Theater der Zeit

Algerien

Kheireddine Lardjam, Wanderer zwischen zwei Ufern

von Marina Da Silva

Erschienen in: Recherchen 104: Theater im arabischen Sprachraum – Theatre in the Arab World (12/2013)

Assoziationen: Regie Akteure Afrika

Anzeige

Anzeige

Kheireddine Lardjam, einer der führenden algerischen Regisseure seiner Generation, hat schon einen weiten Weg zurückgelegt, auf dem er Unwahrscheinliches vollbracht hat. Es ist ihm nämlich gelungen, mit seiner Arbeit auf beiden Seiten des Mittelmeers Wurzeln zu schlagen. Geboren 1976 in Oran, hat er seine Kindheit gerade hinter sich gelassen, als das Schwarze Jahrzehnt der 1990er Jahre anbricht, das zehntausende Tote fordern wird. Und er ist gerade einmal 18 Jahre alt, als Abdelkader Alloula, eine wahre Ikone des algerischen Theaters, 1994 ermordet wird. Dieses Trauma setzt die Stadt und das Land unter Schock. Für Kheireddine war Alloula ein Vor­bild, eine charismatische Gestalt. Dieser Schauspieler, Regisseur und Dramatiker hatte für das algerische Volk geschrieben, im arabischen Dialekt. Im Mittelpunkt seines Theaterschaffens stand der Vortrag, vermittelt vor allem durch die Figur des goual (des Erzählers) und die szenische Anordnung der khalka (des Kreises). Er setzte sich unmittelbar in Bezug zu der politischen und sozialen Situation in seinem Land und wurde überall gespielt: in Stadttheatern, in Festhallen, auf öffentlichen Plätzen, in maurischen Bädern, in Cafés, in Hinterzimmern und in Kellern. Kheireddine Lardjam führt dieses Sprech- und Spieltheater, in dem das Wort es vermag, das Bewußtsein aufzurütteln und die Gesellschaft zu verändern, auf seine Weise fort: ohne Alloula zu kopieren, sondern indem er ihn neu erfindet. Auch wenn der Schauspieler sich voll und ganz – also auch mit seiner Körpersprache – engagiert, legt Lardjam wie Alloula besonderen Wert auf die Sprache in ihrer Poesie und Musikalität.

Als er seine Truppe im Jahr 1998 gründet, hat er gerade das Konservatorium verlassen. Er verfügt über keinerlei institutionelle Unterstützung und findet eine verwüstete Theaterlandschaft vor. Er gibt seiner Gruppe den Namen El Ajouad (Die Großzügigen), nach einem der Kultstücke des Dramatikers Alloula, das er im Jahr 2000 inszeniert, gefolgt von drei weiteren: Der Schleier (2002), Die Worte (2003) und Die Blutegel (2004). Sie hinterfragen die Desillusionierung nach der Unabhängigkeit des Landes, die Herrschaft der Bürokratie und die bittere Armut, in der das Volk lebt, mit kritischer Distanz und ätzendem Humor. Die Bühnendekoration ist schmucklos und besteht nur aus wenigen metaphorisch bedeutsamen Gegenständen; dazu gibt es ausgewählte Lichteffekte, die Zeugenberichte und epische Erzählung verbinden. Die jungen Schauspieler seiner Truppe kommen damals aus dem Amateurtheater, aber der Regisseur versteht es, ihre jeweils spezifische Interpretation und Originalität so in Szene zu setzen, dass das Spiel beweglich und lebhaft wird, was die Eindrücklichkeit des Textes um ein Vielfaches erhöht.

Mit seinen Alloula-Inszenierungen wird Lardjam auch in Frankreich bekannt. Im Jahr 2001 erarbeitet Lardjam Die Großzügigen im Forum in Blanc-­Mesnil in Seine-Saint-Denis, danach, 2003, inszeniert er dort im Rahmen des Algerien-Jahres in Frankreich als assoziierter Künstler Der Schleier. Mit diesem Stück geht er in ganz Frankreich auf Tournee – eine Premiere für diese ganz junge, algerische Truppe. Unterstützt durch das Forum und andere Einrichtungen (wie das Theater L’ARC Scène Nationale in Le Creusot), kann er jedes Jahr ein neues Stück zeigen und seine Schauspieltruppe professionalisieren. Aber er entscheidet sich dafür, in Algerien zu leben und spielt dort unter den schwierigsten Bedingungen, manchmal an ganz entlegenen und vom Terrorismus bedrohten Orten. Trotzdem tritt er regelmäßig in Frankreich auf und stellt dort auch das Repertoire anderer zeitgenössischer algerischer Bühnenautoren vor. Er fordert viel von seinen Schauspielern und zeichnet sich durch eine außerordentliche Kreativität aus, die sich aus seinen vielen Begegnungen und der Zusammenarbeit mit anderen Künstlern nährt, z. B. Arnaud Meunier, Guy Alloucherie (der vom Zirkus kommt) oder der Choreographin Nacera Belaza.

Lardjam erarbeitet Stücke, in denen es um Bewegung geht, darunter Blau, weiß, grün nach einem Roman von Maïssa Bey, das er 2009 zusammen mit dem Choreographen Frédéric Cellé auf die Bühne bringt. Es ist eines seiner besten Stücke – wunderbar verbindet er das szenische Spiel mit dem Tanz, dem Gesang und der Musik. Wie viele Algerier erkennt sich auch Kheireddine Lardjam in diesem glänzenden Roman wieder, der Erlebnisse der Elterngeneration über die Geschichte von Ali und Lila vermittelt, die seit ihrer Jugend ein Paar sind und deren Beziehung durch die Last der gesellschaftlichen Zwänge erschüttert wird. Mit Hilfe von transparenten Schleiern gelingt es ihm, zwei Welten zu symbolisieren: das Innen und das Außen, das Männliche und das Weibliche, und er zeichnet dabei das Porträt einer Generation, die für ihre Ideen gekämpft hat und jetzt desillusioniert ist, in der Liebe wie auch in der Politik. Das Stück spielt zwischen 1962 und 1991 und damit in der Zeit des aufkommenden Islamismus im politischen Raum, und Lardjam fragt: „Was haben wir mit unserer Unabhängigkeit gemacht?“

Anschließend inszeniert er Der Regen nach einem Roman von Rachid Boudjedra, der zuerst auf Arabisch und zwei Jahre später auf Französisch erschienen ist und in der Art eines Tagebuchs von einer Frau erzählt, die unter Schlaflosigkeit leidet. Die Rolle ist subtil auschoreographiert und auf zwei Schauspielerinnen verteilt: die Algerierin Malika Belbey und die Französin Cécile Coustillac. Sie interpretieren eine algerische Frau, die einen scharfen Blick auf ihre Gesellschaft und deren Tabus wirft. Ein Soundtrack und Videobilder illustrieren den gedanklichen Raum, in dem die Schauspielerinnen sich bewegen und in den sie uns mithineinziehen.

In Der Dichter als Boxer, einer Adaptation von Samuel Gallet nach Kateb Yacine, werden Musik und Poesie zu den zentralen theatralischen Mitteln. Das Stück wurde zuerst von Tarik Bouarrara und Amazigh Kateb gespielt. Amazigh Kateb hat auch die Musik für Die Einäugigen oder: der rohe innere Kolonialismus von Mustafa Benfodil komponiert, ein Stück, das Kheireddine im Januar 2012 inszeniert hat und in dem er sich mit dem 50. Jahrestag der Unabhängigkeit Algeriens auseinandersetzt. Er will die Erinnerungsreden stören, die in den Augen der beiden Protagonisten nur dazu dienen, die Aneignung der Revolution durch die Führer der FLN zu kaschieren. Vor dem Hintergrund des Kriegsgeschehens in Algerien geht es um einen Regisseur, der in diesem Land lebt und sich zwischen seinem biologischen Vater und seinem Stiefvater entscheiden muss. Samir sieht mit dem rechten Auge genau das Gegenteil von dem, was er mit dem linken Auge sieht, und er hat seinem Sohn diese schizophrene Krankheit vererbt. Das Stück wurde 2006 geschrieben, blieb aber wegen seiner Radikalität und seines Provokationspotentials zunächst in der Schublade des Autors. Es geht um Unabhängigkeit und, allgemeiner, um das Verhältnis zu den Vätern. Das Stück zeigt die Sicht der heutigen Generation, die ihre Helden und Mythen in Frage stellt und die bleierne Decke lüften will, die die Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien belastet. Es kritisiert sowohl die Verheerungen von 132 Jahren Kolonialismus als auch den Verrat der Ideale der Revolution und zögert nicht, nach der beunruhigenden Parallele zwischen dem Bürgerkrieg und dem Befreiungskrieg zu fragen. Dabei werden auch Ereignisse zur Sprache gebracht, die sonst selten thematisiert werden, wie z. B. das zu Lasten der FLN gehende Massaker von Melouza aus dem Jahr 1957.

Die Erzählung auf der Bühne kennt keine Pausen und wird bis zur Atemlosigkeit getrieben. Die Sprache ist unverblümt; die bemerkenswerten Schauspieler behandeln sie wie brennendes Material und zeigen dabei die ganze Bandbreite ihrer Spielfreude und Emotionen. Dabei überschreiten sie den szenischen Rahmen und spielen auch im Raum, bewegen sich zwischen den Zuschauerreihen, um Unbehagen zu erzeugen. Besonders Sid Ahmed Agoumi und Azeddine Benamara gestalten außergewöhnliche Charaktere, die trotz der Übereinstimmung zwischen dem, was sie sind, und dem, was sie spielen, nie naturalistisch wirken. Linda Chaïb ist überwältigend in ihrer Erzählung von der Vergewaltigung einer jungen Frau in den 1990er Jahren. Sie spricht wie in Trance, lässt die Gewalt durch ihren Körper gehen und wirkt in ihrer glühenden Bühnenpräsenz verstörend. Mit der so erzeugten rhythmischen und physischen Energie behauptet Kheireddine Lardjam einen Standpunkt, nicht nur intellektuell, sondern auch emotional. Dabei überlässt er es dem Zuschauer, nachzudenken; er selbst will nur dessen Hellsichtigkeit schärfen. Es geht ihm nicht darum, Botschaften zu verkünden, sondern das kritische Bewusstsein zu wecken. Und das geschieht durch die Spannung des Textes, des Spiels, des Lichts, des Klangs in Verbindung mit Bewegung und Rhythmus.

Die Einäugigen ist der erste Teil eines Triptychons über die komplexen Beziehungen zwischen Algerien und Frankreich. Mit dem zweiten Teil, der für 2015 geplant ist, wurde Fabrice Melquiot beauftragt. Lardjam sagt dazu: „In einer Zeit, in der die Probleme der Integration, der gerechten Verteilung, des gegenseiti­gen Respekts der Kulturen und der Geschichte nicht gelöst und die Antworten darauf unvollständig oder ausweichend sind, kann uns das Theater viel erzählen.“ Mit dem dritten Teil wird Mohamed Rouabhi betraut, der in seiner Person und in seinem Werk sowohl die französische als auch die algerische Kultur mit allen ihren Reibungen vereint.

Vor diesen beiden Stücken plant Kheireddine Lardjam eine Reise durch die Revolutionen, die die arabische Welt erschüttert haben. Darin sieht er „Veränderungen, die beweisen, dass Ost und West in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung hoffnungslos autistisch sind: ein herablassender Okzident, der sich für den Nabel der Welt hält und sich weigert anzuerkennen, dass die Sphäre der Religion anderswo noch heilig ist, und ein neurotischer, über die Maßen empfindlicher Orient, der nicht verstehen kann, dass Gott für sein Gegenüber tot und begraben ist.“

Diese Gedanken findet er auch im Werk von Yasmina Khadra. Daraus möchte er Babel entwickeln, als Synthese der Bühnenfassung seiner beiden Romane Das Attentat und Die Sirenen von Bagdad. Für Kheireddine Lardjam geht es darum, die Welt in ihrem gegenwärtigen Chaos zu untersuchen, von der Bühne aus und mit künstlerischen Werkzeugen. Diese hat er selbst geschmiedet, und mit ihnen erschüttert er das algerische Theater.

Übersetzt aus dem Französischen: Herwig Lewy und Dorothea Wagner.

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Pledge and Play"