Theater der Zeit

Auftritt

Theater Bielefeld: Und es ist doch schlimm!

„else (someone)“ von Carina Sophie Eberle (UA) – Regie Nadja Loschky, Bühne und Kostüme Marie-Luise Otto, Musik Misha Cvijovic

von Stefan Keim

Assoziationen: Kinder- & Jugendtheater Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Theater Bielefeld

Wo fängt sexualisierte Gewalt an? Das Ensemble der Uraufführung „else (someone)“ am Theater Bielefeld. Foto Lena Kern
Wo fängt sexualisierte Gewalt an? Das Ensemble der Uraufführung „else (someone)“ am Theater BielefeldFoto: Lena Kern

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Papa braucht Geld. Dorsday, Papas alter Freund, hat genug davon. Er ist auch bereit, Papa zu helfen. Aber er verlangt eine Gegenleistung. else, die von Papa zu Dorsday geschickt wurde, soll sich vor ihm ausziehen. Eine Viertelstunde lang will Dorsday den Anblick ihres nackten Körpers genießen. Vor fast genau hundert Jahren hat Arthur Schnitzler seine Novelle „Fräulein Else“ veröffentlicht, ein innerer Monolog, ein Meisterwerk. Nun hat die Autorin Carina Sophie Eberle die Geschichte für die Gegenwart neu geschrieben. „else (someone)“ ist ein ausgezeichneter Theatertext und wurde nun in Bielefeld uraufgeführt.

Im Original macht Else Urlaub in einem italienischen Kurort. Auf der von Marie-Luise Otto entworfenen Bühne steht nun das Bild eines Bergpanoramas, ein Zitat. Neun Frauen spielen das Stück, oft sprechen sie chorisch, dann schälen sich einzelne Rollen aus dem Kollektiv. Nadja Loschkys Inszenierungsansatz passt perfekt. Von Anfang an geht es nicht um ein Einzelschicksal. Deshalb wird der Name else hier auch klein geschrieben, in ihm klingen immer auch die anderen mit: „else (someone)“. Solche inhaltlich richtigen Ansätze stehen auf der Bühne oft der Einfühlung im Wege. Aber weil die überragenden jungen Spielerinnen – Amy Lombardi, Gesa Schermuly und Carmen Witt stechen besonders heraus – die zentralen Spielszenen psychologisch präzise angehen, entwickelt sich auch große Spannung und Emotionalität.

Dem schweren Thema zum Trotz beginnt die Aufführung voller Leichtigkeit. else, Paul und Cissy verbringen die letzten Sommerferien vor dem Schulabschluss weit weg von zu Hause in einem etwas heruntergekommenen Schlosshotel. Die Stimmung ist lebendig, flirrend, flirty. Eine wunderschöne Coming-of-Age-Geschichte könnte es sein, wenn nicht die Sprachnachricht von elses Mutter käme. Vater hat Spielschulden, und plötzlich taucht dieser Dorsday in der Bergidylle auf.

Wo fängt sexueller Missbrauch an? Das ist die große Frage, die über dem mit dem Deutschen Jugendtheaterpreis 2022 ausgezeichneten Stück schwebt. Provokant ausgedrückt: Ist es wirklich so schlimm, sich vor einem Mann auszuziehen, wenn viele Jugendliche ohnehin gern sehr luftig bekleidet rumlaufen? Klar, wenn man so eine Frage liest oder aufschreibt, scheint die Antwort eindeutig. Aber wie ist es im Alltag? Viele Menschen – und im Stück geht es nicht zwar in erster Linie aber eben nicht nur um junge Frauen – schämen sich, Fälle anzuzeigen, bei denen scheinbar „nichts passiert“ ist. Keine Vergewaltigung, kein Kuss, nicht einmal eine Berührung.

Aber eben ein Übergriff, eine Entmündigung. Der moralische Zwiespalt zerreißt else. Dadurch kippt die Stimmung der Aufführung. Und es ist großartig, dass sowohl Carina Sophie Eberle als auch die Regisseurin Nadja Loschky nicht in ein Opferdrama rutschen. Selten war ein Sprechchor so sinnvoll wie am Schluss dieses Stückes. „Was dir passiert ist, else“, sagen alle Darstellerinnen, „ist mir mir mir mir mir mir mir mir auch, Cissy auch, Berta auch, Fred mit den langen Haaren, mir mir mir mir mir auch schon passiert. Und es war kein Spaß, und es war doch schlimm, und ich habe das nicht falsch verstanden, und ich stehe da nicht drüber.“

Gemeinschaft gibt Kraft. Schnitzlers „Fräulein Else“ hat ihren Körper am Schluss der Novelle vor einer Abendgesellschaft enthüllt und sich danach mit einem Schlafmittel in einen Traumzustand befördert. Das tun else und die anderen heute nicht. Sie fordern Respekt, voller Energie. In den Theatern werden gerade ständig Klassiker überschrieben oder ergänzt. Oft führt das zu einer Verharmlosung. Die Zumutungen und Mehrdeutigkeiten, die den Rang dieser Werke ausmachen, weichen zwar inhaltlich richtigen aber oft auch platten Botschaften. Carina Sophie Eberle und dem Theater Bielefeld gelingt es, Schnitzlers Vorlage sensibel, poetisch, zeitgemäß und vielschichtig in die Gegenwart zu übertragen.  

Erschienen am 25.9.2023

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