Theater der Zeit

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Etwas erschaffen heißt sich riskieren

von Dorte Lena Eilers, Thomas Hirschhorn und Ute Müller-Tischler

Erschienen in: Theater der Zeit: Things Have Changed – Bob Dylan und das Theater (11/2016)

Assoziationen: Akteure

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Etwas erschaffen heißt sich riskieren

Der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn über die vier Elemente seiner Kunst: Liebe, Philosophie, Ästhetik und Politik, im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und Ute Müller-Tischler

Herr Hirschhorn, Sie sind international bekannt geworden durch die Installation „Swiss-Swiss Democracy“ im Schweizer Kulturzentrum in Paris 2004. Sie haben dort Folterbilder aus dem Iran mit den Flaggen Schweizer Kantone collagiert und damit einen kulturpolitischen Skandal ausgelöst. Sie gelten als ein politisch denkender Künstler und sind damit in der Kunstwelt sehr erfolgreich. Würden Sie sagen, dass sich die Politisierung der Ästhetik zum Common Sense entwickelt hat?
Tatsächlich wurde ich durch „Swiss-Swiss Democracy“ „international bekannt“ – in der Schweiz! Spaß beiseite, es war das erste Mal, dass ich in meine Arbeit ein Theaterstück integriert habe, es war Schillers „Guillaume Tell“, das der französische Regisseur Gwenaël Morin inszeniert hat. Bei „Swiss-Swiss Democracy“ ging es und geht es wie immer darum, „Kunst politisch zu machen“. Ich mache dabei den für mich entscheidenden Unterschied zwischen, wie oft einfältig gesagt wird, „politischer Kunst“ – was ich nicht mache – und „Kunst politisch zu machen“ – was ich machen will. Was heißt das?
„Kunst politisch zu machen“ ist Behauptung und Herausforderung zugleich. Es heißt einerseits: Form geben. Eine Form, die von mir kommt, die nur von mir kommt, die nur von mir kommen kann, weil ich die Form so sehe, weil ich die Form so verstehe. Form geben heißt – im Gegensatz zu einer Form machen – mit ihr eins sein. Ich will mich der künstlerischen Herausforderung stellen: Wie kann ich eine Form geben, die eine Position bezieht? Und wie kann ich eine Form geben, die den Tatsachen widersteht? Ich will die Formfrage als die wichtigste aller Fragen des Künstlers verstehen.
Kunst politisch machen heißt andererseits auch: etwas erschaffen. Etwas erschaffen oder etwas schöpfen kann ich nur, wenn ich mich positiv zur Wirklichkeit verhalte, auch zum harten Kern der Wirklichkeit. Aber es geht darum, die Lust, die Freude, den Spaß an der Arbeit, das Positive am Schaffen, das Schöne am Arbeiten nie durch Kritik ersticken zu lassen. Es geht nicht darum zu reagieren, es geht darum, immer aktiv zu sein. Kunst ist immer Aktion, nie ist Kunst Reaktion. Nie ist Kunst nur eine Reaktion oder bloße Kritik. Es geht darum, sich die Leidenschaft, die Hoffnung und den Traum nicht absprechen zu lassen. Etwas erschaffen heißt, sich riskieren, das kann ich nur, wenn ich eine Arbeit mache ohne – im gleichen Moment – zu analysieren, was ich mache. Risiko eingehen, Freude an der Arbeit, positiv sein sind Voraussetzungen für das Kunstmachen, denn nur indem ich positiv bin, kann ich etwas von mir aus erschaffen. Ich will positiv sein – auch mitten im Negativen. Und weil ich positiv sein will, muss ich den Mut aufbringen, auch das Negative zu berühren, darin sehe ich das Politische. Es geht darum, eine Aktion zu schöpfen, eine Behauptung zu wagen, eine Setzung zu machen, eine Setzung, die über die Kritisiererei hinausgeht. Ich will kritisch sein, aber ich will mich nicht vom Kritischsein neutralisieren lassen. Ich will mich nie als Künstler beklagen, denn es gibt keinen Grund dazu – ich kann meine Arbeit machen, ich kann etwas erschaffen. Es geht also nicht darum – als Künstler/-in – „politisch zu denken“, sondern es geht darum, eine Form zu geben. Eine Form – wenn sie wirklich „Form“ ist – ist immer politisch.

Die Kuratoren der diesjährigen Berlin Biennale, DIS, haben es als Romantik bezeichnet, zu glauben, Kunst könne durch ihre kritische Distanz eine Gegenwelt jenseits des Welt- und Markttreibens erschaffen. – Im Juli 2013 errichteten Sie in der New Yorker South Bronx mit Anwohnern der Forest Houses, einer Sozialbausiedlung, das „Gramsci Monument“, eine Ministadt aus Holz mit einer Bar, einem Theater, Lese- und Computerräumen, einem Basketballfeld. Sie bezeichnen dies in einem nachbereitenden Text als Paradies – nicht nur für sich selbst als Künstler, sondern auch für die Anwohner, die hier in einer „unvollendeten Gemeinschaft … neue Formen des Lebens schaffen und erkunden, neue Formen des Denkens und eine andere Form der Realität“. Sind Sie ein Romantiker?
Mir ist es egal, wenn jemand denkt, ich sei Romantiker, was zählt, ist: Ich glaube an die Kunst. Ich glaube, dass Kunst – weil es Kunst ist – die Kraft hat, einen Dialog oder eine Konfrontation aufzubauen. So war das „Gramsci Monument“ ein Paradies, weil die Fragen – die die Kunst stellen kann – in und mit dieser Arbeit gestellt und diskutiert wurden, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Was kann es Schöneres geben? Die Frage, ob Kunst – weil es Kunst ist – Veränderung bewirken kann, die Veränderung eines Einzelnen. Die Frage, ob Kunst – weil es Kunst ist – widerständig ist, die Frage, ob Kunst ästhetischen, politischen, kulturellen Gewohnheiten widerstehen kann. Die Frage, ob Kunst – weil es Kunst ist – universell ist. Das Universelle, das ein anderer Begriff für Gleichheit, Gerechtigkeit, Wahrheit, die eine Welt ist. Die Frage, ob Kunst – weil es Kunst ist – die Konditionen für Implikation schaffen kann. Das Paradies ist nicht „Paradies“, weil alles in Ordnung ist oder weil es der Ort ist, wo es endgültige Antworten gibt, sondern das Paradies – von dem ich rede – ist der Ort, wo die Fragen der Macht der Kunst diskutiert werden und wo diesen Fragen eine Form gegeben wird. Das Paradies strahlt, nicht aus Zufriedenheit, aus Bequemlichkeit, aus Komfort oder aus Befriedung, sondern das Paradies strahlt wegen der Konfrontation mit der Wirklichkeit.
Dieser Konfrontation eine Plattform zu schaffen und eine Form zu geben, ist die Mission des „Gramsci Monuments“. Es war möglich, diese Mission zu erfüllen, denn sie wurde erfüllt, weil ich – und nicht nur ich – an die Autonomie der Kunst als Kunst glaube. Die Mission wurde erfüllt, weil nur die Autonomie dem Kunstwerk seine Schönheit und sein Absolutes verschaffen kann. Ich will immer für ein „nicht-exklusives Publikum“ arbeiten, im öffentlichen Raum, im Museum in der Galerie. Das „nicht-exklusive Publikum“ in und mit meiner Arbeit einzubeziehen, ist meine Ambition. Das „nicht-exklusive Publikum“ schließt niemanden aus (auch den Kunst-„Kenner“, den Kunst-„Profi“ oder den Kunst-„Liebhaber“ nicht), aber es fordert von mir – dem Künstler –, die Dynamik, die Richtung meiner Arbeit auf den Anderen, auf den Unbekannten, auf den zufälligen Passanten, auf den Nicht-an-Kunst-Interessierten, auf den Fremden, auf den Nächsten zu richten. Ja, ich denke, es ist wichtig, an Kunst zu glauben, schlicht: überhaupt – heute – an etwas zu glauben.

Im Rückblick auf das „Gramsci Monument“ schrieben Sie, dass Formgebung erfordere, eine Behauptung aufzustellen, dass man für diese kämpfen und sich dafür in den Krieg begeben müsse. „Weil das Schaffen eines Kunstwerkes eine Art Krieg ist – kein Krieg gegen etwas oder gegen jemanden – sondern für etwas, für eine Form.“ Dieser Begriff von Formgebung schreit förmlich nach rebellischem Aufstand. Nach Bruch mit den Vorgaben und, in der Emphase, auch nach Gewaltbereitschaft. Wieviel Terrorismus müssen Sie aufbringen, um die von Ihnen gewünschte, konkrete Form zu schaffen?
Eine Arbeit wie das „Gramsci Monument“ ist tatsächlich eine Art Krieg. Aber es ist kein Krieg gegen etwas, sondern es ist ein Krieg für etwas. Für meine Auffassung von Kunst im öffentlichen Raum. Für meine Ästhetik. Für mein Verständnis von Kunst – heute – im öffentlichen Raum. Es geht dabei darum, wen meine Arbeit implizieren muss, wen sie einschließen muss, wem sie gewidmet sein muss und was für eine Erfahrung sie ermöglichen muss. Wenn ich sage, ich bin ein Soldat, dann weil ich für etwas kämpfen will und muss. Ich will und ich muss – dessen bin ich mir bewusst – für meine Form, für meine Kunst und für mein Verständnis von Kunst kämpfen. Ich kämpfe nicht gegen etwas, ich kämpfe gegen niemanden, gegen keine andere Form, gegen kein anderes Kunstverständnis und gegen keine andere Kunst. Ein Soldat zu sein heißt, eine Mission zu haben, das heißt, seine Arbeit zu tun, ohne den Gedanken an Erfolg oder Misserfolg aufkommen zu lassen. Es gehört auch dazu zu wissen, dass man als Künstler, als Künstlerin immer zuerst den Preis für seine Arbeit bezahlen muss. Ein Soldat zu sein heißt, sich nicht zu beklagen und nicht weinerlich zu sein. Ich denke dabei an den Satz von Andy Warhol: „Don‘t cry – work!“

Der Sinn für prekäre Situationen und Provokation war von Anfang an in Ihre Arbeiten eingeschrieben und führte schon früh bei Ihren Straßenaktionen in Paris in den öffentlichen Stadtraum. Es schien damals eine ästhetische Revolution, als Sie mit Sperrholz, Müll, Alufolie und Klebeband spektakuläre Rauminstallationen entwickelten. In Kassel auf der Documenta 11 entstand das „Bataille Monument“ weit ab vom Schuss und gemeinsam mit den Bewohnern der Friedrich-Wöhler-Siedlung. Im Sinne von Joseph Beuys war das soziale Praxis und raumgreifende Skulptur zugleich, die Sie in diesem Fall mit den Theorien Georges Batailles aufgeladen haben. Auf welche Weise treffen Sie die Auswahl bei den philosophischen Ideengebern für Ihre Werke?
Provokation kann nie ein Ziel für eine Künstlerin, einen Künstler sein, aber wenn meine Arbeit etwas provoziert oder jemanden provoziert, muss ich das in Kauf nehmen. „Provokation“ ist aber bestimmt nicht meine Schlagrichtung. Mein Sinn und mein Interesse für prekäre Situationen kommt daher, dass es darum geht, an diesen Orten und in diesen Momenten wach zu sein, aufmerksam zu sein, bereit zu sein für Unvorhergesehenes, für Begegnungen voller Grazie und für Auseinandersetzungen, wie sie die Wirklichkeit ergibt. In meiner ganzen künstlerischen Arbeit habe ich mich entschieden, in einem von mir bestimmten Kraft- und Formfeld zu arbeiten. Es ist das Feld, das sich als Kraft- und Formfeld aus den Begriffen Liebe, Philosophie, Ästhetik und Politik ergibt. Immer muss sich meine Arbeit mit allen diesen vier Elementen beschäftigen. Nicht ausgeglichen oder gleichmäßig, aber ich will immer, dass meine Arbeit alle vier Elemente berührt. So hat sich ergeben, dass die vier Philosophen, für die ich ein Monument gebaut habe – Spinoza, Deleuze, Bataille und Gramsci – jeweils einen Schnittpunkt meines Form- und Kraftfeldes fixieren. Spinoza steht für Liebe und Philosophie. Deleuze steht für Philosophie und Ästhetik. Bataille steht für Ästhetik und Politik und – den Kreis schließend – Gramsci steht für Politik und Liebe.

Beim „Gramsci Monument“ kollidiert die intellektuelle Basis natürlich auch mit der Lebenswelt der Rezipienten und Teilnehmer des Projekts. Besonders deutlich wurde dies in dem Stück „Gramsci-Theater“, das der Berliner Philosoph Marcus Steinweg für das Monument schrieb – ein schwerer Brocken voll antikapitalistischer und philosophischer Theorien – das täglich von Anwohnern aufgeführt wurde. Was haben die Bewohner der Forest Houses davon, Heiner Müller zu rezitieren?
Ja, kollidieren ist richtig und wichtig, denn soll etwas in die Tiefe dringen können, muss erst mal Kontakt an der Oberfläche hergestellt werden. Diese Plattform für Kontakt zu schaffen, verstehe ich als meine Aufgabe als Künstler. Das ist mein Problem und das ist meine Mission: Kann ich mit und durch meine Arbeit Begegnungen ermöglichen? Kann ich mit und durch meine Arbeit ein Ereignis erzeugen? Eine Arbeit mit Bewohnern zu machen, kann nicht heißen zu fragen: Was wollt ihr? Was kann ich für euch tun? Denn damit würde ich mir eine Kompetenz als Sozialarbeiter anlügen. Im Gegenteil, die einzige Chance, etwas mit Bewohnern zu machen ist, sie um Hilfe zu bitten. Könnt ihr mir – für mein Kunstwerk – helfen? Wollt ihr mir – dem Künstler – helfen? Das „Gramsci Monument“ war möglich, weil ich ganz zu Beginn immer sagte: Ich arbeite für die Kunst. Ich arbeite nicht „für“ die Bewohner, sondern ich will mit den Bewohnern arbeiten, dazu brauche ich ihr Einverständnis und ihre Hilfe.
Die Bewohner der Forest Houses haben das verstanden, und sie haben verstanden, dass meine einzige Kompetenz – wenn ich überhaupt eine habe – von der Kunst kommt. Und sie haben verstanden, dass meine Kompetenz – mit ihnen etwas zu machen – von meinem Kunstverständnis kommt. So habe ich gesagt, ich will und kann nur ein Kunstwerk machen, das auf dem, was ich liebe, aufgebaut ist. So hat niemand außer mir Antonio Gramsci zu lieben oder Heiner Müller zu kennen. Nur ich muss das verantworten können und niemand muss die Liebe zu Antonio Gramsci und die Bewunderung für Heiner Müller mit mir teilen. Was aber geteilt werden kann, was ich teilen und was ich erarbeiten muss, ist, die Konditionen für eine Erfahrung und für ein Erlebnis zu schaffen. Auch hier: Was gibt es Schöneres, als durch ein Engagement eine Begegnung zu machen? Was gibt es Wundervolleres, als eine Begegnung durch Antonio Gramsci oder Heiner Müller mit Malcolm X oder Muhammad Ali zu machen?

Gegenwärtig werden wir von einer Mitmachkultur überflutet. Die politischen Programme, auch die künstlerische Förderung kommen heute kaum noch ohne die Idee von Partizipation aus. Ihre Arbeiten basieren seit den 1990er Jahren auf Kollaboration mit Personen außerhalb der Kunst. War das Fluch oder eher ein Segen?
Ich bin bestimmt nicht gegen das „Mitmachen“. Nur kann das „Mitmachen“ kein Ziel und keine Ambition sein. Es kann nur immer eine Erfahrung sein. Der Begriff Partizipation darf kein Modebegriff sein, ich weiß jedenfalls nicht, was der Begriff „partizipative Kunst“ bedeuten soll. Wer im Museum ein Bild von Mondrian betrachtet, kann „partizipieren“, er kann mitmachen, sie kann mitdenken. Seine oder ihre Partizipation kann auf der Höhe dessen sein, wie es der Künstler in seinem Bild vorgegeben hat. Das Partizipieren kann auf den unterschiedlichsten Ebenen stattfinden, es ist das Geheimnis zwischen dem Kunstwerk und dem Betrachter, es ist das Wunderbare in der Kunst. Nur ist diese Partizipation nicht messbar und nicht sichtbar. Wenn etwas sichtbar oder messbar sein muss in der Kunst, um als „partizipative Kunst“ zu gelten, geht es bloß um Interaktivität und um „Kunst, die funktioniert“.
Kunst ist aber – wenn es Kunst ist – nicht interaktiv, sondern aktiv. In der Kunst kann etwas bestehen, was nicht funktioniert und was vielleicht gerade deshalb zur Auseinandersetzung auffordert und demnach zum Nachdenken zwingt. Die Aktivität des Denkens ist das Schönste, was das Kunstwerk erreichen kann. Ich habe nie behauptet, „partizipative Kunst“ zu machen, ästhetical relational art, community art oder educational art zu machen. Das sind faule und ausgelaugte Begriffe. Nie operiere ich damit. Vielmehr will ich meinen eigenen Begriffen treu sein. „Präsenz und Produktion“ ist so ein Begriff. Denn er beschreibt, was ich – der Künstler – kann: Form geben, Zeit geben, vor Ort sein, die ganze Zeit, und etwas produzieren. Nicht etwas vom anderen verlangen oder erwarten, was ich nicht selber – zuerst – von mir erwarte und verlange: Da sein! Hier und jetzt! Wenn dann jemand mitmacht, ist das schön, wenn niemand mitmacht, heißt es aber auch nicht, dass es nicht gelungen ist. Wie immer geht es in der Kunst – und im öffentlichen Raum ganz besonders – darum, nicht mit den Begriffen von Erfolg und Misserfolg zu operieren. Und solche Bezeichnungen gar vom „Mitmachen“ anderer abhängig zu machen. Vielmehr geht es darum zu verstehen, dass Kunst nie ein totaler Erfolg ist, aber auch nie, nie, ein totaler Misserfolg.

Sie schreiben in Ihren Nachbetrachtungen zum „Gramsci Monument“ davon, gelernt zu haben, dass das Wort „Gemeinschaft“ eine „heilige Kuh“ ist. Die Idee einer Gemeinschaft sei als die unabschließbare Konstruktion von Individuen und nicht als spezifische Homogenität innerhalb einer Gruppe zu sehen. Ihre jüngste Arbeit „Sperr“ auf der Wiesbaden Biennale bezog sich nicht nur auf das Material der Installation, Sperrmüll, sondern auch auf den Dramatiker Martin Sperr. Dessen „Jagdszenen aus Niederbayern“, ein Stück, das die Jagd auf Außenseiter in einem Dorf beschreibt, scheint heute aktueller denn je; die Tendenzen zu Gruppenbildungen und Homogenität in Europa werden immer größer. Entgegen dieser Drastik fügte sich Ihr Monument recht still in den Stadtraum ein. Wo ist da der Aspekt des Kampfes geblieben oder zumindest der Konfrontation, des Dialogs?

Ich denke, da ist jemand (Sie?) nicht vor Ort gewesen, denn: Alles war ganz anders! Ich denke, da haben wir (Sie und ich) nicht das Gleiche erlebt, oder wir reden nicht vom Gleichen. Ich verstehe nicht, wie jemand (Sie?) „Sperr“ als „still“ beschreiben kann. Mindestens für mich, der die ganze Zeit vor Ort weilte – am Faulbrunnenplatz – war es nicht still. Ich habe, wir haben – zusammen mit 15 Wiesbadener/-innen – die Arbeit „Sperr“ mit unserer Präsenz 10 Tage lang 24 Stunden am Tag vervollständigt. Wir haben, ich habe dank unserer, dank meiner Präsenz vor Ort diese Zeit als alles andere als „still“ erfahren. Vielmehr musste ich, mussten wir – wie noch nie – für den Erhalt dieser Arbeit kämpfen. „Sperr“ war immer bedroht, bedroht – jede Minute, jede Stunde, jeden Tag –, in ein Desaster umzukippen. Ich, mindestens, habe so etwas noch nie erlebt. Die Arbeit war laufend – während der ganzen Zeit, jede einzelne der 240 Stunden, Tag und Nacht – in Gefahr, zerstört, beschädigt oder gar abgebaut zu werden. Es war wirklich Krieg, dieser Begriff ist hier absolut zutreffend, und ich denke – niemand der 15 anderen „Sperr“-Teilnehmer würde dazu eine andere Aussage machen können. Ich kann nur sagen, dass einzig durch den souveränen Einsatz, das sensible Verstehen, die Disziplin und das großzügige „Auf-Sich-Nehmen“ der 16 in das Kunstwerk integrierten Personen (als lebende Träger der Buchstaben „E“ und „I“ des Begriffs „Wirklichkeit“) verhindert werden konnte, dass die Erfahrung „Sperr“ vorzeitig abgebrochen werden musste. „Sperr“ war eine absolute Randerfahrung. Es war eine verrückte, wunderbare, prekäre Co-Existenz mit den vor Ort Lebenden und mit den am Ort Vorbeigehenden.

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