Religiöses Theater des europäischen Mittelalters
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Assoziationen: Theatergeschichte
Fundamental „episch“ war auch das komplexe geistliche christliche Theater, das sich in verschiedenen Formen zwischen dem 10. und 16. Jahrhundert in Europa entfaltete, dem antik griechischen Theater nicht unähnlich erwachsen aus religiös-mythisch geprägten ritualen Praktiken und in seinen frühen Phasen – vergleichbar dem von den Tempeln geförderten Nō Japans – in den christlichen Institutionen gespielt. Es entwickelte sich aus Darstellungen von Kernsituationen der biblischen Geschichte, höchstwahrscheinlich aus musikalisch-dialogischen Tropen, zusammengefügt aus Mt. 28,5 – 7, Mk. 16,6 – 7, Lk. 24,5 – 8, über die Auferstehung Christus und den Gang der Marien zu seinem Grabe. Die einfachste Szenenvariante lautete in seiner erschließbaren Textgestalt:
Quem quaeritits in sepulchro, o christicolae? / Jesum Nazarenum, crucifixum, o caelicolae. / Non est hic: surrexit, sicut preadixerat. / Ite, nuntiate, quia surrexit de sepulchro.
(Wen sucht ihr im Grab, oh ihr Christen? Jesum Nazarenum, den Gekreuzigten, oh ihr Himmlischen. Er ist nicht hier. Er ist auferstanden, wie er es verkündigte. Geht, berichtet, dass er vom Grab auferstanden ist.)
Manuskripte der Kernszene fanden sich in westeuropäischen Klöstern, das früheste um das Jahr 1000 im deutschsprachigen Raum im Kloster St. Gallen.238 Es ist anzunehmen, dass Aufführungen der Szenen in den Klöstern den Klerikern als eine...