Theater der Zeit

Theater und Moral

Wessen Moral?

Über Produktion, Parteilichkeit und Proletariat

von Luise Meier

Erschienen in: Theater der Zeit: Die Spieler – Das Schauspielhaus Bochum (06/2020)

Assoziationen: Wissenschaft

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Aus linker und zudem marxistischer Sicht erscheint Moral verdächtig. Sie hat zunächst nichts mit den materiellen Bedingungen zu tun, um die es bei der wirklichen Veränderung der Welt gehen soll. Wo bleibt denn da die Basis? Moral ist nur Überbau, also Luftschloss. Aus einer ebenfalls linken Sicht ist aber das ­Moralische nicht einfach disqualifiziert. Die kritische Perspektive kann auf Moral nicht verzichten. Denn es gibt kein Jenseits der Moral, wie es keine Unabhängigkeit von der Eingebundenheit in den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang geben kann. Moral ist von den jeweiligen historischen Bedingungen und dem jeweiligen Standpunkt innerhalb der Gesellschaft abhängig. Auch die jeweilige Gegenmoral ist moralisch.

Es gibt keine universelle Moral. Es gibt Moral, die dem jeweiligen Standpunkt nützt, die einen bestimmten gesellschaft­lichen Zustand stützt oder eben nicht. Die bürgerliche Leistungsmoral nützt der Hartz-IV-Empfängerin nichts, wohl aber dem Kapitalismus. Selbst diejenigen, die Jobs haben, können durch die Drohung der Arbeitslosigkeit kleingehalten werden. Konkurrenz und Scham verhindern Solidarisierung – alles bleibt beim Alten. Auch die philanthropische Moral nützt denjenigen wenig, die ihr Objekt sind. Statt einen Diskurs über Umver­teilung zu führen, werden sie mit symbolisch aufgeladenen ­Kuchenkrümeln „beschenkt“, für die sie dann aufrichtige Dankbarkeit zu zeigen oder das Gastrecht ihrer Gönnerinnen nicht zu missbrauchen haben.

Produktion

Theater könnte fragen, welche Wirkung eine Moral für wen ent­faltet und wem sie nützt und wem nicht. Es kann die bürgerliche Moral mit ihren inneren Widersprüchen konfrontieren und deren historische Bedingtheit erforschen. Oder es kann als Laboratorium sozialer Fantasie mit neuen Vorschlägen oder „Zukunfts­moral“, wie Friedrich Engels es nannte, experimentieren. Es gibt aber nicht nur einen mehr oder weniger bewussten Umgang mit den Fragen der Moral auf der Bühne und im Text, sondern es gibt auch eine mehr oder weniger bewusste moralische Praxis in der Produktion der Stücke selbst. So entstehen kritische Stücke, deren Produktions­bedingungen jedoch nahtlos an bürgerliche Moralprinzipien anschließen. Wenn es aber unmöglich ist, sich aus der bürgerlichen Moral herauszunehmen, dann geht es darum, mitten in ihr stehend Kritik zu üben und sich dadurch praktisch in neue moralische Prinzipien zu verstricken, wodurch die alten geschwächt werden.

Eins gilt es festzuhalten: Die Kritik an moralischem Denken und Handeln kann keine Kritik der Moral als solcher sein, weil es keine Entscheidung für ein Außerhalb geben kann, sondern nur die Frage nach der richtigen, nützlichen Moral aus einer bestimmten Perspektive. Es geht nicht darum, Moral zu bejahen oder zu verneinen, gut oder schlecht zu finden, sondern zu fragen: Wessen Moral, welche Moral, zu welcher Zeit, an welchem Ort, mit welchem Ziel, mit welchem Effekt? Sie muss situiert werden. Das muss auch in die konkreten moralisch legitimierten Handlungen hinein verlängert werden. Unterwäsche mit feministischen Botschaften zu produzieren, wenn im Produktionsprozess Frauen ausgebeutet werden, ist ein offensichtlicher Widerspruch, sofern die Produktionsbedingungen in die Bewertung des Produkts hineingenommen werden. Nicht nur die Moral, die die Handlung ­legitimiert, ist historisch gewachsen, sondern die konkrete moralische Handlung hat selbst ihre Geschichte, ihre Möglichkeits­bedingungen. Wenn Millionen für philanthropische Aktionen ausgegeben werden, wie sieht die Geschichte dieser Millionen aus, wie sind die Milliarden entstanden, von denen die gespen­deten Millionen nur ein kleiner Teil sind, und wie geht die Geschichte weiter, was sind die Effekte, welche Milliarden lassen sich un­behelligt erwirtschaften, weil hier und da eine Million in Philan­thropie investiert wurde?

Man kann es für die aufklärerische Aufgabe von Theater halten, auf der Bühne zu sezieren, zu situieren, zu kritisieren. ­Jedoch würde dann die Frage nach der Kontextualisierung des Theaters selbst aus dem Blickfeld geraten. Auch im Theater, auch das ­Theater wird produziert, und die Auseinandersetzung mit den Produktionsbedingungen gehört zur Kritik des Produkts. Theatermacherinnen und ihre Institutionen sind Produkte, die Produkte hervorbringen, und die Produktionsbedingungen werden reproduziert durch ihre Produkte. Aus den Kreisläufen gibt es kein Entrinnen, und wo die Kritik einmal ansetzt, kommt sie nicht zur Ruhe. Permanente Revolution könnte man meinen, unendliche Umdrehungen. Bei jeder Umdrehung gibt es aber auch die Möglichkeit eines Sprungs oder Stolperns, einer Änderung der Umlaufbahn.

Die Erweiterung des Blicks auf die Produktionsbedingungen bringt einen weiteren Kritikpunkt mit sich: Inwiefern bedingt der Ausschluss bestimmter Perspektiven spezifische Produktionsbedingungen, die diesen Ausschluss reproduzieren? Die Kritik an diesen Ausschlüssen, ob sie am Produkt oder an den Produktionsbedingungen ansetzt, ist weder rein moralische Kritik noch amoralische Kritik, sondern Kritik der Moral. Bei der Frage nach den Produktionsbedingungen landen wir immer, aber nicht ausschließlich bei der Frage nach ihrer moralischen Legitimation, nach historischer Bedingtheit und den inneren Widersprüchen von konkreter Praxis und moralischem Anspruch.

Hier setzt Ideologiekritik feministischer und antirassis­tischer Spielart an, die nicht um ihrer selbst willen betrieben wird, um etwa böse von guten Menschen oder Ideen zu scheiden, sondern die Legitimierung der Ausbeutung, Kolonisierung, Kriminalisierung, Ausschließung, Einknastung und Pathologisierung von rassifizierten und vergeschlechtlichten Menschen und die derart legitimierten ökonomischen Verhältnisse bekämpft. Denn all diese Mechanismen regulieren und naturalisieren den Ausschluss von Produktionsmitteln und die Verfügbarkeit von fremder Arbeitskraft. Es wäre ein Fehler, diese Kritik als moralische Kritik von der Kritik an den Produktionsverhältnissen abzugrenzen, nur weil sie auch eine Kritik an der moralischen Rechtfertigung der Pro­duktions­verhältnisse darstellt. Hinter dieser Kritik an einer bestimmten Moral steht ein Gegenentwurf, eine andere Moral, die andere Produktionsverhältnisse einfordert.

Parteilichkeit

Wodurch entsteht aber der Eindruck, es handele sich um zweierlei Kritik? Um eine moralische oder gar moralisierende Kritik einerseits und andererseits bei denen, die kritisiert werden, die aus dem Theater heraus oder von der Bühne herab auf ihre Kritikerinnen blicken, um Arbeiten, die das Thema der Moral höchstens analysieren, für sich jedoch keinen moralischen Standpunkt beanspruchen? Das hat damit zu tun, dass diejenigen, die am stärksten von der bestehenden Moral betroffen sind und mit ihr zu kämpfen haben, an ihre Grenzen stoßen und die Aufmerksamkeit darauf lenken, während umgekehrt für diejenigen, die sich selbstverständlich in den Bahnen der bestehenden Moral bewegen, die nicht mit ihr in Konflikt geraten, der Eindruck entsteht, es gäbe keine moralischen Fragen. Ihnen erscheint jede Forderung nach einer Veränderung der moralischen Architektur als Beschränkung gegenüber dem vermeintlich freieren Status quo.

Die Freiheit, Frauen zu objektivieren, als hysterisch oder emotional zu stigmatisieren und vom politischen Diskurs auszuschließen, ist von der Seite der Ausgeschlossenen aus betrachtet eine erhebliche Einschränkung der Freiheit der Frauen oder ein Zwischenschritt zur Legitimation solcher Einschränkung. Wer die Freiheit einfordert, nicht objektiviert zu werden, erscheint dann als moralisierende Freiheitsbeschneiderin, während die anderen die großzügigen, liberalen Freiheitsbefürworter geben können. Am Vorwurf des Moralisierens hängt auch der der Ir­rationalität oder Gefühlsduselei. Gerne wird das Wort „Hysterie“ benutzt, mit dem die pejorative Herabsetzung von Frauen nach wie vor zu haben ist. Der Vorwurf, dass Empörung oft eine ­verunmöglichte oder zu anstrengende Handlung ersetzt, also Ohnmachtsgefühle verdrängt oder kompensiert, ist sicher nicht immer unbegründet. Allerdings hilft es dann nicht, sich über die Ohnmacht der Empörung zu empören. Man muss stattdessen an die Ohnmacht ran, deren Symptom sie ist. Wenn man mich darauf hinweist, dass meine wütenden Tritte gegen die verschlossene Tür nichts brächten, ist durch den Hinweis allein die Tür noch nicht geöffnet.

Der Vorwurf der irrationalen Empörungsmaschinerie macht den eigenen Standpunkt zum übergeordneten. Man erhebt sich selbst zum klarsichtigen, kalten, rationalen, von oben oder außen auf die Sache Herabblickenden, der die Empörungs­maschinerie diagnostiziert. Oder sagen wir es so: Diejenigen, für die gesorgt ist, müssen sich bei der Verteilung der letzten Brot­krümel nicht anstellen, müssen nicht „hysterisch“ mit den Armen wedeln, nicht kopflos herumrennen und „gierig den Mund auf­reißen“. ­Ihnen gilt das Gerangel an den Futtertrögen, das ewige aufgeregte Geschrei um die Verteilung der Güter, als unfein. Die Taktiken der Empörung, der Kompromisslosigkeit, der irratio­nalen Wut und letztlich auch der herausgeschrienen Ohnmacht resultieren eher aus einer Position, die sich als in die Ausein­andersetzung verstrickt und als in ihr gemeint wahrnimmt. Das ist zuvorderst ein Standpunkt der Parteilichkeit, der aber gerade nicht von mangelnder analytischer Schärfe geprägt ist.

Das bedeutet nicht, dass nur die Kritikerinnen der Kunst­werke in das Gerangel um die Ressourcen involviert sind, während die Künstlerinnen einen objektiven Blick von außen für sich beanspruchen könnten. Künstlerinnen, die schon Zugang zu den Ressourcen haben, die also nicht (mehr) am dreckigen Kampf um die Güter teilnehmen müssen, erwecken den Eindruck, diese stünden ihnen selbstverständlich aufgrund höherer Kriterien zu. Der besitzstandswahrende Kampf derer, die schon Zugang zu den Ressourcen haben, hat den Status quo, die Selbstverständlichkeit des Gewohnten, die Ordnung der Dinge auf seiner Seite. Die Coolness gegenüber den erhitzten Gemütern und der distanzierte Blick sind Zeichen dessen, dass die eigenen Interessen mit der Ordnung der Dinge bereits übereinstimmen und des Eingreifens nicht mehr bedürfen. Wenn für einen im Betrieb alles gut läuft, sind die Forderungen der Angestellten nach mehr Lohn nicht ratio­nal, sondern deren Gier, Faulheit, Neid und falschem Anspruchsdenken geschuldet.

Proletariat*

Die Standpunktabhängigkeit der Moral ist auch für den Vorwurf des Essenzialismus erhellend. Es sei ein Widerspruch, wenn Kategorien wie Geschlecht oder „Rasse“ überwunden werden sollten, man sich aber auf eine geschlechtliche oder rassifizierte Identität bezieht und darauf besteht, dass die an diese Identität geknüpften Diskriminierungserfahrungen für andere nicht nachvollziehbar sind. Wenn strukturell benachteiligte Gruppen für sich beanspruchen, dass die relativ bevorteilte Gruppe ihre Probleme nicht nachvollziehen kann, beziehen sie sich nicht auf ihre Natur oder Essenz, sondern auf ihre Position im gegenwärtigen Gesellschaftssystem. Wenn ich im Bus vorne sitze und sage, dass man von hinten nicht sehen kann, wie dicht der Bus die ganze Zeit auf das vorausfahrende Auto auffährt, heißt das nicht, dass man von Natur aus nicht in der Lage ist, das Verkehrsgeschehen wahr­zunehmen und zu be­urteilen, sondern ich weiß: Das ist ein ver­änderbarer Zustand, der sich aber nicht ändern wird, solange du hinten sitzt.

Die Position oder Identität, die signifikante Erfahrungen produziert, ist weder selbst gewählt noch natürlich, sondern ­Produkt der gesellschaftlichen Zustände. Wie Proletariat* sind Geschlecht und Rassifizierung Stiefelabdrücke, die der Tritt des falschen Systems auf uns hinterlassen hat. Oder in Eso und mit Beuys: Zeig deine Wunde und du wirst geheilt werden. Da sich die herrschende gesellschaftliche Position, die sich gerne auch als Mehrheitsposition versteht, immer als neutral, also nicht standpunktabhängig, sondern potenziell alles überblickend wahrnimmt, wirkt das Bestehen auf situativ bedingtes Erfahrungswissen paradox. Der Universalitäts- und Neutralitäts­anspruch der vermeintlichen Mehrheit führt dann oft zu der Schlussfolgerung, dass es keine Probleme gäbe, solange ihr keine gemacht werden.

In antirassistischen, feministischen und anderen emanzipatorischen Kämpfen wird Teilhabe an Debatten, Ressourcen und künstlerischer Reflexion angestrebt – und zwar eben nicht als verdinglichtes Objekt, sondern als Gesprächspartnerinnen und Künstlerinnen. Es geht ganz klassisch um die Aneignung der Produktionsmittel durch das Proletariat*. Proletariat mit Sternchen, weil auch diejenigen, deren Ausbeutung durch ­Naturalisierung, Vergeschlechtlichung und Rassifizierung ­unsichtbar gemacht wurde, als der Teil der kapitalistischen ­Maschinerie zu verstehen sind, der ihr gefährlich werden kann. Proletariat* bedeutet, dass sich diejenigen zusammenschließen, deren Spaltung durch Hierarchisierung und Konkurrenz die Dreierkombination Patriarchat–Kapitalismus–Rassismus jahrhundertelang mitproduziert hat. Es bedeutet, einen Platz offenzuhalten für die Perspektive, die das Bild der Lage noch genauer, noch schärfer, noch umfangreicher, noch nützlicher machen könnte. Wir sehen klarer, wenn wir uns neben andere stellen und uns mit ihnen austauschen, als wenn wir versuchen, sie zu überblicken. Wir warten quasi noch auf die Kritik oder Konstellation von Kritiken, die uns endlich aus der ­falschen Endlosschleife herauskatapultiert. //

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