Theater der Zeit

Exklusiver Vorabdruck

Fertig gibt's nicht

von Daniel Wetzel, Michael Simon und Tilman Neuffer

Erschienen in: Theater der Zeit: Kleiner Mann, was nun? – Geschlechterbilder im Theater – Ein Jahresrückblick (12/2021)

Assoziationen: Buchrezensionen

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Michael Simon

Licht kann sich in Bewegung setzen. Das bewegte Licht ist ein eigener Akteur zusammen mit der Wand, auf die der Schatten eines Menschen fällt.

Bühnenbilder haben sich in meiner Fantasie eigentlich immer bewegt. Was passiert, wenn ich auf einer Drehscheibe einen Körper von allen Seiten sehen kann? Das Bühnenbild wird zum aktiven Spielpartner, die Performenden müssen sich zu der Bewegung ­verhalten.

Alles ist eine Frage der Perspektive.

Wie blicke ich auf etwas? Von der Seite? Von oben oder unten? Wie schaue ich auf die Handlung? Erzähle ich etwas von innen oder von außen? Ich nehme im übertragenen Sinn ein umgedrehtes Fernglas, und die Dinge und Themen rücken in die Ferne. Dabei wird das Umfeld, der Kontext plötzlich wichtiger. Die Fantasie bekommt mehr Raum außerhalb der konkreten Arbeit an der Vorlage.

Was ist ein Raum? Wer definiert den Raum? Wie definiert sich der Raum? Was verlangt der Raum von mir? Wie gehe ich mit dem leeren schwarzen Raum um? Wie ist das Verhältnis zwischen Zuschauerraum und Bühne? Was gibt mir der Bühnenraum an essenziellen Informationen? Was macht das Theater aus, außer die Summe seiner einzelnen Elemente?

Wie erweitert sich der Bühnenraum mit Projektionen? Was macht eine Kamera auf der Bühne? Kann der Kamerablick mehr, als aus ungewohnten Perspektiven auf die Bühne zu schauen, mehr, als Live-Bilder aus der Unterbühne zu liefern? Wie verbindet sich die Video­projektion mit den realen Objekten und Menschen auf der Bühne? Ist der immaterielle Bildraum genauso Teil des Bühnenbilds wie die Lichträume? Worauf fällt das projizierte Bild? Was sind die Auswirkungen der digitalen Bildverarbeitung, von Slowmotion, des Ineinander- Morphens von Bildern und des Videomappings auf den Probenprozess? Wie verändert das die Wahrnehmung der Zuschauenden?

Ein echter Stein liegt da, ist kalt, wackelt nicht und lässt sich nicht wegtragen wie ein Styroporblock

Die Holzwand ist eine Holzwand, nicht mehr. Die kann umfallen, sich bewegen usw., ein realer Vorgang und keine Illusion. Ich wollte dem Bühnenbild ein Eigenleben zugestehen. Daher entwickelte ich mich weg von der Auseinandersetzung mit Innen- und Außenräumen hin zu objekthaften Bühnenbildern. Später deckte sich diese Erkenntnis bei der Arbeit mit Elfriede Jelineks Texten. Dort ist es die reale und mentale Anstrengung der Sprechenden, die selbst zum Material ihrer Arbeit an Jelineks Sprache geworden sind. Da ist kein Platz für „so tun als ob“.

Als Regisseur und Bühnenbildner in Personalunion muss ich mich fragen: Was kann ich eigentlich alleine bewältigen? Wie viele Partner*innen brauche ich auf der konzeptuellen Ebene? Was habe ich aus den Augen verloren? Wenn du allein arbeitest und Erfolg hast, kommst du leicht in einen Zustand von Hybris, wo du denkst, du kannst die Welt beeinflussen. Ich habe mich durch meine Neugier, immer etwas anderes auszuprobieren, auch verzettelt, und bestimmte Ideen und Erfindungen nicht konsequent weiter entwickelt.

Nachhaltigkeit kann auch den gesammelten Erfahrungsschatz im Umgang mit künstlerischen Mitteln meinen. Nachhaltigkeit als künstlerisches Denk- und Handlungsprinzip hat für mich mit einer prozessorientierten Ästhetik und Formensprache zu tun.

Dinge auf die Bühne zu stellen, um sie abzuräumen, Dinge wieder zu verwenden, nicht nur aus Geldmangel, sondern auch aus Neugier. Das Besondere an der ­Arbeit mit vorhandenem Material aus dem Fundus ist der Such- und Entscheidungsprozess auf den Proben. Passt ein Objekt nicht in die Szene, fällt die Entscheidung leicht, es wieder in den Fundus zurückzuschicken. Diese Leichtigkeit ist faszinierend, das Gegenteil eines klassischen Bühnenbildentwurfs mit Bauprobe, Werkstatt­abgabe und technischer Einrichtung. Dieser kreative Prozess, Entscheidungen offenzuhalten, ist eine Haltung. In diesem Prozess entstehen keine gebauten Innenräume, sondern Objektlandschaften.

Tilman Neuffer

Dieses Arbeitsbuch widerspiegelt den Prozess des künstlerischen Arbeitens von Michael – in dem es nicht nur Highlights, sondern auch Umwege und Irrtümer dokumentiert. Prozesshafte Arbeiten nie endet: Fertig gibt’s nicht. Im Mittelpunkt stehen Michaels zentrale Arbeitswerkzeuge, seine Gedanken-Räume werden zu Kapiteln: Licht, Bewegung, Worte, Konstruktion/Dekons­truktion, Video und Material(ität). Diese Einteilung hebt Teilaspekte in den einzelnen Produktionen heraus. Es gibt Überschneidungen, Gedankensprünge und Parallelen, auf die verwiesen wird.

Aber wie können die Abbildungen, die im Buch ja statisch sind und die Bewegung und den Wechsel der Szenarien nicht wiedergeben können, leben­dig werden? Leila Mekacher entwickelte eine App, die die Bühnenbildfotos im Buch mit Videoclips verlinkt. Das lässt die Bilder tanzen, das Buch lebt.

Die ursprüngliche Gesprächssituation diente als Gerüst für Michaels eigenen Text und persönlichen Schwerpunkte. So entstand eine „Erzählung“, die die künstlerischen Prozesse transparent macht.

Stephan Wetzel

„Das ist ein langes Wort: Immer!“, sagt Leonce zu Rosetta in Büchners Lustspiel, als seine Liebe endet. Genau 14,65m lang ist es auf Michael Simons Bühne. Auf diese Weise den Text beim Wort zu nehmen, ist zu einem Markenzeichen in der Arbeit von Michael Simon ­geworden, verweist aber über die Wort-Bilder hinaus auf grundlegende Fragen bei der Raumfindung: Auf welchen Gegenstand trifft das Licht, gegen welche Wand rennt ein Körper, welchem Körper begegnet ein Text, welcher Text wird zum Gegenstand? Der Zusammenstoß erst schafft die Sichtbarkeit der verschiedenen Elemente, macht sie physisch, unhintergehbar, erlebbar.

Ob eine Form des Theaters, das im fortwährenden Prozess seine ästhetischen Mit­tel re- flektiert, auch poli­tisch sein kann, ist eine rhetorische Frage. Sie ist im idealen Fall sogar auf eine Art politisch, die nicht kalkuliert ist, die unversehens den Assozia­tionsraum Bühne sprengt. Das Spiel mit den Wort-Tafeln, das Jelineks Text­flä­chen begehbar macht oder aufrecht stellt und zum Tanzen bringt, wird zum Kommentar auf eine Medienmaschine, die uns schon morgens auf dem Weg vorbei am Zeitungs-Kiosk – klassischerweise mit Reizworten in großen schwarz-­roten Überschriften auf weißem Papier – Angst einjagen will. Es geht um einen glücklichen Gedanken, den Gedanken, dass es möglich ist, ein Instrumentarium zu sammeln, das zugleich der analy­tischen Neugier dient und dem Gelingen der Neufindung. Das hört dann nicht auf.

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