erschienen in: Theater der Zeit: Subversive Affirmation – Performances von Julian Hetzel (01/2020)

Assoziationen: Mecklenburg-Vorpommern Akteure Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg/Neustrelitz

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„Wo ist die Uhr, die immer falsch ging?“ So lautet die Eingangsfrage in Lewis Carrolls rasanter Zeitreise „Alice im Wunderland“, die vor Weihnachten in Neustrelitz in der Regie von Tatjana Rese zur Premiere kam. Ein absurder Wettlauf mit der Zeit! Wer hat gewonnen? Sie ist davongelaufen! Welch eine geballte Ladung ­Philosophie hüpft, schlendert, schleicht und tanzt da über die Bühne, die ein fantastischer Raum ist, in den man nur durch einen Spiegel gelangt (Ausstattung Jan Pusch und Wobine Bosch). Alice ist hier eine Tänzerin (alternierend Karoline Chmelensky und Judith Bohlen), eine fast stumme Begleiterin durch die Abgründe der Fantasie. Was ist Zeit, Chronos oder Kairos, der erfüllte Augenblick?

Der Carroll-Text hat viele Böden, und Tatjana Rese macht sie in ihrer Inszenierung alle sichtbar – jeder, der will, kann weit gehen in diesem Labyrinth. Da zeigt sich ihre große Sicherheit im Umgang mit aufschließenden Bildern auf der Bühne. Poesie bedeutet hier, Übergänge von sinnlichem Spiel zu gedachter Form zu finden. Mal unmerklich fließend, mal abrupt mit hartem Schnitt hinüberwechselnd. Wann also ist er da, der richtige Augenblick? Nicht zu früh und nicht zu spät! Erst hinterher weiß man, ob man ihn erkannt und ergriffen oder aber versäumt hat. Es ist der Augenblick, in dem etwas ganz anders wird, sich die Dinge verwandeln.

„Alice im Wunderland“ hat viel mit dem Weg dieses Theaters selbst zu tun. Groß war die Gefahr, und an Rettung glaubte fast ­niemand mehr. Dann kam sie überraschend doch noch, in letzter Sekunde. Wenige Tage vor Inkrafttreten der lang geplanten – und ebenso lang und heftig kritisierten – Fusion des Theaters ­Vorpommern in Greifswald, Stralsund und Putbus mit der Theater und Orchester GmbH in Neubrandenburg und Neustrelitz wurde diese von der Landesregierung in Schwerin gestoppt. Das war 2018. Mittels Theaterpakt wurde beiden Theatern eine, so sagt man wenigstens, für die nächsten zehn Jahre finanziell gesicherte Perspektive geboten.

Tatjana Rese war gerade in Neustrelitz angekommen, als wieder alles anders war. Dirk Löschner, Intendant des Theaters Vorpommern, hatte sie im Jahr zuvor angesprochen, ob sie ihm nicht bei der fast unlösbaren Aufgabe, ein Theaterkombinat von Neustrelitz bis Putbus zu managen, beistehen wolle. Doch kaum war sie in Neustrelitz, wurde kräftig an den Zeigern der Uhr gedreht. Die Eigenständigkeit blieb erhalten. Seit Beginn der vorigen Spielzeit ist Tatjana Rese Schauspieldirektorin am Haus, seit dieser Spielzeit hat die Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg und Neustrelitz auch einen neuen Intendanten, Sven Müller, der bislang vor allem als Operndirektor in den großen Städten dieser Welt arbeitete.

Er kam, nachdem alle Schlachten geschlagen – und gewonnen – waren. Jetzt kann er sich darauf beschränken, die vielen geplanten Projekte vorzustellen. Er tut dies in der wohlgefälligen Art von jemandem, der bloß noch gute Botschaften zu verbreiten hat. Gerade inszeniert er von Puccini „Il trittico“ („Das Triptychon“), das im Januar herauskommt. Im Sommer, in der Open-Air-Saison, wird es Offenbachs „Pariser Leben“ geben. Das Aufatmen, das nach der Rettung der Eigenständigkeit durch die Häuser in Neustrelitz und Neubrandenburg ging, spürt Sven Müller jedoch immer noch. Es schafft neue Normalität und Selbstbewusstsein. Endlich steht man nicht mehr auf Abruf ins Ungewisse, endlich bestimmen nicht mehr andere über die eigene Zukunft, sondern man selbst! Endlich hat man auch die Sicherheit, sich lustvoll einem solchen Wechselbad der Gefühle auszusetzen. „Das Triptychon“ beginnt mit dem „Mantel“, einer Tragödie, die sich dann aber nach „Schwester Angelika“ im dritten Teil, „Gianni Schicchi“, in eine Komödie verwandelt. Auch das passt in die erste Spielzeit in neuer alter Selbständigkeit.

Das Schauspiel hat Tatjana Rese bereits mit ihren ersten ­Inszenierungen geprägt. Die Neustrelitzer stehen, anders als die Neubrandenburger, in einer langen Theatertradition und sind bereit, sich auch formal mutigen Inszenierungen auszusetzen. Die Neubrandenburger bevorzugten im Theater bislang leichte Unterhaltung, stolz sind sie vor allem auf ihre Konzertkirche. Mit diesem Schisma im Theaterverbund muss Rese umgehen lernen, das lässt sich nicht von heute auf morgen ändern.

Tatjana Rese war in den achtziger Jahren künstlerische Mitarbeiterin von Alexander Lang am Deutschen Theater in Berlin. Befreundet war sie mit dem quasi dissidentischen Autor Georg ­Seidel, der als Beleuchter am Deutschen Theater arbeitete und ­nebenbei großartige Stücke schrieb. „Jochen Schanotta“ führte sie 1986 in Schwedt auf, und auch nach Seidels frühem Tod 1990 inszenierte sie erfolgreich seine Stücke. Mit über sechzig und Dutzenden Inszenierungen im Rücken erobert sich Rese nun das Theater Neubrandenburg und Neustrelitz mit solch erfrischender Energie, als wolle sie ihr Debüt geben. So etwas überzeugt hier.

In „Unterleuten“ nach Juli Zeh in einer eigenen Theaterfassung porträtierte die Schauspielchefin in der vergangenen Spielzeit ein fiktives Dorf im Osten, wo die Menschen auch meinen, die Uhren gingen immer falsch. Man steckt zwischen den Zeiten fest. Ein Bestiarium, wo schöne Seelen mit Dämonen kämpfen. Und am Ende zeigt sich, dass die schöne Seele oft bloß die Maske des Dämons ist. Der Investmentkapitalismus kommt mit großen Versprechen hierher, aber da ist er nicht der Erste, der kommt – und wieder gehen muss, unverrichteter Dinge. Denn die Menschen hier sind sich ihrer Autonomie bewusst, gemeinhin nennt man das starrsinnig, querköpfig, querulantisch.

Ein Vertreter der Windkraftenergiewirtschaft gibt sich alternativ und will die Leute dazu bringen, dass sie ihr Land für Windkrafträderparks verpachten. Nach seinem langen Gang durch die Dörfer der Region weiß er, was am Ende stehen muss: „Ich brauche keine Zustimmung, ich brauche nur Resignation.“ So brutal geht es zu bei dieser Landnahme. Der „urbane Wahnsinn“ macht vor den länd­lichen Idyllen nicht halt, im Gegenteil. Früher kämpften sie hier mit der LPG, heute mit Investmentfirmen. Was früher die Ideologie war, ist heute aggressives Marketing: Entmündigungsstrategie.

All dem schafft Tatjana Rese ein Tableau, bevorzugt dabei auch immer wieder die Guckkastenperspektive. Die Bühne: ein Modellfall fürs Leben, die jedoch nach eigenen ästhetischen Gesetzen funktioniert. Diese reizt sie gern aus bis ins Aberwitzige. So auch in dem Liederabend der etwas anderen Art „The Cosmic Five“ mit dem Untertitel „Helden und ihre Lieder – live aus dem All“. Da schlägt sie den Bogen von Matthias Claudius‘ „Der Mond ist aufgegangen“ bis zu David Bowies „Space Oddity“ und Peter Schillings „Major Tom“. Dabei kann man Fragen beantworten wie: „Stirbt Gott, wenn der Urknall erklärt ist?“ Unbeantwortbar bleibt die Frage, was die „Bordkatze Schrödinger“ eigentlich ist, jenes Gedankenexperiment, das der Physiker Erwin Schrödinger 1935 anstellte, um die Quantenphysik zu erklären. Darin kommen eine Katze, ein Geigerzähler in einer Kiste, ein Hammer und eine Giftampulle vor. Aber, so heißt es resigniert, das sei ungefähr so kompliziert wie die Abseitsregel im Fußball.

Nein, Theater muss nicht alles erklären, nicht alles aussprechen, nicht alles zeigen. Es bleibt ein unerforschter Raum, eine Blackbox samt magischer Apparatur. Das ist dann ungefähr so wie in dem Gedicht von Joachim Ringelnatz „Die neuen Fernen“, wo es über die Stratosphäre heißt: „Wenn man da die Augen schließt / Und sich langsam selbst erschießt, / Dann erinnert man sich gern / An den deutschen Abendstern.“

Ob in der Stratosphäre die Uhren auch immer nur falsch gehen wie bei „Alice im Wunderland“, ob sie vor sich hin rasen oder ganz stehen bleiben? Nicht zufällig hat Dalí seine „weichen Uhren“ gemalt, weil nichts so unbestimmt ist wie die Zeit. Die Zeit zerrinnt wie ein heißer Camembert, aber ist wenigstens die Erinnerung beständig?

Darum geht es nicht zuletzt in der Uraufführung „Effi B.“ nach Fontane von Gregor Edelmann. Der doppelte inszenatorische Zugriff auf den Text als etwas ebenso Artifizielles wie Lebendiges, das suggestive Spiel mit Nähe und Distanz entwickelt hier eine ganz eigene Art von Magie. Die Ausgangsfrage lautet: Was wäre, wenn Effi Briest heute zurückkäme und noch einmal in ihre Geschichte einstiege? Gewiss wäre sie etwas skeptischer, etwas weniger naiv und auch selbstbewusster. Man muss sich das vorstellen!, sagt Tatjana Rese, als wir uns vor der Vorstellung in ihrem kleinen Büro gleich neben der Pförtnerloge treffen: Effi (Klaudia Raabe) wird verheiratet mit Innstetten (Jonas Münchgesang), der der ehemalige Geliebte ihrer Mutter ist. Er könnte ihr Vater sein – wenn da nicht alle Uhren falsch gehen!

Das habe sie daran interessiert: die Metaphorik eines Spukhauses, in dem Effi zu wohnen gezwungen ist. Über ihr ein leerer Raum, in dem viel zu lange Gardinen bei jedem leisen Luftzug über den Boden schurren wie Spukgestalten. Das war ihr wichtig: Keine Chronologie wie im Roman wollte sie auf die Bühne bringen, sondern der Logik von Traum und Albtraum folgen.

Erst stirbt Effi den sozialen Tod, dann den physischen. Oder nein, zuallererst den seelischen. Dabei hätte sie sich, wenn sie Kraft gehabt hätte, sich zur Eigenständigkeit zu entschließen, aus der Rolle der von der bürgerlichen Gesellschaft Verurteilten durchaus befreien können, wie es Elisabeth von Ardenne tat, die das Vorbild für Fontanes Roman war. Diese arbeitete bis ins hohe Alter als Krankenpflegerin, arm, aber selbstbestimmt. Doch Fontane lässt Effi als verwöhntes Wohlstandskind daran sterben, dass sie sich eben nicht zum vollständigen Bruch mit der bisherigen Zeit­rechnung ihres Lebens entschließen kann. So also tötet eine ungebrochene Kontinuität der Zeit, eine übermächtige Erinnerung.

Dazu sehen wir in einer Videoprojektion auf dem Bühnenhintergrund das bewegte Meer, scheinbar nur dazu da, um in ihm für immer zu versinken. „Bist du so ruhig über Sterben“, fragt sie die Mutter, als Effi wieder – als verstoßene Ehefrau, der man das Kind wegnahm – bei den Eltern lebt, oder besser: vor sich hin stirbt. Hier ist die Zeit dann ganz und gar ein unkontrollierbarer Strom, der Effi mit sich reißt.

Natürlich bringt Tatjana Rese ihre vierzigjährige Berufs­erfahrung mit nach Neustrelitz. Seitdem sie 1979 am Deutschen Theater als Regieassistentin anfing, hat sich vieles ereignet, für das sie immer neue künstlerische Ausdrucksformen suchte – und fand. Nach der Wende war sie Oberspielleiterin in Esslingen, Schauspieldirektorin in Braunschweig und Detmold. Eine Herzenssache war für sie, 1990 in Esslingen „Carmen Kittel“ und zwei Jahre zuvor in Schwedt „Königskinder“ von Georg Seidel zu inszenieren, Letzteres als Uraufführung.

Nun hat sie es sogar geschafft, einen anderen alten Weg­gefährten zurück zum Theater zu holen: Gregor Edelmann. Selt­samerweise kennt man ihn kaum, dabei ist er überaus erfolgreich, schrieb die ZDF-Serien „Der letzte Zeuge“ mit Ulrich Mühe und „Flemming“ mit Samuel Finzi. Tatjana Rese kennt ihn bereits aus ihrem gemeinsamen Germanistik-Studium an der Humboldt-­Universität Berlin. Danach arbeitete er im Henschel Verlag, betreute dort die Stücke von Heiner Müller und schaffte es sogar, die „Wolokolamsker Chaussee“ durch die Zensur zu bringen. Nach der Wende stürzte er sich, bevor er erfolgreicher Serienautor wurde, in die ­medialen Abgründe des Westens und schrieb für die Bild-Zeitung.

Als Tatjana Rese sich noch einmal dazu überreden ließ, als Schauspieldirektorin fest ans Theater zu gehen, dachte sie sofort an Edelmann. Der hat den richtigen Instinkt, vereinigt Heiner Müller und die Bild-Zeitung, der muss mit nach Neustrelitz! Und Edelmann sagte tatsächlich zu. Als Erstes schrieb er für Tatjana Rese „Falladas Traum“, der in der vergangenen Spielzeit erfolgreich lief, sogar in Neubrandenburg, und das will was heißen.

Nun also „Effi B.“ – eine Befragung von Erinnerungs­bildern, Rollenklischees und Umbrüchen, in denen die Zeit zu rasen oder und stillzustehen scheint, manchmal sogar beides zugleich. Er selbst meint dazu, der einzige Ort, an dem er noch träumen könne, sei das Theater: „Mein Traum vom Theater hat immer mehr mit dem Traum im Theater zu tun, einem anderen Blick auf die Wirklichkeit, einem anderen Sehen. Wo Wahrheit nicht mehr zu haben ist im Bürgerkrieg der Fake News, wird der Wechsel der Perspektive zur Überlebensfrage.“ Wenn das nicht ein schmaler Streif Hoffnung ist am Horizont, Kairos statt Logos, nun auch in Neubrandenburg und Neustrelitz! //

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