Theater der Zeit

Look Out

Das Ende des bürgerlichen Trauerspiels

Der Berliner Regisseur Benjamin Zock entdeckt verschüttete Theaterstoffe für die Gegenwart

von Lara Wenzel

Erschienen in: Theater der Zeit: Angst und Widerstand – Thema Afghanistan (10/2021)

Assoziationen: Akteure

Foto: Julia Runge
Foto: Julia Runge

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Heiner Müller? Das funktioniere im Mansfelder Land nicht, bekam Benjamin Zock zu hören, als er „Die Fahne von Kriwoj Rog“ im Südharz spielen wollte. Dabei erzählt das Müller’sche Fernsehkammerspiel ein Stück Lokalgeschichte – von antifaschistischem Widerstand und Arbeitskampf in der ehemaligen Bergbauregion. Diese Ereignisse werden heute kleingeredet, aber ihre Erinnerung darf nicht verschüttet werden, meint der Berliner Regisseur.

In einer kleinen, wendigen Theatertruppe brachte er im Sommer 2021 die Geschichte um die Familie Brosowski auf den Marktplätzen der Gegend und vor dem stillgelegten Otto-Brosowski-Schacht unter Polizeischutz zur Aufführung. Wer vor wem geschützt sein wollte, blieb dabei offen. Unsicher war sich der Regisseur dennoch, wie das Publikum auf den vorangestellten Text „Die Kanakenrepublik“ von Müller reagieren würde. Der harte Dialog zwischen einem Schläger-Nazi und einem neoliberalen Rassisten, der in der Zuwanderung die Rettung des Kapitalismus sieht, lässt sich schwer ertragen. Um die nicht abnehmende Dringlichkeit eines antifaschistischen Geschichtsbewusstseins zu betonen, fand Zock ihn in seiner sprachlichen Grausamkeit notwendig.

Mit einer ebenso wirkungsvollen Präzision untersucht er auch im Theatersaal die gewaltsamen Beziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft. Während seines Studiums der Theaterwissenschaft und Philosophie verwirklichte er erste Arbeiten und sammelte Erfahrung als Hospitant bei Robert Wilson und Frank Castorf. Mit der Uraufführung des Stücks „Die Aufgabe“ von B. K. Tragelehn begann der Regisseur 2018 seine Zusammenarbeit mit Johannes Weilandt. Gemeinsam mit dem Bühnen- und Kostümbildner findet Zock in seinen Inszenierungen symbolische Übersetzungen, die weder bebildern noch naturalisieren. Grundlage dessen bilden die genaue Arbeit an den verschiedenen Textfassungen und deren Montage.

Im Falle des Tragelehn-Stücks, das zur gleichen Zeit wie Müllers „Lohndrücker“ geschrieben und in Folge des Skandals vergessen wurde, zieht Zock Verbindungslinien zu Georg Büchners „Leonce und Lena“. Die Kombination der Texte in einem Doppelabend eröffnet einen Ausweg aus dem Nicht-Verhältnis, als das sich die Liebe des adligen Müßiggängers Leonce zur Prinzessin Lena darstellt. Das sozialistische Kollektiv im DDR-Stoff lässt Beziehungsweisen unter Gleichen zu, hinter denen das Individuum zurücktritt. In einem Chor des Proletariats stellt sich dieses Verhältnis über die abstrakte, gemeinsame Arbeit her, die sich im Konkreten in den ­Widersprüchen der Plan­erfüllung verstrickt.

Das kollektive Sprechen inszeniert Zock mit hoher Sensibilität für seine Kipppunkte. Während der Chor in „Die Aufgabe“ durch Brüche in den Formationen die Dialektik zwischen Kollektiv und Einzelnem bespielt, bildet sich in Zocks Inszenierung „Klara“ von Friedrich Hebbel im gemeinsamen Agieren ein männlicher, faschistoider Volkskörper. Das angeblich letzte bürgerliche Trauerspiel legt die Verwüstungen der Kleinfamilie offen, die in Zocks Arbeit von 2019 bis zur nationalsozialistischen Familienpolitik durchbuchstabiert werden. Auf der Bühne des Acker Stadt Palasts in Berlin eröffnet sich auch in diesem Fall ein kleiner Ausweg aus den Verhältnissen. Die unehelich schwangere Klara wählt nicht den Suizid, sondern fordert die Verfügungsgewalt über ihren Körper ein. Mit bitterem Humor übersteigert Zock die sexistischen und individualistischen Beziehungsmechanismen in der bürgerlichen Gesellschaft. Wenn er so verschüttete Stoffe entblättert, drückt sich darin die epische Grundhaltung aus: „Es kann so kommen, es kann aber auch ganz anders kommen.“ //

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