Bertolt Brecht und die Literaturwissenschaft
von Jost Hermand
Erschienen in: Recherchen 137: Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers – Brecht-Studien (04/2018)
Assoziationen: Wissenschaft Theatergeschichte Dossier: Bertolt Brecht
I
Angesichts der inzwischen ins Uferlose angeschwollenen Brecht-Literatur etwas Sinnvolles zum Thema „Brecht und die Literaturwissenschaft“ zu sagen, ist ein geradezu herkulisches Unterfangen. Um mich dabei nicht auf das rein Aufzählende zu beschränken, was die Kenner notwendig langweilen und die mit diesen Schriften weniger Vertrauten eher abschrecken würde, verfahre ich deshalb im Folgenden – im Hinblick auf die verschiedenen Phasen dieser Forschungsrichtung – lieber argumentativ, indem ich sie vorwiegend auf ihren ideologischen Stellenwert befrage. Ja, nicht nur das. Um dem Ganzen einen gesellschaftspolitischen Fokus zu geben, fasse ich dabei – wohl oder übel – lediglich die innerdeutsche Entwicklung der sich mit Brecht beschäftigenden Sekundärliteratur ins Auge und gehe auf die außerdeutsche Auseinandersetzung mit Brecht nur dort ein, wo sie auf die Forschung in der DDR, der alten BRD und der heutigen sogenannten Berliner Republik eingewirkt hat. Und selbst dabei übergehe ich die geradezu unübersehbare Fülle an journalistischen Beiträgen und Theaterkritiken und erwähne nur das, worin die wichtigsten Literatur- und Theaterwissenschaftler dieser drei Staaten die Bedeutsamkeit von Brecht gesehen haben. Doch im Rahmen eines abrissartigen Vorworts wird selbst das etwas kursorisch ausfallen.
II
Eine spezifisch literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bertolt Brechts OEuvre und seinen darin vertretenen gesellschaftspolitischen Anschauungen begann – nach 15 Jahren einer relativen Nichtbeachtung während des skandinavischen und US-amerikanischen Exils – erst, als Brecht in der Anfangsphase des Kalten Kriegs 1948 im sowjetzonalen Ostberlin Fuß zu fassen versuchte. Wie sehr man dort diese Entscheidung begrüßte, beweist schon ein im Jahr 1949 von Peter Huchel herausgegebenes Sonderheft von Sinn und Form, das ausschließlich seinem Werk gewidmet war. Allerdings verhinderte die zum gleichen Zeitpunkt in der Sowjetischen Besatzungszone beginnende Formalismus-Debatte, in der, wie wir wissen, einige einflussreiche SED-Kulturfunktionäre Brecht Verstöße gegen die alleingültige Doktrin des sozialistischen Realismus vorwarfen, erst einmal ein genaueres Eingehen auf die Grundprinzipien seiner literarischen Schreibweise.
Erst nach dem zwischen 1952 und 1954 einsetzenden Ruhm seines Berliner Ensembles trat daher in der inzwischen gegründeten DDR eine parteipolitische und literaturwissenschaftliche Würdigung seiner Werke ein. Dafür sprechen nicht nur die Gedenkreden, die Walter Ulbricht, Johannes R. Becher, Paul Wandel und Georg Lukács nach Brechts Tod im August 1956 unter dem Motto „Du verließest uns viel zu früh“ an seinem Grabe oder im Berliner Ensemble hielten, sondern auch die ersten über ihn verfassten literaturwissenschaftlichen Studien, allen voran Ernst Schumacher mit seinem Buch Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts 1918–1933 (1955), mit dem er kurz zuvor bei Hans Mayer und Ernst Bloch in Leipzig promoviert hatte. Darauf erschienen in der DDR in schneller Folge weitere Brecht-Studien von Hans-Joachim Bunge, Käthe Rülicke-Weiler und Gerhard Zwerenz sowie das zweite Brecht-Sonderheft von Sinn und Form. In ihnen ging es vor allem darum, die Entwicklung Brechts von seiner anarchistischen Jugendphase zu seinen späteren marxistisch orientierten Positionen herauszustellen. Damit waren die wichtigsten Voraussetzungen für die Entfaltung einer breitgefächerten Brecht-Forschung in der DDR geschaffen, zu deren Hauptvertretern zwischen 1960 und 1965 vor allem Werner Hecht, Hans Kaufmann, Klaus Schuhmann und besonders Werner Mittenzwei gehörten, die sich inzwischen weitgehend aus den Fesseln der Formalismus-Debatte gelöst hatten und neben Brechts marxistischer Grundhaltung auch die Bedeutung seiner Verfremdungstechnik sowie seiner Materialwerttheorie akzentuierten, statt ihm weiterhin auf erpenbeckmessersche Weise den Vorwurf zu machen, sich nicht an die maßstabsetzenden Lehren Konstantin Stanislawskis gehalten zu haben.
III
Wie zu erwarten, vollzog sich in der BRD die politische und literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Brecht während der fünfziger und frühen sechziger Jahre unter völlig anderen ideologischen Vorbedingungen. Hier schwieg man sich, ob nun auf konservativer oder neoliberaler Ebene – aufgrund der herrschenden antikommunistischen Propaganda wellen – über ihn, wie auch über andere linksorientierte Exilautoren, entweder aus oder trat jenen Theaterregisseuren, die es dennoch wagten, einige seiner Stücke zu inszenieren, vor allem in den spannungsreichen Jahren 1953 (17. Juni), 1956 (Ungarnaufstand) und 1961 (Mauerbau), mit massiven Boykottdrohungen entgegen. Und auch die mit der Adenauerschen Restaurationspolitik konformgehende bundesrepublikanische Germanistik, die sich fast ausschließlich mit goethezeitlichen oder romantischen Dichtungen beziehungsweise der biedermeierlichen Literatur der Metternichschen Restaurationsperiode beschäftigte, ging – wegen der faschistischen Vergangenheit vieler ihrer maßgeblichen Vertreter – aus begreiflicher Berührungsangst allen als „politisch“ geltenden Literaturwerken von vornherein aus dem Wege. Dafür nur ein Beispiel: Als ich 1957, nach einem längeren Aufenthalt in Ostberlin, vor Marburger Studenten einen Vortrag über „Bertolt Brecht und das Berliner Ensemble“ hielt, sagte einer der führenden westdeutschen Neugermanisten dieser Jahre anschließend ironisch lächelnd zu mir: „Ja, aber wer ist denn dieser Herr Brecht?“
Was damals in der westdeutschen Germanistik – unter völliger Nichtbeachtung irgendwelcher gesellschaftskritischen Aspekte – als positiv galt, waren weitgehend die sogenannten literarischen Bauformen, aber nicht der ideologische Aussagewert von Dichtungen. Wer sich deshalb in diesem Staat überhaupt literaturwissenschaftlich mit Brecht beschäftigte, stellte daher, wie Franz Herbert Crumbach, Otto Mann oder Jürgen Rühle, Brechts Weltanschauung von vornherein als „verfehlt“ hin oder bezichtigte ihn im Jargon des Kalten Kriegs, lediglich ein literarischer Handlanger jenes „Schinderregimes“ jenseits des Eisernen Vorhangs gewesen zu sein, in dem man jede freiheitlich-individuelle Regung rücksichtslos unterdrückt habe.
Die ersten, die dieser Haltung in der frühen BRD auf germanistischer Seite widersprachen, waren zwischen 1957 und 1959 Reinhold Grimm, Walter Hinck, Marianne Kesting, Volker Klotz und Klaus Völker, die sich in Anlehnung an Peter Szondis Theorien über offene und geschlossene Bauformen des Dramas, wenn auch unter Weglassung aller von Brecht ge forderten Grundprinzipien des dialektischen Materialismus marxistischer Prägung, vornehmlich mit der Herausstellung bestimmter dramaturgischer Techniken, durch Komik erzielter Verfremdungseffekte sowie ähnlich gearteter Themenstellungen beschäftigten, sich also bei ihren Rechtfertigungsstrategien vor allem auf formale Kriterien stützten. Falls dabei überhaupt ideologische Aspekte ins Spiel kamen, wichen Autoren und Autorinnen wie Marianne Kesting zumeist ins Journalistisch-Unverbindliche aus, indem sie Brecht als eine „geheimnisvolle Widerstandsfigur“ charakterisierten,1 der es vornehmlich um die Durchsetzung ihrer Form des Theaters, aber nicht um irgendwelche gesellschaftskritische oder gar weltverändernde Absichten gegangen sei.
IV
Eine Politisierung des Brechtschen OEuvres trat in der BRD erst ein, als in den frühen sechziger Jahren unter westdeutschen Intellektuellen wie Jürgen Habermas, Alexander Mitscherlich, Georg Picht, Hans Werner Richter und Martin Walser – aus Sympathie mit dem gegen die Adenauersche Kalte-Kriegs-Politik auftretenden SPD-Kanzlerkandidaten Willy Brandt – eine Wendung ins Linksliberale einsetzte, was schließlich einen Verleger wie Siegfried Unseld bewegte, 1967 im Suhrkamp Verlag jene zwanzigbändige Taschenbuchausgabe der Gesammelten Werke Brechts herauszubringen, die sich über Nacht als ein durchschlagender Erfolg erwies.2
Danach war plötzlich auch in der neugermanistischen Literaturwissenschaft der BRD – trotz der antagonistischen Haltung mancher älteren Ordinarien – überall von Brecht die Rede, wovon beispielsweise die in diesem Zeitraum veröffentlichten Brecht-Studien von Klaus-Detlef Müller, Henning Rischbieter und Dieter Schmidt zeugen, die neben formalen Aspekten auch auf die ideologischen Grundvoraussetzungen des Brechtschen Schaffens eingingen und dabei selbst die Werke ostdeutscher Brecht-Forscher wie Werner Hecht, Hans Mayer, Werner Mittenzwei und Käthe Rülicke-Weiler, die zwischen 1961 und 1966 erschienen waren, keineswegs unberücksichtigt ließen.
Einen weiteren Anstoß erlebte die westdeutsche Brecht-Forschung selbstverständlich durch jene aufmüpfige 68er-Bewegung, deren studentische Vertreter zum Teil mit der 1968 gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei sympathisierten, eine verschärfte Vergangenheitsbewältigung anstrebten, sich mit der antifaschistischen Exilliteratur auseinandersetzten und dabei Brecht zu einem ihrer politischen Kronzeugen, wenn nicht gar zum wichtigsten Vorbild einer dem sogenannten „Spätkapitalismus“ entgegentretenden ideologischen Haltung erhoben. Das bekannteste Beispiel dafür ist die 1969 an der Kieler Universität angenommene Dissertation von Reiner Steinweg, Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung, die kurz darauf beim Metzler Verlag und dann in der Edition Suhrkamp erschien und vor allem die Rotzeg-Gruppen sowie die Anhänger des Marxistischen Studentenbunds Spartakus zu Revolutionshoffnungen gegen das herrschende „Establishment“ beflügelte.
Doch diese von Brechts Werken angefeuerte Euphorie nahm schnell weit über die außenparlamentarische Gesinnung der westdeutschen Studentenbewegung (APO) gehende Formen an. Überall fanden in der Folgezeit plötzlich Brecht-Kongresse statt, wurden Brecht-Seminare abgehalten, ja einige seiner Stücke sogar in westdeutschen Oberschulen unterrichtet, worauf der Suhrkamp Verlag allein von Brechts Drama Mutter Courage und ihre Kinder fast eine Million Exemplare absetzen konnte.
Ja, der inzwischen von Frankfurt an die University of Wisconsin in Madison berufene Reinhold Grimm gründete im Jahr 1970 mit Ulrich Weisstein, Gisela Bahr, John Fuegi und mir in den USA die Internationale Brecht-Gesellschaft, worauf wir beide ab 1971 erst bei Athenäum und dann bei Suhrkamp das Brecht-Jahrbuch herausgaben. Doch auch sonst schwoll die Brecht-Literatur zu diesem Zeitpunkt so schnell an, dass Grimm in der dritten Auflage seines 1971 bei Metzler erschienenen Materialienbuchs zu Brecht für die inzwischen publizierte Sekundärliteratur, in der Brecht immer stärker als der bedeutendste Dramatiker des 20. Jahrhunderts herausgestellt wurde, bereits dreißig petitgedruckte Seiten benötigte. Doch dieser ins Maßlose ausufernde innerdeutsche Brecht-Enthusiasmus währte, wie die 68er-Bewegung, nur wenige Jahre, da die von manchen ihrer Anführer erhofften „Wirkungen in der Praxis“ ausblieben und ihnen die westdeutsche sozialliberale Koalition zudem nach 1972/73 mit antilinken Radikalenerlassen und Berufsverboten entgegentrat.
Eines der aufschlussreichsten Dokumente der darauf einsetzenden ideologischen Ernüchterung ist jener 1974 von Jan Knopf herausgebrachte Forschungsbericht, den er im Untertitel Fragwürdiges in der Brecht-Forschung nannte und in dem er sich sowohl von den marxistisch-engagierten als auch den bürgerlich-formalistischen Brecht-Interpretationen absetzte, die beide lediglich Symptome „affirmativer Gesellschaften“ seien, die der auf das Prinzip der „Negation“ eingeschworene Brecht zeit seines Lebens abgelehnt habe. Dem hielt Knopf entgegen, sich bei der Interpretation Brechtscher Texte lieber der hegelianischen Dialektik zu bedienen, mit der Brecht ständig auf die „Widersprüche“ innerhalb aller gesellschaftlichen Ordnungen hingewiesen habe.3 Doch davon ließ sich eine Reihe an den gesellschaftlich „eingreifenden“ Tendenzen in Brechts Werken interessierter Theater- oder Literaturwissenschaftler weder in der BRD oder gar in der DDR beirren.
Hierfür sprechen auf westdeutscher Seite vor allem die Schriften von Wolfgang Fritz Haug und seiner Argument-Gruppe sowie im Osten die weiterhin erscheinenden Brecht-Studien von Hans-Joachim Bunge, Werner Hecht, Werner Mittenzwei und Ernst Schumacher, die nach wie vor an ihrem Konzept einer konsequenten antikapitalistischen Haltung des mittleren und späten Brecht festhielten. Die besten Beispiele dafür sind vor allem Mittenzweis Buch Der Realismus-Streit um Brecht. Grundriß der Brecht-Rezeption in der DDR, 1945–1975 (1978) sowie seine 1979 in Ostberlin arrangierte Akademie-Tagung „Avantgarde und Exil“ am Zentralinstitut für Literaturgeschichte, auf der auch die formalen Neuerungen Brechts als durchaus marxistisch herausgestellt wurden.
In der BRD flaute dagegen in den späten siebziger Jahren – im Zuge der einsetzenden Subjektivitätswelle sowie einer mit feministischer Furore gegen Brechts angeblich infame Ausnutzung weiblicher Mitarbeiter argumentierenden Forschungsrichtung – das Interesse an seinen linkskritischen Anschauungen so stark ab, dass sich der Suhrkamp Verlag schließlich gezwungen sah, das Brecht-Jahrbuch im Jahr 1980 einzustellen. Doch davon ließen sich einige weiterhin an solidaritätsstiftenden Konzepten festhaltende Brecht-Forscher keineswegs entmutigen. Vor allem in der DDR hörte man nach wie vor nicht auf, diesen Autor anlässlich der alljährlich stattfindenden Brecht -Tagungen im Brecht-Haus in der Chausseestraße als einen der „ihren“ zu feiern, ja, ihn fast zum Staatsklassiker zu erheben. Eine Änderung in dieser Hinsicht setzte dort erst im Gefolge der Honeckerschen Enttabuisierung des subjektiven Faktors ein, das heißt des steigenden Interesses an „Eigensinn“ und „persönlicher Handschrift“, was selbst Mittenzwei nach seinen fünf vorausgegangenen literaturtheoretischen Büchern über Brecht dazu bewegte, jetzt endlich eine umfassende zweibändige Brecht-Biographie zu schreiben, die 1986 unter dem Titel Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln beim Aufbau Verlag herauskam. In ihr hielt er allerdings weiterhin an seiner Grundüberzeugung fest, die Brüche und Spannungen in Brechts Anschauungen als dialektische Widersprüche hinzustellen, denen stets das Bemühen nach sozialbetonten „Lösungen“ zugrunde gelegen habe.
V
Doch diesem – gesellschaftspolitisch gesehen – wohl bedeutendsten Buch der älteren Brecht-Forschung blieb die in ihm angestrebte Wirkung versagt. Schon drei Jahre später wandte sich die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung gegen eine Weiterführung sozialistischer Hoffnungen. Selbst in der folgenden Kohl-Ära der neunziger Jahre blieb im wiedervereinigten Deutschland die Kalte -Kriegs-Mentalität weiterhin eine der dominierenden Ideologien. Im Bereich der Brecht-Forschung äußerte sich diese Tendenzwende am eklatantesten in John Fuegis Monographie Brecht and Company (1994), die 1997 in deutscher Übersetzung erschien und der sogar die Bild-Zeitung wegen der in diesem Buch vorherrschenden Kommunismuskritik, der angeblich weiberverbrauchenden Lebenshaltung Brechts sowie seiner Geldgier eine überschwängliche Besprechung widmete.
Zu ähnlichen Verunglimpfungen Brechts kam es im Jahr 1998 anlässlich seines hundertsten Geburtstags, als er in vielen systemkonformen Zeitungen der BRD als ein mit der DDR untergegangener Autor abgekanzelt wurde, dessen banale Sentenzen „man endlich satt“ habe.4 Doch so leicht ließ sich Brecht, der letztlich bedeutendste Dramatiker des 20. Jahrhunderts, nicht einfach beerdigen. Bei anderen ehemals linken Autoren, ob nun Peter Weiss, Friedrich Wolf oder Arnold Zweig, wirkten sich solche Attacken geradezu tödlich aus. Nicht so bei Brecht. Er blieb trotz alledem, und zwar durch die Aktivitäten der Brecht-Gesellschaft, das neue Brecht-Jahrbuch, seine weltweite Wirkung sowie auch durch viele seiner in Deutschland aufgeführten Stücke weiterhin am Leben.
Schließlich haben die Krisen des von ihm attackierten sogenannten „Spätkapitalismus“ keineswegs aufgehört. Manche von Brechts Anschauungen, ob nun die beißende Kritik an der marktwirtschaftlichen Wettbewerbsgesellschaft in Die heilige Johanna der Schlachthöfe oder die ebenso gnadenlose Satire auf die kapitalistische Freizeitwelt in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, warten auch heute noch auf Geschichte, wie Ernst Schumacher bereits kurz nach der Jahrhundertwende in der Berliner Zeitung schrieb.5 Und so sind trotz der allgewaltigen „Theodizee des Kapitalismus“, wie Joseph Vogl unsere heutige Gesellschaft jüngst charakterisierte,6 die sich zu Brecht bekennenden Stimmen keineswegs verstummt. So konnte etwa die 1988 begonnene Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe seiner Werke bis zum Jahr 2000 abgeschlossen werden und auch das neu konzipierte Brecht-Handbuch in fünf Bänden (2001–2003), das erstmals zweibändig in den achtziger Jahren erschienen war, blieb nicht unbeachtet.
Ja, die Bremer Germanistin Wendula Dahle brachte im Jahr 2007 sogar ein Buch unter dem Titel Die Geschäfte mit dem armen B. B. Vom geschmähten Kommunisten zum Dichter „deutscher Spitzenklasse“ heraus, in dem sie sich scharf dagegen verwahrte, Brecht lediglich als einen zwar bedeutenden, aber veralteten literarischen Klassiker zu betrachten, und dafür aussprach, ihn – angesichts der heutigen Weltlage – als einen auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse drängenden Autor zu würdigen. Und das sollten nicht nur die Gesellschaftswissenschaftler, sondern auch all jene Neugermanisten beherzigen, die sich weiterhin mit Brecht beschäftigen und ihre Ansichten auch über die engen Grenzen ihrer Zunft zu verbreiten suchen, statt sich lediglich in den Dienst des gegenwärtigen Infotainments zu stellen oder nur irrelevante, lediglich ihrer Karriere dienliche Bücher zu schreiben.7
1 Kesting, Marianne: Bertolt Brecht, Reinbek 1959, S. 150.
2 Vgl. Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Elisabeth Hauptmann, Frankfurt a. M. 1967. Ebenfalls 1967 erschien die Dünndruckausgabe Gesammelte Werke in acht Bänden, nach der im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, zitiert wird.
3 Knopf, Jan: Bertolt Brecht. Ein kritischer Forschungsbericht. Fragwürdiges in der Brecht-Forschung. Frankfurt a. M. 1974, S. 12.
4 Vgl. die diesbezüglichen Statements in: Die Zeit, 5. Februar 1998.
5 Vgl. Schumacher, Ernst: „Die Maulwürfe des ruhelosen b. b. Das Scheitern des Staatssozialismus hat Brecht widerlegt, der Sieg des Kapitalismus bestätigt ihn neu“, in: Berliner Zeitung, 4. Januar 2002, S. 6.
6 Vgl. Vogl, Joseph: Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2011.
7 Leicht veränderte Version meines Kurzreferats in der Sektion „The Brechtian Turn“ auf der 40. Tagung der German Studies Association in San Diego, 1. Oktober 2016.