Theater der Zeit

Meinung

Niemals erklären

Arbeitsprinzipien einer Regisseurin

Seit vielen Jahren inszeniert die französische Regisseurin Catherine Poher vorwiegend in Dänemark. Ihre in Zusammenarbeit mit Theatern wie unter anderem Gruppe 38, Aaben dans, Rio Rose oder Teater Blik enstandenen Inszenierungen haben weltweit auf Festivals reüssiert und, was wichtiger ist, unsere Wahrnehmung beeinflusst. Die mit zauberischen Dingen gedeckte Tafel in der performativen Installation „Hans Christian, you must be an angel“ (Gruppe 38), das von Origami inspirierte Papier-Universum von „Hov!“ (Teater Blik), die betanzten Objekte in „Three Legs“ (Aaben dans) – sie alle ziehen uns mit einer immer etwas brüchigen Magie, visueller Poesie und leisem Humor in ihren Bann. Dabei bewegen sich die Arbeiten Pohers spielerisch, deutungsoffen und mit starkem Fokus auf dem bildnerischen Ausdruck zwischen Schauspiel, Tanz, künstlerischer Performance und dem Theater der Dinge. Sie wenden sich gleichermaßen an junges Publikum wie an Erwachsene. Für das Regieheft von double gibt Catherine Poher, die ihre Arbeitsweise näher an der einer Bildenden Künstlerin als der einer Theaterregisseurin verortet1, einen kursorischen Überblick über die Grundprinzipien ihrer Inszenierungstätigkeit. Einen umfassenden Einblick in ihre Arbeit und ihr internationales künstlerisches Umfeld, zu dem neben anderen europäischen Künstler*innen auch die französischen Theater SKAPPA und Vélo Théâtre zählen, gewährt das 2020 in digitaler Neuauflage erschienene Buch „…Og på den 8. dag begyndte de at drømme“2. Die Bildausstattung des Buches lässt auch ohne Kenntnisse der dänischen Sprache die besondere Regiehandschrift von Pohers Inszenierungen erahnen.

von Catherine Poher

Erschienen in: double 44: Regie? – Zwischen Autor*innenschaft und Außenblick (11/2021)

Assoziationen: Regie Puppen-, Figuren- & Objekttheater

Anzeige

In den siebziger Jahren in Paris haben mir Inszenierungen von Pina Bausch, Bob Wilson, Tadeusz Kantor … unvergessliche Theatereindrücke bereitet und Lust gemacht, mich einzulassen auf das Abenteuer, eine Sprache der Bewegungen, der szenischen Installationen, des Lichtes, der Musik zu erschaffen, anstatt wie geplant Architektin zu werden. Ich bin auf keine Theaterschule gegangen, ich habe nicht gelernt, was zu tun ist und wie – und was zu lassen ist. Das erlaubte mir, in totaler Freiheit meine eigene szenische Sprache zu finden und einige grundlegende Prinzipien meiner Arbeit zu entwickeln:

1. Nichts machen, das mir nicht wirklich am Herzen liegt. Mit anderen Worten, es muss ein Thema oder ein Problem berühren, das für mich lebenswichtig ist.

2. Sich intensiv auseinandersetzen mit vielen Fragen, die mit dem Thema oder der gewählten Geschichte verbunden sind. Texte, Fotos, Musik, Bilder … zusammentragen, die damit in Resonanz treten.

3. Kreieren eines Inszenierungskonzepts, das notwendige Grenzen beinhaltet – und sich an diese Grenzen halten.

4. Sorgsam die Mitwirkenden des Projekts auswählen. Alle müssen bereit sein, sich auf unbekanntes Terrain zu wagen.

5. Einplanen mehrerer Perioden der Recherche und der Improvisation, in denen das gesamte Team anwesend ist, bevor die letzten vier Wochen der Fertigstellung beginnen. Das Projekt gewinnt organisch an Substanz, auch in den Zeiten zwischen den Proben, wenn man allein ist, jeder für sich. In diesen Momenten der Ruhe bildet die Inszenierung nach und nach Wurzeln in unseren Seelen. Unsere Träume füllen sich mit Bildern, Handlungen, Musik … Bücher tauchen, scheinbar zufällig, in unseren Händen auf. Dem Zufall ist große Bedeutung beizumessen!

6. Jedes szenische Element erzählt. Dies sei nicht allein den Worten zugebilligt. Das Licht, die Musik, der Klang, die Dinge, das Bühnenbild, die Kostüme, die Choreographie, die Bewegungen und Aktionen der Darsteller … das alles spricht. An all diesen Elementen muss simultan gearbeitet werden. Auf diese Weise verflechten sie sich schließlich miteinander und werden ein untrennbares Ganzes.

7. Nicht im Voraus entscheiden, was passieren soll. Improvisieren und all das speichern, was uns verwundert und uns Fragen stellt.

8. Offen sein für alles Unvorhergesehene, das die Probenarbeit durcheinanderbringt. Darin kann sich ein unerwarteter szenischer Lösungsansatz verbergen.

9. Alles hat eine Konsequenz. Nicht den Weg aus den Augen verlieren, der uns von der Absicht einer Handlung zu ihrer Wirkung führt.

10. Es muss für jede Inszenierung ein Schlüssel gefunden werden, der den Zuschauern die besondere Kunstsprache der Inszenierung zugänglich macht und es ihnen ermöglicht zu spüren: Das, was sie sehen, betrifft sie. Selbst ein sehr abstraktes Theaterspiel ist leicht zu dechiffrieren. Letztlich geht es darum, die Sinne der Zuschauer zu berühren, ihre Körper von der ersten Sekunde an mit dem zu verbinden, was auf der Bühne passiert.

11. LESS IS MORE. Alles entfernen, was überflüssig ist. Sich so weit als möglich der Essenz des Themas nähern.

12. Sorgfältig arbeiten. Denn die Schönheit verbirgt sich in den Details.

13. Niemals erklären. Die Inszenierung ihren eigenen Rhythmus atmen lassen und dem Publikum erlauben, an dem Akt der Schöpfung teilzunehmen, indem ihm die Freiheit seiner eigenen Version und seines eigenen Verständnisses dessen, was es sieht, gegeben wird.

14. Niemals eine Inszenierung für Erwachsene oder für Kinder erschaffen, sondern Inszenierungen, die ab einem bestimmten Alter von allen gesehen werden können.

Ich hatte die unglaubliche Chance, meine Theater-Familie zu finden. Was für ein Glück, welch' Privileg, Kollegen und Kolleginnen getroffen zu haben, mit denen ich die gleiche Bühnensprache teile. Es ist wie ein Nach-Hause-Kommen, dorthin, wo man sich gut fühlt, wo man einander versteht, ohne sich erklären zu müssen. – Übersetzung aus dem Französischen: Silvia Brendenal, Einleitung: Anke Meyer. – www.catherinepoher.dk

1 Dazu sei auf die neueste Arbeit mit Aaben dans, die szenische Installation „Spraekker/Cracks“ hingewiesen: https://abendans.dk/spraekker/?lang=en

2 Kirsten Dahl, Catherine Poher: … Og på den 8. dag begyndte de at drømme. E-Book, 2020. Unter www.ogpaden8dag.com frei zugänglich.

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Theater unser"
"Pledge and Play"