Magazin
Traumhaft
Das Figurentheater Wilde & Vogel im Westflügel Leipzig und ihre Emily Dickinson
von Renate Klett
Erschienen in: Theater der Zeit: Publikumskrise (11/2022)
Assoziationen: Puppen-, Figuren- & Objekttheater Sachsen Figurentheater Wilde & Vogel Lindenfels Westflügel

Warum kann das Figurentheater oft stärker beeindrucken als das Menschentheater? Niemand weiß das so genau, aber viele haben es schon erlebt. Nikolaus Habjan, Robert Anton oder auch Wilde & Vogel, Basil Jones und Adrian Kohler sind einige von vielen Beispielen (siehe zuletzt auch Karl Huck in TdZ 10/22). Sie sind – müssen es sein – allesamt auch große Schauspieler.
Die verrückteste Geschichte ist wahrscheinlich die von Robert Anton, der in den achtziger Jahren in New York zum Mythos wurde. Alle zwei Wochen lud er achtzehn Personen zu sich nach Hause ein, versammelte sie um einen großen Tisch und spielte ihnen mit winzigen Puppen sein Leben vor. Es gab das Gerücht, dass Susan Sontag einen Flug nach Paris absagte, weil sie überraschend auf der Liste stand. Wie ich damals auf diese heilige Liste gekommen bin, habe ich nie begriffen, aber ich war glückselig.
In gewisser Weise wirken die Aufführungen von Wilde &Vogel wie ein Gegenpart dazu: Hier werden die Geschichten klar erzählt und behalten dennoch ihr Geheimnis. Die von Charlotte Wilde jeweils eigens für die Stücke komponierte Musik verändert die Spuren und verwandelt sie mitunter in magische Rätsel. Die Wildvögel haben erst in Stuttgart, später in Leipzig ihre sehr eigene Puppenspielform entwickelt. Seit 1997 betreiben sie im Leipziger Westflügel ein Theater, in dem sie regelmäßig eigene Produktionen sowie solche von befreundeten und hochgeschätzten Figurentheatern präsentieren. Ihr markanter Stil, geprägt durch die Verbindung von Schauspiel-, Musik-, Figuren- und Objekttheater, gibt Raum für immer neue Ansätze und Weiterentwicklungen. So haben sie sich für mehrere Aufführungen mit der Brook-Schauspielerin Miriam Goldschmidt zusammengetan, der sie noch kurz vor ihrem Tod die gesamte Bühne überließen. Sie las „Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“ nach Kleist, und ihre Freude darüber war anrührend und fordernd zugleich. Wer diese Vorstellung erleben durfte, wird sie niemals vergessen. Die Wildvögel beherrschen Klassiker ebenso wie Klamotten, sie können einen ganzen Abend mit Gedichten füllen oder Hamlet verwursten. „Mach’ es nicht schöner, mach’ es hässlich“, ist eine häufige Regieanweisung von Michael Vogel.
Das Schöne bei diesem Exquisit-Theater ist, dass keine Produktion der anderen gleicht. Immer wieder gibt es überraschende Finten, verdrehte Dramaturgien, ungeahnte Verwandlungen und poetische Wahrheiten, und aus all dem ist ein Stil entstanden, der unverkennbar ist. Durch immer wieder neue Experimente haben sie Tradition, Ästhetik und Erzählweise ihres Metiers verändert und Formen des Marionetten-, Figuren- und Objekttheaters auf Augenhöhe mit dem Schauspiel gebracht.
Die bislang mehr als vierzig Produktionen zeigen die verschiedenen Aspekte der Gruppe (siehe auch TdZ 10/17). Jede ist um einen eigenen Kern herum entstanden, mit Menschen und Puppen, Musikern und Tänzern, selten mal mit Sprache, oft mit Gesang. Ein wilder Künstlerhaufen mit unterschiedlichen Talenten und viel Humor, gerne auch schwarzem.
Unsichtbare Kinderstimmen rezitieren Kurzgeschichten von Baudelaire; und bei einer anderen Aufführung hört man Frauen mit Gedichten aus „Les Fleurs du Mal“. Manches erinnert an Musicals oder Kasperltheater, verfremdete Bühnenstücke oder verkrachte Moritaten. Die Figuren haben dabei die gleiche, wenn nicht sogar überlegenere, Ausdruckskraft wie Menschen, als Partner in dem Tohuwabohu, das die Bühne bevölkert. Sie schweben unterm Dach, ächzen auf dem Boden, verlieren ihre Köpfe und damit ihre Zuversicht. Michael Vogel spielt sie souverän, scheint mitunter eine von ihnen zu sein, oder er gibt den strengen Lehrmeister, der sich mit dem Tod einlässt und ihn prompt besiegt.
Wilde und Vogel sind mit vielen ihrer Produktionen um die ganze Welt gezogen. Eine Zeit lang haben sie sich mit der polnischen Grupa Coincidentia aus Białystok zusammengetan. Ihre Produktion „REM“ ist ein Stück über Träume und was sie anrichten können, den Schlaf der Un-Vernunft, der sie gebiert, und wissenschaftliche Methoden, sie zu beeinflussen. „Träume lassen sich nicht festhalten“, sagt Michael Vogel, „im Moment des Aufwachens gehören sie dir noch, aber gleich danach sind sie weg.“ Er besteht darauf, dass all die Einfälle aus den Improvisationen so leicht und angerissen bleiben wie im magischen Moment ihrer Entstehung.
Ihre jüngste Produktion heißt „I am not in a Room“ und handelt von Emily Dickinson. Die Frau erfährt viele Tode und überlebt durch ihre Lyrik, 1700 Gedichte. Davon wurden zu ihren Lebzeiten nur ein Dutzend veröffentlicht. Diese Diskrepanz war ihr Schicksal und vielleicht auch ihr Stolz. Ihr verschlüsselter Stil, fordernd und unerbittlich, war ihrer Zeit so weit voraus, dass kaum jemand sie verstand. Kein Wunder, dass Wilde und Vogel sich auf sie stürzten, lässt sie doch der Fantasie und ihren Tücken vollen Lauf. Die große, leere Bühne wirkt durch Charlotte Wildes Musik noch größer und unheimlicher als sonst. Wenn Michael Vogel mit einer überlangen Plastikstange an Decke und Wänden entlangstreift, scheinen gigantische Spinnenbeine den Raum zu beherrschen. //