Theater der Zeit

Aktuelle Inszenierung

Ich fang jetzt noch mal ganz anders an

Christopher Rüping zeigt „Das neue Leben“ nach Dante Alighieri in Bochum als Mashup mit Meat Loaf und Britney Spears

von Martin Krumbholz

Erschienen in: Theater der Zeit: Angst und Widerstand – Thema Afghanistan (10/2021)

Assoziationen: Theaterkritiken Schauspielhaus Bochum

Täuscht der Eindruck, oder ist das Theater tatsächlich, und nicht erst seit Corona, privater geworden? Die Schauspieler stehen nicht mehr auf Kothurnen, auch nicht im bildlichen Sinn, sie verschwinden nicht mehr vollständig hinter ihren Rollen. Man kann das einen performative turn nennen, eine Trendwende von der klassischen Literaturrezeption hin zum Performativen, aber es ist wohl zugleich weniger und mehr. Wenn sich zwei Männer auf der Bühne küssen, oder wenn eine Frau eine andere fragt: „Magst du mich?“, dann kann man fast sicher sein, dass dahinter auch sehr persönliche Statements stehen; Statements, mit denen Akteure sich aus der Deckung eines kanonischen Textes hervorwagen und eine Überschreitung riskieren, mit der sie die eigene Biografie oder eigene Impulse gewissermaßen in die Vorlage, mit der sie es zu tun haben, einklinken.

Der Regisseur Christopher Rüping, der den Abend mit dem langen Titel „Das neue Leben – where do we go from here, frei nach Dante Alighieri, Meat Loaf und Britney Spears“ am Schauspielhaus Bochum inszeniert hat, nennt seinen Ansatz „unplugged“. Soll heißen: bescheiden, unspektakulär, direkt, ohne Überformung. Vor allem aber zeichnet der Abend sich dadurch aus, dass er die Persönlichkeit der fünf Mitwirkenden in den Mittelpunkt stellt. Zwei Deutsche, eine Niederländerin, eine Belgierin, ein Australier, deren unterschiedliche Verwurzelungen und auch unterschiedliche Vertrautheit mit dem Deutschen von vornherein keinen „makellosen“ Umgang mit dem Dante-Text „La Vita Nova“ aus dem Jahr 1293 garantieren. Spieler in den Mittelpunkt stellen, das ist übrigens auch noch einmal etwas anderes als: sie souverän für die eigenen Zwecke benutzen, wie es gewisse Regiegrößen, auch sehr angesagte, nach wie vor tun. Spieler in den Mittelpunkt stellen heißt vielmehr: sie nach ihrem eigenen Verhältnis zu den behandelten Problemen befragen. Sie von ihrem ­Kothurn befreien, manchmal auch bis an die Grenze des Banalen. Nicht banal, um es einmal etwas ketzerisch zu sagen, ist eine Liebe, die sich nicht aus der Deckung wagt; die nicht nur unerwidert, unerfüllt, sondern sogar uneingestanden, unentdeckt bleibt. So wie die des jungen Florentiners Dante zur gleichaltrigen Beatrice Portinari am Ende des 13. Jahrhunderts. Mit neun Jahren will er sie erstmals gesehen, sich unsterblich in sie verliebt haben, neun Jahre später, mit achtzehn also, zum zweiten Mal. Beatrice heiratete einen anderen, starb mit vierundzwanzig. Das ist natürlich der ideale Stoff für große Literatur. Nur wenn die Liebe unsterblich bleibt, ist es auch die aus ihr entstehende Dichtung. Vielleicht hat Dante das sogar geahnt. Vielleicht hat er sich in der Rolle des versteckten, unsichtbaren Liebhabers ganz gut gefallen – nicht indem er larmoyant wurde, sondern indem er unsterbliche Zeilen schrieb und dichtete. Zuerst die „Vita Nova“, dann die „Göttliche Komödie“. Natürlich kennen die Beteiligten die hier verhandelten Gefühle, vielleicht sogar allzu gut. Zum Beispiel die Kombination von „Blick und Zittern“ beim Anblick der (des) Geliebten. Das Bedürfnis sich zu verstecken, etwa hinter einem Kumpel, oder hinter der gefakten Liebe zu einem ganz anderen Objekt. Zu einer gewissen „Elke“, wie es sich Damian Rebgetz in der Aufführung ausmalt. Während sein Kollege William Cooper ihn und die anderen zurechtweist: Sie mögen es doch herauslassen, „ausspucken“, wenn sie jemanden mögen/wollen, ist es denn so schwer?

Rüping, Jahrgang 1985, findet die „Liebe in Gedanken“ so abwegig nicht. Man müsse nicht immer alles besitzen, nicht immer aus allem, auch der Liebe, „ein Produkt machen“. Dieser sozusagen klassisch-antineoliberale Ansatz ist seinerseits durchaus produktiv. „Die Idee von ‚Romeo und Julia‘ funktioniert ja auch nicht im Reihenhaus“, meint der Regisseur. „‚Romeo und Julia‘ funktioniert nur als unerlöste, ungelebte Liebe.“ Und wenn man weitergeht und den Blick popkulturell auf das Entertainment des 20. Jahrhunderts lenkt, darf man feststellen, dass wohl neunzig Prozent des erfolgreichen Liedguts vom Begehren und von der (noch) unerfüllten Liebe handeln. Ist die Liebe einmal erfüllt, hat man wenig Zeit und Lust zu komponieren. Auch gut. „When I’m away from you, I’m happier than ever“, singt dagegen Billie Eilish (aber die kommt nicht vor). „I’d Do Anything for Love (But I Won’t Do That“ (Meat Loaf, kommt vor). Das programmierte Klavier mit seinem unsichtbaren Pianisten hämmert dazu scheinbar eigensinnig den Sound (Musik: Jonas Holle, Klavierarrangements: Paul Hankinson). Gleichwohl handelt es sich nicht um einen lustigen Liederabend. Ganz und gar nicht. Humorvoll ist die Aufführung schon, aber in einem tieferen, nachdenklichen Sinn. Wenn Anne Rietmeijer dem Tod mit seinen dürren Fingern (als säße der im Parkett) die Leviten liest und ihm erklärt: „Ich verliere langsam die Geduld mit dir“, und das mit dem schönsten niederländischen Akzent, dann weiß der Angesprochene hoffentlich, was die Stunde geschlagen hat. Und merkt es sich.

Das Saallicht lässt Rüping die meiste Zeit brennen. Wir sehen die Spieler, aber die Spieler sehen auch uns. Die Bühne hat Peter Baur zunächst nur mit neun weißen Kreisen bemalt. Zum ersten Mal geht das Saallicht aus, wenn ein kleiner Lichtkubus sich in der Bühnenmitte langsam erhebt und immer schneller zu kreiseln beginnt, wohl zwanzig Minuten lang. Mit Musik, das ist magisch. Und danach steht plötzlich eine fünfte Spielerin auf der Bühne, die Belgierin Viviane De Muynck. Zunächst unter einer Kapuze versteckt, entpuppt sie sich als eine altersweise Beatrice, die den Jüngeren abverlangt, sie mit Sentimentalitäten und romantischen Verstiegenheiten bitte zu verschonen. Anna Drexler, die oft dann am allerbesten ist, wenn sie sozusagen ins Unreine spielt („Also ich fang jetzt noch mal ganz anders an“), hat sich das mit dem Aus­spucken überlegt. „Magst du mich?“, fragt sie rundheraus De Muynck, und die, zögernd, rät ihr: „Bild dir darauf bloß nichts ein!“ Bevor sie kategorisch erklärt: „Ich brauch mal ‘ne Pause. Pause für immer.“

William Cooper drückt auf einen Knopf, und ein gigantisches Zelt spannt sich auf, sozusagen ein Rettungsschirm für Ertrinkende in Liebesseenot. Schließlich haben die fünf noch „eine gute Nachricht“ für uns, mit einem schönen Song des Rappers Danger Dan. Eine schlechte zwar auch: „Wir werden zu Asche.“ Dagegen die gute: „Es bleibt noch Zeit für dich und mich. Was ich eigentlich nur damit fragen will ist: Schläfst du heut bei mir?“ //

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Cover Recherchen 167
Cover Rampe vol.2
Cover B. K. Tragelehn
Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"