Auftritt
Stadttheater Gießen: Coming of Age, ein Leben lang
„Mais in Deutschland & anderen Galaxien“ von Olivia Wenzel – Regie Yatri Niehaus, Bühne Johanna Senger, Kostüme Elfee Duquette
Assoziationen: Hessen Theaterkritiken Olivia Wenzel Stadttheater Gießen

Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Wer sie ist? Wer er ist? Und was glaubst du, was sie glaubt, wer du bist? Oder er? Oder sie? Die Fragen, die in einem rasanten Pingpong auf der Bühne hin und her fliegen, immer verwinkelter werden und schließlich auch das Publikum einschließen, sind die ganz großen. Die existenziellen. Um nicht weniger als um den Platz in der Welt geht es, der eigenen und der der anderen, um Identität.
„Mais in Deutschland & anderen Galaxien“ von Olivia Wenzel erzählt die Geschichte von Noah, dem Sohn einer wenig bürgerlichen DDR-Bürgerin und eines angolanischen „Vertragsarbeiters“, wie die allein als Arbeitskraft willkommenen Migrant:innen aus sozialistischen Bruderstaaten in der DDR genannt wurden. Geboren hat ihn Susanne nur, weil er ihr Ticket zur Ausreise sein sollte: Familienzusammenführung im Ausland als letzte Hoffnung, dem realexistierenden Alltag zu entkommen, nach einem gescheiterten Suizidversuch und der innerlichen Republikflucht in Alkohol und Punkbewegung. Als der Plan nicht aufgeht, steht die Mutter mit einem Sohn da, den sie nie wollte. Und der Sohn mit einem Leben, in dem er sich nie wirklich zurechtfinden wird.
„Vielleicht wäre es besser, wenn es geklappt hätte“, sagt Noah irgendwann zu Susanne. „Unsere Ausreise?“, fragt sie zurück. „Dein Suizid“, antwortet Noah. So ist hier der Ton – die Kälte, die Ratlosigkeit.
Entstanden ist Olivia Wenzels Stück mit dem etwas sperrigen Titel bereits 2015 in der „postmigrantischen Literaturwerkstatt“ von Maxim-Gorki-Theater und Ballhaus Naunynstraße in Berlin. Gespielt wurde es, soweit ersichtlich und das Internet nicht ausnahmsweise mal etwas vergessen hat, seit der damaligen Uraufführung jedoch nie wieder. Bis jetzt: Am Stadttheater Gießen hat Yatri Niehaus „Mais in Deutschland & anderen Galaxien“ im kleinen Haus inszeniert. Es ist die zweite Bühnenarbeit des Filmregisseurs, der erst vor einem halben Jahr in Berlin sein Theaterdebüt gefeiert hatte, mit der Uraufführung seines eigenen Werks „Abdruckkörper“, auch dies hervorgegangen aus einer Textwerkstatt für postmigrantisches Theater am Ballhaus Naunynstraße.
Menschen und Erfahrungen jenseits der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft sichtbar zu machen, darum geht es Wenzel ebenso wie Niehaus. Doch nichts Plakatives hat das. So sehr das Gießener Theater recht hat, wenn es im Programmheft auf die mörderische Gefahr des Rechtsextremismus verweist, heute wie zur Zeit von Noahs Aufwachsen in den „Baseballschlägerjahren“ der Nachwendezeit: Wenn Noah auf der Bühne von seinem Leben erzählt, dann sind Rassismus und rechte Gewalt nicht das beherrschende Thema, sondern eher so etwas wie das hässliche Grundrauschen. Und das Ringen um Identität hat weniger mit den identitätspolitischen Debatten unserer Tage zu tun als mit Coming of Age, aber lebenslang.
Amina Eisner – auch sie übrigens Teilnehmerin der Textwerkstatt in Berlin – spielt Noah als distanzierten Beobachter des eigenen Lebens. Ihr Noah hat etwas von einem Buchhalter, wenn er, ein Klemmbrett in der Hand, Szenen seiner Kindheit und Jugend heraufbeschwört. Doch eigentlich bilanziert er nicht, sondern er zeichnet: einen Comic über sich und sein Verhältnis zur Mutter, bei dem die Grenzen zwischen Erinnerung und Fantasie zunehmend verschwimmen. Bis hin zu Auftritten eines riesigen Hundes namens Pozzo (in dieser und weiteren Nebenrollen sehr komödiantisch: Nils Eric Müller) und des vor Energie und nutzlosem Wissen sprühenden Deus-ex-machina-Wesens Lila (durchgeknallt und elfenhaft: Nina Plagens). Susanne, die missgelaunte Mutter (ruppig: Anne-Elise Minetti), die von ihrem Sohn schließlich sogar ganz buchstäblich auf den Mond geschossen wird, kann all dem nur hilflos entgegensetzen, was ihr eigenes Leben an Papier hinterlassen hat: Briefe, Tagebücher, ihre Stasiakte.
Aus braunen Designerwürfeln, die Johanna Senger rund um die weiße Spielfläche verteilt hat, quellen diese Papierstapel. Ansonsten ist die von ihr gestaltete Bühne weitgehend leer, bis auf durchscheinende weiße Gardinen, die sich zu Zimmerwänden zusammenziehen lassen, und einen Lamellenvorhang, der den Blick frei gibt auf eine Tapete mit Maiskolbenmuster – neben dem Popcorn, das Lila mit Begeisterung herstellt und verspeist, eine der wenigen Anspielungen auf den kryptischen Stücktitel. Dazu flimmern immer wieder Zeichnungen über die Wände ringsum: Produkte einer künstlichen Intelligenz, die mit Sätzen von Olivia Wenzel gefüttert wurde.
Mithin: Es sind viele Ideen unterwegs, viele gute Absichten, viele kreative Gedanken. Dennoch stellt sich gelegentlich das Gefühl ein, dass etwas fehlt. Dass das, was da zu sehen ist, zu kühl, zu aseptisch gerät. Dass die Figuren seltsam unkonturiert bleiben, trotz allem. Das mag eine Schwierigkeit des Stücks sein, dem eine gewisse Verkopftheit nicht abgesprochen werden kann. Doch leider traut sich die Inszenierung nicht immer, das mit der nötigen Portion Verspieltheit zu kontern. Oder um es als Imperativ zu formulieren: Mehr Comic wagen!
Erschienen am 3.1.2023