Theater der Zeit

Auftritt

Theater Freiburg: Wortoper

„Peer Gynt“ von Henrik Ibsen – Regie Yair Sherman, Bühne Roni Toren, Kostüme Polina Adamov, Musik Yehezkel Raz

von Bodo Blitz

Assoziationen: Theaterkritiken Baden-Württemberg Yair Sherman Theater Freiburg

Hartmut Stanke und Thieß Brammer in „Peer Gynt“ in der Regie von Yair Sherman am Theater Freiburg. Foto Britt Schilling
Hartmut Stanke und Thieß Brammer in „Peer Gynt“ in der Regie von Yair Sherman am Theater FreiburgFoto: Britt Schilling

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Die Konstante im Bühnenbild, am rechten Rand: Ein großer Spiegel, ein Mikrofon, ein Stuhl. Die verschiedenen Peers in Yair Shermans opulentem Bühnenspektakel nehmen immer wieder dort Platz, vergewissern sich ihres Spiegelbildes, sprechen mikrofonverstärkt zum Publikum. Eine allegorische Lesart bietet sich an: Ibsens Protagonist ist ein Narzisst, selbstverliebt, mit dem Hang zur großen Geste, vom Applaus des Publikums abhängig. Bevor die Inszenierung beginnt, kündigt ein kleiner Junge den baldigen Anfang der „Show“ – verweist die Formulierung „Show“ doch auf das Moment der bühnenwirksamen Selbstinszenierung.

Der äußere Rahmen von Shermans zweiter Inszenierung am Theater Freiburg wirkt spannend und stimmig. Anstelle eines Hauptdarstellers übernehmen 13 Schauspieler:innen in abwechselnder Reihenfolge immer auch Peer, für das Publikum erkennbar über weiße T-Shirts mit der Aufschrift „Ich bin Peer Gynt“. Postmoderne Vielheit lässt sich in diese Regieidee hineinlesen, oder eben eine multiple Persönlichkeit. Diese Freiburger Peers durchlaufen keine Entwicklung, insofern sie nichts lernen. Als konzeptionelle Annäherung an Ibsens Figur, deren Leben von der Jugend bis zum Tode kritisch beleuchtet wird – eine durchaus radikale Herangehensweise. Peer, so könnte man es formulieren, wird dekonstruiert. An die Stelle des von ihm selbst so sehr gesuchten „Selbst“ treten ganz unterschiedliche Identitäten, erkennbar über die Rollenwechsel der Schauspieler:innen.

Diese wohlintendierte Dekonstruktion setzt sich im Bühnenbild fort. Überdimensionale Buchstaben von Peers Vor- und Nachnamen stehen im ersten Teil der Inszenierung quer im Raum, lassen sich verschieben, bieten dem Ensemble Platz. Die Magie von Roni Torens Bühnenbild beruht nicht zuletzt auf angedeuteten Versatzstücken unterschiedlicher Bühnenorte, deren Rückseite wie in einem Blick hinter die Kulissen nie verschwiegen wird. Erst nach der Pause bilden die Buchstaben eine leuchtende Einheit; Peers Reise in die Welt beginnt in Freiburg tatsächlich als „Show“, was deren märchenhaften Charakter unterstreicht.

Hinzu kommt eine süffige Bühnenmusik (Yehezkel Raz) samt einer Fülle äußerst kreativer Kostüme (Polina Adamov), welche es den Zuschauer:innen erleichtern, der breiten Epik von Ibsens Drama auch emotional zu folgen. Dieser Bühnenzauber, den der israelische Regisseur Yair Sherman bereits bei seiner ersten Freiburger Inszenierung – dem „Wintermärchen“ aus der vergangenen Spielzeit – evozierte, rückt den Abend nahe dran an die Kunstform der Oper. Sherman sei ein „sehr wirkungsbewusster“ Regisseur, so formuliert es Chef- und Produktionsdramaturg Rüdiger Bering treffend.

Doch in den eben beschriebenen Versatzstücken der Inszenierung ertrinkt leider so Einiges. Es wirkt, als sei die Konzentration im Probenprozess auf die Positionen der Figuren im Raum, auf die Licht- und Raumwechsel, auf die phantasiereichen Kostüme, auch auf die Musik größer gewesen als auf den Kern der schauspielerischen Arbeit. Die Rollenwechsel von einem Peer zum anderen tragen ihren Teil zu diesem Eindruck bei. Insbesondere im ersten Teil erfolgen diese Rollenwechsel so schnell, dass die Abgründe Peers und seine biografischen Brüche in den Hintergrund rücken. Gerne wäre ich dem ersten jugendlichen Peer (Thieß Brammer) länger gefolgt, zumindest bis hinein in die Brautentführung. Schnelle Rollenwechsel liefern zwar einen je ganz unterschiedlichen Peer, der sich aber mit den Untaten seines Vorgängers gar nicht explizit auseinandersetzen muss. Es handelt sich ja nun um eine ganz neue Figur. Manches wirkt dadurch stark behauptet, etwa die sexuelle Gewalt, mit der dieser eine Peer (Raban Bieling) seine Ingrid (Cornelia Dörr) nach der Entführung behandelt. Im Vergleich zu diesem Nebeneinander ganz unterschiedlicher Peers zahlt sich Konstanz im Besetzungsprozess aus. So gibt Hartmut Stanke eine wunderbare Mutter Aase, auch deshalb, weil er diese Figur bis zu ihrem Tode allein spielen darf. Der Charakter des Existentiellen, für Ibsens Peer fundamental, wird vor allen in den vielfachen Rollenwechseln im ersten Teil nur angedeutet, aber selten ausgespielt (eine Ausnahme stellt Victor Calero dar). Die größere Konstanz im Wechselspiel der Peer-Besetzungen aus dem zweiten Teil kann dieses Grundproblem der Inszenierung nicht auffangen.

Es ist ein Theaterabend, der mehr Fragen produziert als er es zu beantworten schafft. Warum wird die Solveig-Figur (Josefin Fischer) in einem muslimischen Migrations- und Familienhintergrund eingebettet? Soll das ihre Reinheit betonen, ihren Kontrast zur dekadenten Sauf- und Spaßgemeinschaft des Dorfes Hegstad? Wozu die wiederkehrenden Flugzeuggeräusche, an die sich das Ensemble so stark gewöhnt hat, dass keine Figur darauf reagiert? Weshalb die Koppelung der Todesfigur Knopfgießer an einen kleinen, äußerst unschuldigen Jungen (bei der Premiere Daniel Khechumyan), der die Herzen des Publikums zwar im Sturm erobert, dessen brutales, unnachgiebiges Verhalten in seiner Rolle gerade dadurch aber auf der Strecke bleibt? Der Wechsel der Identitäten, in Ibsens Bild der gehäuteten Zwiebel kongenial gestaltet, er bleibt hinsichtlich dieser Szene auf der Ebene eines T-Shirt-Wechsels rein ausgestellt: von „Ich bin Peer Gynt“ auf dem ersten T-Shirt“, über „Ich bin Peer“ und „Ich bin“ hin zum „Ich“ als Aufdruck des letzten T-Shirts. Dass sich die Freiburger Peers allesamt auf die Suche nach ihrem Selbst machen – es verwundert nicht.

Erschienen am 1.11.2024

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