Theater der Zeit

Sleep no more von Punchdrunk

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

Assoziationen: Nordamerika Punchdrunk

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Wie Alma existiert auch Punchdrunks populäre Produktion Sleep no more bereits seit fast zwei Dekaden. Felix Barrett85 gründete Punchdrunk 2000 in London. Sleep no more feierte ebendort im Dezember 2003 Premiere. Aufgrund des immensen Erfolgs zeigte Punchdrunk die Produktion 2009/10 in Kooperation mit dem American Repertory Theater (A.R.T.) auch in Brookline, Massachusetts, ab 2011 in New York und seit 2017 zusätzlich in Shanghai. Zu Punchdrunk gehören seit 2003 u. a. die Choreografin Maxine Doyle, die Produzenten Peter Higgin und Colin Nightingale, der Tondesigner Stephen Dobbie und die Kostümdesignerin Livi Vaughan. Der Name der Theaterkompagnie verweist metaphorisch auf den Eindruck, den Punchdrunk-Arbeiten beim Zuschauenden hinterlassen sollen: als wäre man – wie nach einem Schlag ins Gesicht – durch den Aufführungsbesuch in einen temporären, Delirium ähnlichen Zustand des Schwindels versetzt (vgl. Barrett/Poupart, 2017).

Am Beginn der Entwicklung von Sleep no more stand die Idee einer Installation, die zentrale Motive aus Shakespeares Tragödie Macbeth in eine Film-noir-Ästhetik überträgt (vgl. Barrett/White, 2015). Im Gegensatz zu ersten Punchdrunk-Arbeiten entschloss man sich, während des Probenprozesses weitgehend ohne Wortsprache zu arbeiten und Tänzer*innen zum Einsatz kommen zu lassen (vgl. Barrett zitiert nach Machon, 2019, S. 254). Maxine Doyle erarbeitete mit diesen eine Körper- und Bewegungssprache, die auf der modernen Tanztechnik Rudolf von Labans basiert und vor allem die Beziehungsqualitäten von Tänzer*innen-Bewegungen zueinander, zum Raum wie zu anderen Gegenständen und Menschen fokussiert. Konflikte zwischen Figuren aus dem Macbeth-Stoff wurden während der Proben über intensive Kontaktimprovisationen in Körpersprache verdichtet und für die Aufführungen festgelegt (vgl. Machon, 2019, S. 74f. und Ritter, 2016, S. 53ff.).

Inhaltlich wurden zentrale Motive aus Macbeth wie Prophezeiungen durch Hexen, Alpträume und Mord mit Motiven wie Halluzination und Spuk aus Hitchcocks Film-noir- und Kriminalfilm-Klassiker Rebecca (1940) kombiniert und assoziativ um Aspekte der Geschichte der Hexenprozesse im schottischen Paisley von 1697 erweitert. Figuren aus Macbeth oder Rebecca wurden um fiktionale, biografische Details ergänzt und lose in einem gemeinsamen Narrativ verknüpft. Die Tänzer*innen agieren in einer Loop-Struktur, die dreimal pro Aufführung wiederholt und maßgeblich von einem äußerst komplexen Soundscape strukturiert wird (siehe dazu Kap. 4.2).

Zuschauer*innen der Aufführung tragen weiße Masken und können sich durch die verschiedenen, detailreich ausgestatteten Räume frei bewegen, können wie bei Alma entscheiden, welcher Figur sie wie lange folgen wollen, wissend, dass zahlreiche Szenen parallel gespielt bzw. getanzt werden, es also immer etwas zu verpassen gibt. Auch Mankers Konzept vom »Zuschauer als Kamera« findet sich bei Barrett wieder, wird bei Letzterem allerdings an die Funktion der Maske, die jede*r Zuschauer*in während der Aufführung tragen muss, geknüpft:

The mask is the most crucial part in a way. It gives you anonymity, you can’t be recognised by the performers, a clear division is established between audience and performers yet you’re allowed to get as close as you want. It allows you to probe further then you would do. The mask allows you to function as a voyeur, as a camera because you’re more aware of where you’re looking […]. Other audience members don’t necessarily inform your experience, don’t affect it, because they become part of the space. They’re ghosts, you can forget about them (Barrett/Machon, 2007, Hervorhebung TS).86

Das geisterhafte Flanieren vereinzelter maskierter Zuschauer*innen, die Unübersichtlichkeit der schier zahllosen Räume, die düster-auf-geheizten Film-noir-Soundtracks, Ausstattungselemente wie ausgestopfte Tiere, Kruzifixe oder Briefe mit Blutspuren und auch das dunkle Labyrinth, durch das jede*r Zuschauer*in zu Beginn der Aufführung einzeln hindurch muss – all dies führt dazu, dass viele Kritiker*innen und Theaterwissenschaftler*innen die Aufführung mit einem (Alp-)Traum oder populären Haunted Houses, wie man sie von Freizeit- und Themenparks kennt, verglichen haben (vgl. u. a. Grunfeld, 2012, S. 3; Oxblood, 2012, S. 1; Bartley, 2012, S. 7). Die thematische Ruhelosigkeit der Protagonist*innen findet in der Ruhelosigkeit der zuvorderst desorientierten Publikumsschwärme ihr formales wie wirkungsästhetisches Pendant. »Methought I heard a voice cry ›Sleep no more! / Macbeth does murder sleep‹« so lauten die entsprechenden, der Aufführung ihren Titel gebenden Verse aus Macbeth (2. Akt, 2. Szene, zitiert nach Koumarianos/Silver, 2013, S. 174).

Die ästhetische Dimension des Schauerlichen und Unheimlichen kommt am New Yorker Spielort von Sleep no more sicherlich am stärksten zur Geltung. Nachdem die Produktion auf Initiative des A.R.T. 2009/10 erfolgreich in Massachusetts gastierte, entstand die Idee, Sleep no more auch dem New Yorker Publikum zugänglich zu machen. Hierfür konnte ein leerstehendes Kaufhaus in der 27th Street in Manhattan als Spielort gefunden werden. Ende der neunziger Jahre war das Gebäude Teil der legendären Club Row, einem Rotlicht- und Ausgehviertel, und beheimatete bereits einen Nachtclub. Dieser musste 2005 schließen, als ein 35-jähriger Gast mit einem Türsteher aneinandergeriet und im Streit gegen die Tür des Fahrstuhls gestoßen wurde, die sich daraufhin öffnete und den Mann in die Tiefe riss (vgl. O’Leary, 2013, S. 73f.). Dieses Ereignis lieferte dem Gebäude für Sleep no more gleichsam die tragische site sympathy87, auf die es Barrett (wie auch schon Manker) bei seinen Spielorten stets ankommt.

Das Gebäude in der 27th Street erklärte Punchdrunk mit Referenz auf den Hitchcock-Film Vertigo (1958) zum fiktiven McKittrick Hotel und erweiterte Sleep no more damit gegenüber der Premierenfassung um eine weitere Handlungsebene mit neuen Assoziations- und Referenzketten:

Completed in 1939, The McKittrick Hotel was intended to be New York City’s finest and most decadent luxury hotel of its time. Six weeks before opening, and two days after the outbreak of World War II, the legendary hotel was condemned and left locked, permanently sealed from the public. Until now …88

Das McKittrick Hotel fungiert so als neue Rahmung des Aufführungsbesuchs: Publikumsmitglieder werden zu Beginn zunächst als Hotelgäste fiktionalisiert und in der Manderlay Bar, der ersten Station des Aufführungsparcours, deren Namen erneut eine Hitchcock-Referenz auf das Anwesen in Rebecca ist, qua Ausstattung und Klangwelt gleichsam auf eine fiktive Zeitreise in die dreißiger und vierziger Jahre geschickt. Von dort aus beginnt das Publikum, das in New York aus ca. 400 Zuschauer*innen pro Aufführung besteht, die Erkundung des sechsstöckigen Gebäudes.

Ganz oben befinden sich das fiktive King James Sanatorium, das motivisch sowohl auf den Wahnsinn von Lady Macbeth als auch namentlich auf den Autor der dreiteiligen Deamonologie (1597) verweist, auf dessen Bücher zu Magie und Hexerei Shakespeare für seinen Macbeth Bezug genommen haben soll (vgl. hierzu auch Dailey, 2012, S. 3ff.). Zudem befindet sich auf dieser Etage ein Labyrinth aus Sträuchern sowie eine kleine Hütte. Darunter, im vierten Stock, ist die fiktive Stadt Gallow Green aufgebaut. Hier findet man eine Schneiderei (M Fulton Tailors), einen Süßwarenladen (Paisley Sweets), ein Detektivbüro (Mac Crinain) sowie ein Geschäft für Tierpräparationen (Bargarran) und eine Apotheke. Alle Namen beziehen sich auf historische Personen im Kontext der Hexenprozesse von Paisley Ende des 17. Jahrhunderts. Von den sieben Angeklagten wurden sechs am Gallow Green, einem Hinrichtungsort im schottischen Paisley, erdrosselt. Auf dieser Etage befindet sich eine Nachbildung der Manderlay Bar. Die dritte Etage widmet sich primär Figuren aus dem Macbeth-Universum. Hier gibt es neben einem Friedhof vor allem die Wohnung der MacDuffs sowie Macbeths Schlafzimmer. Im zweiten Stock befinden wir uns im McKittrick Hotel, in dem neben der Manderlay Bar auch eine große Rezeption, ein Speiseraum, Büros und Aufenthaltsräume zu finden sind. Eine Etage tiefer ist Duncans Appartement. Duncan ist im Shakespeare-Stück der König Schottlands, den Macbeth, der Prophezeiung der Hexen folgend, tötet, um sich damit auf den Thron zu bringen. Im Erdgeschoss befindet sich ein Ballsaal, Ort der finalen Bankett-Szene.89

Zu Punchdrunk gibt es im Vergleich zu meinen anderen drei Beispielen mit Abstand die meiste Forschung. Josephine Machon und Gareth White waren in Großbritannien die ersten Theaterwissenschaftler*innen, die sich theoretisch mit Produktionen wie Sleep no more oder The Drowned Man (2013) beschäftigten (vgl. u. a. Machon, 2007; White, 2009). Es folgten zwischen 2012 und 2014 vor allem Studien aus der Literaturwissenschaft, die sich dem Punchdrunkschen Labyrinth aus Referenzen hermeneutisch annahmen (vgl. u. a. Worthen, 2012; O’Leary, 2013), dann theaterwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Punchdrunks Fangemeinden (vgl. u. a. Flaherty, 2014; Biggin, 2015; Ritter, 2017) sowie Strategien und Kritik der Zuschauer*innen-Partizipation (vgl. u. a. Alston, 2013; Papaioannou, 2014; Drees, 2016). Zuletzt wurden die Arbeiten vor allem unter ästhetischen Gesichtspunkten von Game und Tanz untersucht (vgl. u. a. Kilch, 2016; Thiel, 2017; Ritter, 2017). Mit Immersive Theatre and Audience Experience. Space, Game and Story in the Work of Punchdrunk (2017) und Immersion and Participation in Punchdrunks Theatrical Worlds (2020) legten Rose Biggin und Carina E. I. Westling die ersten Monografien zu Punchdrunk vor. 2019 publizierte Josephine Machon mit The Punchdrunk Encyclopaedia sogar ein Lexikon, das Einträge zu Punchdrunk-Mitgliedern, Inszenierungen sowie dominanten ästhetischen Strategien mit kurzen Interviews kombiniert.

Ähnlich wie bei Alma und bei SIGNA-Arbeiten haben auch Punchdrunk-Produktionen über die Jahre eine große Menge an Fans generiert, die nicht nur vermehrt die Aufführungen besuchen, sondern auch diverse Fan-Blogs führen, auf denen sie sich über erlebte One-on-Ones, neue Interpretationsansätze oder intensive Erinnerungen austauschen.90

85 Felix Barrett studierte Drama/Schauspiel an der Universität Exeter in Südengland und schloss 2000 mit einer Woyzeck-Inszenierung seinen Bachelor of Arts ab. Das Büchnersche Dramenfragment über das Schicksal des Soldaten Woyzeck, der in einem Anfall aus Eifersucht und Wahn seine Geliebte Marie umbringt, wurde von Barrett auf dem Gelände einer alten Kaserne in Exeter inszeniert, vgl. Machon, 2019, S. 109f. Das Publikum trug Masken und konnte sich frei über das dunkle, lediglich mit Kerzen beleuchtete Areal bewegen. In dieser Produktion legte Barrett den formalen Grundstein für das, was die ersten großen Punchdrunk-Produktionen auszeichnete: Dunkelheit, Spielen im Loop-Prinzip, Masken für das mobilisierte Publikum sowie site-sympathy.

86 Seit Woyzeck haben sich die Masken für das Publikum mehrfach hinsichtlich ihres Materials, ihrer Größe und ihres Aussehens verändert. Während sie am Anfang noch neutral weiß waren und ihnen Atemfreiräume für Nase und Mund fehlten, kam 2008 für The Masque of The Red Death jener achte Entwurf auf, welcher der venezianischen »Bauta«-Maske nachempfunden ist, vgl. Machon, 2019, S. 178ff. Die Masken dürfen von Zuschauer*innen nach den Aufführungen mit nach Hause genommen werden. Dass Anonymität und Voyeurismus im Falle von Sleep no more auch häufig von Zuschauer*innen ausgenutzt werden und zu Übergriffigkeiten führen, ist bei Soloski, 2018 nachzulesen. Zu weiteren Interpretationen der Masken siehe Zaiontz, 2014, insbesondere S. 413, und White, 2009, S. 228f.

87 Das Konzept der site-sympathy greift für alle hier in Rede stehenden Beispiele immersiven Theaters und wird von Barrett wie folgt definiert: »Site-specific […] was about having to fit the work to the building and its history. If it was a former tyre factory, then it would need to be about that, to present the literal echoes of that building. Site-sympathetic is an impressionistic response; drawing on similar impulses but creating a dream world within the space rather than a practical, literal retelling of the building«, Barrett zitiert nach Machon, 2019, S. 251.

88 https://mckittrickhotel.com/about/, letzter Zugriff 2.4.2020. Für Sleep no more in Shanghai haben Barrett und sein Team im Rahmen von »Punchdrunk International« analog zum McKittrick Hotel das fiktive McKinnon Hotel entworfen. Motivketten aus Macbeth wurden zum Teil durch neue Motive aus bekannten chinesischen Volksmärchen ergänzt oder ersetzt, vgl. Barrett/Poupart, 2017.

89 Ich habe die Etagenaufteilung auf der Grundlage meines Besuchs von Sleep no more in New York am 3.5.2017 im Anschluss an die Aufführung im Rahmen meines Erinnerungsprotokolls erstellt. Sie entspricht derjenigen, die auch Worthen und O’Leary in ihren Aufsätzen erinnern, vgl. Worthen, 2012, S. 80f. und O’Leary, 2013, S. 79.

90 Die bekanntesten und umfangreichsten Weblogs sind: Scorched the Snake und Blood Will Have Blood, They Say. Darüber hinaus gibt es noch mindestens zwölf weitere, vgl. dazu u. a. Ritter, 2017. Von der Theaterwissenschaftlerin und Multimedia-Künstlerin Erin Morgenstern gibt es sogar eine Erzählung, Der Nachtzirkus (2011), die Morgensterns Aufführungsbesuche von Sleep no more im Modus der Literatur verarbeitet, vgl. dazu auch Flaherty, 2014.

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