Protagonisten
Hunde, Nörgler und Besserverdiener
Unter dem neuen Intendanten Uwe Eric Laufenberg ist am Hessischen Staatstheater in Wiesbaden eigentlich alles beim Alten – nur ein bisschen neu
Erschienen in: Theater der Zeit: System startet neu – Über den Einbruch der Performance in die Oper (11/2014)
Assoziationen: Akteure Hessisches Staatstheater Wiesbaden
Ab sofort ist das Hundeverbot im Hessischen Staatstheater aufgehoben. Was klingt wie ein Witz, ist dem neuen Wiesbadener Intendanten Uwe Eric Laufenberg eine Hausmitteilung wert. Wer ihn in seinem Büro besucht, wird folgerichtig zuerst von seinem Hund Oscar begrüßt. Ebenso folgerichtig blicken uns treuherzige Hundeaugen von Spielzeitheften, Plakaten und sonstigen Werbematerialien entgegen. Sehr treu führen sich auch manche Anhänger des vorherigen Intendanten Manfred Beilharz auf, der mit 76 Jahren (sic!) in den wohlverdienten Ruhestand gegangen ist. Schon vor dem Amtsantritt des Neuen stänkerten einige gegen die Absetzung einer jahrzehntealten Inszenierung von Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel“ und einer ebenso gut abgehangenen „La Bohème“. Die vermeintlich Werktreuen rüsteten zur Online-Petition, und auf Facebook füllen bizarre Wortmeldungen gegen das sogenannte Regietheater die Spalten. Wiesbaden eben. Claus Leininger, von 1986 bis 1994 Intendant des Hauses, formulierte einst: „Die Wiesbadener sind nicht neugierig, sondern altgierig.“ Da ist was dran, denn Teile des von sehr bösen Zungen als Krampfadergeschwader verspotteten Publikums setzen alles auf Altbewährtes.
Uwe Eric Laufenberg, übrigens der Bruder der früheren Theatertreffenleiterin und künftigen Grazer Intendantin Iris Laufenberg, machte ihnen zum Auftakt einen Strich durch die Rechnung und eröffnete seine erste Spielzeit mit Elfriede Jelineks langwierigem Bühnenessay „Rein Gold“. Darin kreuzt sie das Deutschtum mit der Finanzkrise, den Wagner-Kult mit dem NSU und Geld und Liebe so heftig, dass die Vaterlandsliebe ganz von allein ihr bösartiges Grinsen offenbart. Tina Lanik inszenierte das stark gekürzte Stück in nicht einmal zwei Stunden zwar nicht mit der Schärfe und Unerbittlichkeit des Textes, beweist aber ein gutes Gespür für die albernen Sturheiten der Jelinek. Auf der Bühne (Ausstattung Stefan Hageneier) protzt ein großburgwedelhaftes rosafarbenes Häuschen. Zwei Sänger in schönster Teutonenmontur demonstrieren mit Richard Wagner wilde Größe, während die anderen sich wie Wotan, Brünnhilde und der ganz normale Wahnsinn aufführen. Das hat durchaus Witz und Esprit, ermüdet aber nach einer Weile, auch wenn es zu schön anzusehen ist, wie Jelinek und Wagner sich blutige Nasen schlagen. Richtig wach werden wir erst wieder, als eine kackbraune Brühe die Bühne hinunterrinnt und der Götterpalast den Bach runtergeht. Der Kapitalismus bekommt auf die Mütze, was gut zum Spielzeitmotto „Die Träume der Armen – die Ängste der Reichen“ passt.
Unter diesem Titel firmiert auch ein Rechercheprojekt von Clemens Bechtel, der das vermeintlich wahre Leben aufs Theater bringt. Seit den Erfolgen von Rimini Protokoll ist ja auf vielen Bühnen das Authentizitätsfieber ausgebrochen, zudem verorten Bürgerbühnen und Stadtteilprojekte das Theater im Volk. So treten an diesem Abend nicht nur drei echte Schauspieler (Christian Erdt, Ulrich Rechenbach und Kruna Savić) auf, sondern auch diverse Normalbürger, die von ihrem Leben und Arbeiten erzählen. Das spielt(e) sich in diesem Falle in Wiesbaden ab, könnte aber ebenso gut woanders geschehen: Monika Kikillus etwa war einst erfolgreiche Kneipenwirtin im „Schwalbennest“ und übernahm sich dann mit ihrem Neustart; Bercin Akgül indes musste ihre beruflichen Träume von vornherein hintanstellen und schlägt sich schon lange als Hauswirtschafterin durch. Die drei Schauspieler stehen den Laien zur Seite, verwandeln ihren Text in Schauspiel, wobei alles sehr erwartbar vorangeht und sehr schwarz-weiß, hier arm, dort reich. Dabei krankt der Abend in erster Linie an seinem mangelnden Formwillen, die Texte kommen zu oft eins zu eins daher, die Laien stehen wie Falschgeld auf der Bühne herum, und die inszenatorischen Ideen erweisen sich häufig als ungute.
Isländischer Bilderwerfer
Wesentlich aufregender verlief der Einstand des isländischen Bilderwerfers und neuen Wiesbadener Hausregisseurs Thorleifur Örn Arnarsson, der mit seiner Version der „Dreigroschenoper“ das Spielzeitmotto und seine sozialutopischen Möglichkeiten ausschöpft. Wie an dieser Stelle auch die Idee, die Karten, insbesondere im Großen Haus, auf den teuren Plätzen zu verteuern und auf den billigen zu verbilligen, zu loben ist. Darauf angesprochen, erklärt Laufenberg bloß, in Wiesbaden gebe es genügend zahlungsfähiges Publikum. Wohl wahr. Arnarsson präsentiert Bertolt Brechts Gassenhauer dann als bunte, laute, tolldreiste Revue des immerwährenden Klassenkampfes. Den V-Effekt nimmt er beim Wort, lässt seine Schauspieler immer wieder ausscheren, um bloß keine Illusionen aufkommen zu lassen. Dabei beginnt der Abend unwiderstehlich mit der umwerfenden Schauspielerin Sólveig Arnarsdóttir als Spelunken-Jenny, die an der Rampe steht und ihren berühmten Song sehr beiläufig und lasziv hervorhebt, während die Besucher noch nach ihren Plätzen fahnden. Die Schauspielerin ist neu im Ensemble, auch in „Rein Gold“ zu sehen, und erweist sich nach diesen beiden Abenden als Gewinn. Das muss man auch von Barbara Dussler sagen, deren Polly sehr rührend und rotzig agiert. Die alten Fragen nach denen da oben und denen da unten, Großkapital und Lumpenproletariat, bringt der Abend auf die Bühne, indem er immer wieder hinterfragt, was uns dieses Stück heute noch zu sagen hat. Da erkundigt sich dann etwa Janning Kahnert als Polizeichef Brown bei den von Schauspielschülern gespielten Bettlern und Huren, was sie denn so an Gage bekämen für die Proben. Dass es wohlfeil ist, auf dem Theater sozialkritische Themen zu verhandeln, während man seine Mitarbeiter schlecht behandelt und die Intendanten unverschämte Gehälter kassieren, wird auf diese Weise zumindest in Erwägung gezogen. Laufenberg selbst gibt nach sehr kurzem Wimpernzucken gelassen Auskunft über sein Gehalt als Intendant (es sind rund 150 000 Euro, alles inklusive). In Wiesbaden wird er nämlich nicht nur in der Oper, sondern auch im Schauspiel inszenieren. Seine Version von Richard Strauss’ „Die Frau ohne Schatten“ wurde überwiegend gefeiert, seine „Buddenbrooks“ werden die Spielzeit im Juni beenden.
Als Typ präsentiert sich der 1960 geborene Laufenberg, der zuletzt Opernintendant in Köln war und dort bekanntlich „gegangen wurde“, als ein selbstbewusst alle Umarmender (gerne mit Sonnenbrille im Haar). Zur festlichen Eröffnung seiner neuen Intendanz und Spielzeit schlendert er betont lässig, gefolgt von Hund Oscar, auf die Bühne und verspricht dem Wiesbadener Publikum: „Wir wollen immer für Sie da sein.“ Was nach den ersten Premieren eher nach dem Versuch aussieht, für jeden Geschmack da zu sein. Im Schauspiel jedenfalls stehen extrem unterschiedlich geartete Abende auf dem Programm. Während Arnarsson das Große Haus rockt, vertieft sich sein Kollege Ingo Kerkhof dermaßen in den Text von „Baumeister Solness“, dass man seiner Inszenierung nicht ansieht, ob wir uns womöglich noch in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts befinden. Ibsens Klassiker über die Verheerungen des Alters, die Versprechen der Jugend und die Traumata der Kindheit bleibt indes auch so aktuell. Nicolas Brieger spielt den Baumeister als gebrochenen Mann, der sein Leben(swerk) schwinden sieht. Hilde (Janina Schauer) umhüpft ihn wie ein lüsternes Hühnchen. Immer wieder tauchen von irgendwoher Kinder auf, die einfach nur dastehen, stumme Zeugen, ein Gespensterchor, der sich zu einem ebenso niedlichen wie schaurigen Memento mori formt. Dabei erzählt der Abend eine klassische Ikarusgeschichte, die Kerkhof in den vornehm leeren Räumen von Florian Parbs ernsthaft, solide und ein bisschen fade umsetzt.
Die ganze Welt ist eine Wanderdüne
Mit wesentlich mehr Schwung und Rasanz, auch Originalität, geht dann in der Spielstätte Wartburg Regisseurin Schirin Khodadadian in ihrer Shakespeare-Revue „Wie es euch gefällt“ vor. Die Bühne erinnert an einen Laufsteg oder an eine Fechtbahn, an deren Längsseiten wir Platz nehmen wie Zuschauer bei einem Turnier. Wenn schon die ganze Welt eine Bühne ist, wie Jacques nicht müde wird, uns zu erklären, dann darf sich ja wohl auch der Wald von Arden zur Theaterbühne drehen und wandeln. Statt Bäumen stehen dort sperrige Scheinwerfer herum, und den Nebel besorgen die Schauspieler gleich selbst. Das Lustspiel trumpft mit bewährten Shakespeare-Zutaten auf: Hosenrollen für die Frauen, leicht zu durchschauende Verwechslungen, derbe Späße und krachlederne Kalauer auf Kosten von jedermann. Das alles setzt Schirin Khodadadian schülertauglich und schick in Szene; und immer wenn sie nicht mehr weiterweiß, kommt von irgendwo ein Liedchen her: Neil Young, Beatles, Tears for Fears. Musik von gestern für die Utopien von heute. Dazu nutzt der Abend die Spielstätte von allen Seiten, mal kriechen die Akteure unter die Bühne, dann wieder hangeln sie sich zur Balustrade hinauf oder spielen kopfüber Klavier. Ihr Leben erweist sich als Hindernislauf, immer steht irgendwo irgendwas oder irgendwer im Weg. Die beiden Prinzessinnen Rosalind (Judith Bohle) und Celia (Maria Munkert) erscheinen als giggelnde Girlies, denen die Liebe zufällt wie ein Luftschloss; und der Narr Probstein sieht aus wie eine Hälfte des Kabarettduos Ulan & Bator – Michael Birnbaum albert als dieser polternd über die Bühne, den Schädel unter einer Bommelmütze. Stefan Graf indes verkörpert Jacques als manisch aufspielenden Allesregler, der seine Mitakteure wie Marionetten über die Bühne lotst. Zuletzt am Staatstheater Mainz engagiert, ist auch er in seiner kontrollierten Hochtourigkeit eine unbedingte Bereicherung für das Wiesbadener Ensemble. Jacques’ zu Tode zitierter Monolog erhält zuerst mühsamen Neuwitz („Die ganze Welt ist eine androgyne Wanderdüne“) und trifft dann mit seinem letzten Akt des Menschenlebens als zweite Kindheit doch unverhofft ins Herz. Sagen muss man aber auch, dass das alles viel zu lang und zu enervierend vonstatten geht. Fast überflüssig zu ergänzen, dass furchtbar viel geschrien, gerannt und geturnt wird. Gespielt wird überwiegend die sperrig tönende Übersetzung von Werner Buhss. Verteufeln mag man den Abend dennoch nicht, wagt hier doch zumindest jemand einen frischen Zugang zu einem alten Stück.
Der von Laufenberg versprochenen Vielfalt der Stile ordnen sich alle Abende schön unter. Für seine Experimentierfähigkeit war das Wiesbadener Theater leider nie berühmt, das könnte sich wandeln, wobei sich momentan mehr in der Oper als im Schauspiel ändert: neue Ästhetiken, aber auch eine andere Aufführungspraxis, die in Richtung Semi-Stagione geht, was heißt, dass Opern eher blockweise aufgeführt werden. Auch dem Ballett stehen neue Zeiten bevor, es firmiert jetzt unter der Leitung vom Tim Plegge als Hessisches Staatsballett und tanzt in Kooperation mit dem Darmstädter Staatstheater. Und sonst? Der rote Teppich vorm Großen Haus ist jetzt ebenso grün wie Spielpläne, Programmhefte (die ein bisschen läppisch daherkommen) und alles andere Werbezeugs. Keine schöne Farbe, aber eine sehr eigene. In Bezug aufs Schauspiel könnte man abschließend den Narren Probstein aus „Wie es euch gefällt“ zitieren: „Es ist eigentlich alles beim Alten, nur ein bisschen neu.“ Kurz: kein Grund zur Aufregung. //