Kolumne
Ausgerechnet Zuschauer
Über das Publikum und den Rest der Welt
von Kathrin Röggla
Erschienen in: Theater der Zeit: Wie es euch gefällt – Christian Friedel vertont Shakespeare (12/2016)
Assoziationen: Debatte
So ein Publikum ist ja stets erst einmal ausgedacht, habe ich mir sagen lassen. Manche Theaterleute machen sich zu genaue Vorstellungen. Sie wissen dann schon, wer da sitzen wird und packen ihre Argumente aus. Es folgen genaue Beschreibungen inmitten eines Produktplans oder sie folgen doch eher nicht. Jedenfalls muss man die Häuser vollkriegen, sind sich alle einig, aber ab wann beginnen sie, wirklich voll zu sein? Wir alle wissen, solche Gespräche laufen meist so ungeschickt weiter, wie sie begonnen haben. Ich habe auch nur aus Verlegenheit den Faden aufgenommen, um etwas Krisenluft an uns vorbeiströmen zu lassen, damit der Druck nachlässt. What’s next? Wie der jeweils neue heiße Scheiß das jeweilige Stadttheater retten soll, während die freie Szene in vermeintlich überund in Wirklichkeit unterfinanzierten Schrecken feststeckt. Wie junge Regisseure sowieso nur Klassiker machen wollen und Gegenwartsautoren sowieso unerwünscht sind. Keiner kommt, um sich das anzusehen, NIEMAND, doch das hat man einfach noch nicht kapiert. Ja, die Spielpläne sind voll, sie sind immer voller, und die Autorenförderung noch viel voller, irgendwo muss ein Ende abzusehen sein. Ist es aber nicht, vor allem nicht in diesen Gesprächen, die ich zu jenem Zeitpunkt nur noch halb verstehe, weil mir das Zuviel an Zielrichtung die Sicht verdeckt.
Es brauche viele mittelmäßige Autoren, damit sich ein paar zu großen entwickeln können, will ich kontern, und halte im letzten Moment den Mund – oje, das war knapp, die Plattitüde hätte mich beinahe selbst erwischen können. Man muss mir verzeihen, komme ich doch mehr oder weniger gerade von der Frankfurter Buchmesse, da verliert man ein wenig die Orientierung und den Glauben ans Publikum. Ich kann es von meiner Bühnenposition aus auch nicht wirklich klassifizieren. Manchmal sind es lustige Zuschauer, manchmal unlustige, manche wollen ganz schön was wissen, oder haben einfach diesen kritischen Impuls, und andere wiederum sind einfach da irgendwie hineingeraten und langweilen sich oder können so gar nichts damit anfangen. Mal Studies, mal Omas. Mal Unternehmensberater. Immer unterschätzt, so viel ist klar, wovor zu warnen wieder ein gewisser Typus an Veranstalter nicht müde wird. Man darf das Publikum nicht unterschätzen! Upps, und schon will es unterschätzt werden. Ich sage, ein Publikum muss notgedrungen falsch eingeschätzt werden, sonst kann man gleich einpacken. Was ohnehin so einige tun, leben wir doch in Zeiten, in denen das meiste hinfällig wird.
Aber das ist vermutlich nur die „Hamletmaschine“ von Heiner Müller, die ich für ein sogenanntes freies Musiktheaterprojekt lese, und mir denke: Dieses Pathos gehört uns nicht mehr, schon gar nicht dieses negative Revolutionspathos. Mit „uns“ will ich schon wieder auf dieses sehr unscharfe Kollektiv eines angenommenen Theaterpublikums hinaus, das gewisse Menschen ausschließt: syrische Flüchtlinge, prekäre Dienstleister, geplagte Angehörige des Gesundheitssektors, Bildungsbeauftragte, Hartz-IV-Empfänger. Das „wir“ muss irgendwie in mir überlebt haben, bei Heiner Müller tut es das jedenfalls im „Gleichschritt der Verwesung“. Gleichzeitig lese ich einen „öffentlich werdenden“ Brief von A. L. Kennedy über den prägenozidalen Zustand unserer europäischen Gesellschaften, wobei sie auf die Post-Brexit-Stimmung in England Bezug nimmt. Die Medien seien Hassmühlen, die Übung in Menschenverachtung nehme auf allen politischen Ebenen zu, sogenanntes othering, Fremdenfeindlichkeit, Angst vor Überfremdung, Brutalisierung und die üblichen Pauschalisierungen setzten sich durch. Eine „Nachricht des Tages“ wirkt wie eine Unterschrift dazu: Vier Menschen seien über einen 82-jährigen Bankkunden gestiegen, der vor dem Schalter zusammengebrochen war, erst der fünfte habe Rettung geholt, und der Mann sei verstorben. Eine Kamera in dieser Bank zeichnete auf, als gäbe es irgendwo ein Publikum für diese Szene. Nein, ich denke mir lieber kein Publikum aus, verheddere mich aber einen Moment in den Sitzreihen derer, die ihr Weltbild bestätigt bekommen wollen und sich Sätze anhören wie: „Ich kenne keinen einzigen Vertreter der politischen Klasse, der in der Lage wäre, die Komplexität des derzeitigen Geschehens im Nahen Osten auch nur ansatzweise zu verstehen.“ Eine Aussage, die vielleicht stimmt, aber in diesem Raum geäußert einfach zu sehr in den Gesichtern der zuhörenden Menschen sitzt. Der Mann kann nichts für sein Publikum, denke ich, doch schon geht es weiter mit an Verschwörungstheorien heranreichender Offenherzigkeit, zart gebrochen durch den Aufruf zur Differenzierung. Konsensgesellschaft, Konsensmedien, Gleichschaltung der Öffentlichkeit, die man quasi von außen bekämpft. Lechts und Rinks sind heute wirklich manchmal zu velwechsern.
Währenddessen nimmt die Horror-Clown-Hysterie in den Medien und auf den Straßen zu, obwohl es schon mal hieß, die Clowns seien „aus der Aktualität draußen“, und überhaupt seien sie Schnee von gestern. Keine Sorge, jetzt kommt der Oberhorrorclown an die Macht. Das Netz steht still, und ich lasse es schneien. //