Theater der Zeit

Auftritt

Essen: Homer ist, wenn man trotzdem lacht

Grillo Theater: „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ von Elfriede Jelinek. Regie Hermann Schmidt-Rahmer, Bühne Thilo Reuther, Kostüme Michael Sieberock-Serafimowitsch

von Stefan Keim

Erschienen in: Theater der Zeit: Barbara Mundel – Stürzende Gegenwart (12/2022)

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Schauspiel Essen

Einfallschneisen ins eigene Denken: „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ von Elfriede Jelinek in der Regie von Hermann Schmidt-Rahmer am Essener Grillo Theater.
Einfallschneisen ins eigene Denken: „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ von Elfriede Jelinek in der Regie von Hermann Schmidt-Rahmer am Essener Grillo Theater.Foto: Martin Kaufhold

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Kitzloch – die Bar an der Pardatschgratbahn in Ischgl ist zum Symbol für besinnungsloses Proletenfeiern geworden. Für die einen ein Höllenschlund aus Bier und Dummheit, für die anderen ein Sehnsuchtsort, um vielleicht nicht die Seele baumeln, aber den Körper taumeln zu lassen. Hier begann wohl Covid-19 seine erfolgreiche Europatournee, samt allen Coverversionen oder Mutationen, wie die Virologie sie nennt. Hermann Schmidt-Rahmer hat für seine Essener Inszenierung von „Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen!“ die Kitzlochbar in Teilen nachgebaut. Außerdem zeigt er Originalfotografien von den Feierorgien mit Plastiksexpuppen und Flüssigkeiten aller Art.

Diese Wollust der Widerlichkeit war eine Inspiration für Elfriede Jelinek. Sie verknüpft die gewohnt boshafte Beschreibung der après-wintersportlichen Exzesse mit Parolen der Verschwörungsschwurbler, denen es irgendwie gelungen ist, den eigentlich schönen Begriff des Querdenkens zu kapern. Damit die Verfluchung der Dummheit nicht zu eindimensional wird, gibt es als Parallelassoziation – von Handlung mag man bei Jelinek nicht sprechen – den zehnten Gesang aus Homers „Odyssee“. Darin verwandelt die Zauberin Kirke die Gefährten des Odysseus in Schweine.

Mit Schweinemasken auf dem Kopf und Skiern an den Füßen hat das Essener Ensemble einige Spielerschwernis zu bewältigen. Das gelingt mit einer dieser energetischen Dauerexplosionen, die typisch sind für Inszenierungen Hermann Schmidt-Rahmers. Wie auch Karin Beier in ihrer Uraufführungsinszenierung am Hamburger Schauspielhaus setzen die Essener auf Slapstick und wilde Bilderfantasie. Jelineks Text ist nicht ihr stärkster, man spürt, dass die offensichtlich bekloppten Impfdiktatur-Idioten keine ernst zu nehmenden Gegner für sie sind.

Doch Hermann Schmidt-Rahmer begnügt sich nicht mit der Selbstbestätigung durch den Ekel-Boulevard. Er vermengt Jelineks Stück mit anderen Quellen und findet Momente an der Grenze zur Vernunft. Da bekennt sich Moritz Tostmann – das Ensemble verwendet die eigenen Namen – dazu, an einem Ischgl-Partyurlaub Spaß zu haben. Und? Ende der Toleranz? Oder Silvia Weiskopf bittet mit leiser Stimme das Publikum, die Handys auszuschalten. Oder zumindest auf Flugmodus zu stellen. Sie habe Angst vor der Strahlung. Hat man auch schon mal im Bekanntenkreis gehört.

Als Kontrast zu diesen ruhigen Momenten gibt es eine heftige Splatterszene, in der Alexey Ekimov den ihm von Bill Gates eingepflanzten Chip aus dem Hirn entfernt bekommt. Plötzlich spricht er russisch. Stefan Diekmann spielt ein gnadenloses Solo direkt ins Publikum, in dem er zwischen Wahnsinn und verführerischem Charme oszilliert. Jan Pröhl verkörpert mit antik-griechischer Haartracht über dem Skianzug einen wuchtigen Odysseus, während Ines Krug als Kirke eine Mischung aus lasziver Kneipenwirtin und zynischer Zauberin zeigt. Ein tolles, spielwütiges Ensemble.

Und die Wahrheit? Die wird auch gefunden. Man muss nur auf einen Knopf drücken, dann erscheint ein Schemen und faselt esoterischen Quatsch. Alle hören zu. Dann sagt Odysseus in schönsten Ruhrdeutsch: „Mamma nomma.“ Doch auch beim zweiten Durchgang vermittelt die Projektion keine Erkenntnis. „Blindes Sehen. Blinde sehen!“ – der Titel weist auf die Tradition der blinden Seher in der antiken Tragödie hin. Sie sagen die Katastrophe voraus und können sie nicht verhindern. Heute gibt es ganz viele Seher, die nur Lärm verbreiten, eine multimediale Kakophonie, die das Denken verwüstet. Die besten Momente in Hermann Schmidt-Rahmers Inszenierung zeigen, dass es Einfallschneisen ins eigene Denken gibt, Details, die einem fast vernünftig vorkommen, die einen anlocken könnten, mehr zu glauben. Es ist nicht immer offensichtlich, wann sich jemand in ein Schwein verwandeln lässt. //

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