Theater der Zeit

Gespräch

Theater und Arbeiterklasse

Marta García Miranda im Gespräch mit Pablo Remón und Pablo Gisbert

Die Journalistin Marta García Miranda spricht mit zwei Theaterkünstlern unterschiedlicher poetischer Ansätze, die uns ihren Blick auf die heutige Welt und deren Auswirkung auf das Theater entfalten. Dabei diskutieren sie über das Klassische und die Avantgarde, über Kulturpolitik und darüber, was auf der Bühne im Vergleich zum Leben möglich ist. Der Text befragt die materiellen Bedingungen der Kulturproduktion und betont die Notwendigkeit, soziale Fragen in den Mittelpunkt von Theaterarbeit zu stellen.

von Marta García Miranda, Pablo Remón und Pablo Gisbert

Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Spanien (10/2022)

Assoziationen: Europa Debatte Dossier: Spanien

„Ultraficción nr. 1 – Fracciones de tiempo“ von El conde de Torrefiel beim Santarcangelo Festival 2021
„Ultraficción nr. 1 – Fracciones de tiempo“ von El conde de Torrefiel beim Santarcangelo Festival 2021Foto: Claudia Borgia, Lisa Capasso

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Die beiden kannten sich vorher nicht. Die Journalistin bittet sie, sich zu unterhalten, wie bei der ersten Verabredung nach einem Match. Sie stellen fest, dass in den Texten von beiden ein Decathlon auftaucht und eine Reise nach New York ihren Blick auf das Theater verändert hat. Dass einer von ihnen in jenem Sommer der Liebe, 2011, zu schreiben begann, als die „großen Kompanien gestorben waren“, der andere nach der Krise, die so viele Filmprojekte verhindert hatte. Einer von ihnen findet die Schwere der Zeit auf der Bühne erotisch angesichts der 2x Geschwindigkeit der digitalen Plattformen. Der andere findet, dass das Wort auf der Bühne Gefahr in sich birgt und Religiosität verströmt. „Wir machen alle Theater ­wegen eines bestimmten Stücks. Meins ist ,Ronald, der Clown von McDonald’s‘ von Rodrigo García. Und deins?“ „,Die Heimkehr‘ von Pinter.“ Einer von ihnen zitiert Sam Shepard, der davon sprach, „dass es eine ­Gemeinsamkeit geben muss zwischen dem angehäuften Wissen von dem, was man schon kann, und dem fernen Land, das einen neuen Ausdruck erfordert“. Das ist der Moment, wo das Gespräch sich öffnet für Fragen nach bekannten und fernen Ländern.

MARTA GARCÍA (MG) Glaubt ihr, dass sich das ­Theater in diesen Zeiten der Unsicherheit und Ungewissheit neu erfindet? Seid ihr der Meinung, dass Theaterschaffende, Regisseure und Programmgestalter heutzutage eher auf Nummer sicher gehen oder Risiken auf sich nehmen? Und denkt ihr, dass wir uns mit der ewigen Debatte um klassisches und zeitgenössisches Theater im Kreis drehen? Was beobachtet ihr?

PABLO REMÓN (PR) Ich denke da an die Beziehung zu den klassischen Werkzeugen der Fiktion, wie das Konzept der Figur, der Erzählung, des Konflikts und so weiter. Wie geht man heutzutage damit um? Wie schreibt man Sprechtheater nach Samuel Beckett, Peter Handke oder Sarah Kane? Ist es an der Zeit, ein eher klassisches Konzept von Geschichten und Figuren aufzugeben? Ist das etwas Konservatives? Ist es das nicht? Ich glaube nicht, dass wir uns die Freude am Erzählen nehmen sollten. Und diese Identifizierung der Fabel oder der Geschichte mit etwas Altem, Überholtem oder gar Reaktionärem, die ich häufig beobachte, woher kommt die? Ich sehe diesen Konflikt in mir selbst. Ich interessiere mich für das zeitgenössische Theater, für das Theater, das jetzt stattfindet, und in diesem Theater wird häufig auf das Geschichtenerzählen, auf das Erschaffen von Figuren verzichtet. Für mich stellt sich da die Frage, wie man an diesem Punkt weiter Geschichten erzählen kann, oder welchen Sinn es macht, dies weiter zu tun, und ob das Theater überhaupt der richtige Ort dafür ist. Darauf gibt es keine Antwort. Aber es regt einen sehr zum Nach­denken an – oder zumindest bringt es mich dazu zu erkennen, aus welcher Haltung heraus ich schreibe.

PABLO GISBERT (PG) Ich sehe es so, dass der Wille, Geschichten zu erzählen, nicht nur niemals enden wird, sondern dass wir im Moment auch noch die stories auf Instagram verfolgen können. Das ist die wichtigste Plattform auf dem Planeten, die Avantgarde, wenn man es aus Sicht der Kommunikation betrachtet, wo du deine fiktiven Figuren mit deinen eigenen Kostümen und deiner eigenen Musik kreieren kannst. Es ist offensichtlich, dass die Notwendigkeit von Geschichten nie verschwinden wird. Sogar in der Bibel steht, ,am Anfang war das Wort‘, vor den Tieren, vor dem Wasser, vor den Pflanzen, dem Sauerstoff, vor den Mösen und Schwänzen, war das Wort. Und mit den Worten geht, wie wir wissen, die ­Möglichkeit der Manipulation einher, weil es nicht das Gleiche ist, gernhaben zu sagen oder lieben oder schätzen. Das Erste ist die Manipulation, die Möglichkeit der Fik­tion, der Abstraktion. Ich weiß nicht, ob das Theater sterben wird, aber das, was bestimmt nicht aussterben wird, ist die Notwendigkeit der Abstraktion, die Not­wen­digkeit von Geschichten und die Notwendigkeit, sich selbst zu entfliehen, wie Santiago Alba Rico sagt. Im politischen Kontext sehe ich schon, dass das Theater sich ein bisschen fürchten muss, weil Gott tot ist. Was nicht tot ist, ist das Geld, das jetzt unser Gott ist. Ich denke schon, dass es mehr Freiheit gab, als wir nicht ans Geld dachten, und wir sind weniger frei, wenn wir daran denken, dass wir mit einem Stück vielleicht unseren Lebensunterhalt bestreiten können. Aber ich glaube, im Widerspruch dazu, führt es, wenn wir von der Kulturindustrie sprechen, zu besseren Arbeiten, wenn wir nicht ans Geld denken, und dadurch verdienen wir dann wieder mehr Geld damit.

MG Das stimmt, aber sind die Produktions-, Aufführungs- und Verbreitungsmodelle, die wir haben, denn weiter sinnvoll? Ist eine so starke Abhängigkeit von der öffentlichen Hand überhaupt noch angebracht?

PG Auf diesem Planeten gibt es nur drei Möglichkeiten, Geld zu verdienen: durch Privateigentum, durch den Staat und durch Drogenhandel, Menschenhandel und Waffen. Ich erhalte Geld vom öffentlichen Theater, und wenn es nicht so wäre, würde mir niemand einen Cent geben. Das Privattheater wird mir niemals auch nur einen Cent geben, das, was ich mache, ist nicht von Interesse, denn es generiert keine Kohle, ganz im Gegenteil. Ich schäme mich nicht zu sagen, dass meine Arbeit das Gleiche ist, wie die Arbeit eines Soldaten, einer Krankenschwester, eines Lehrers; wie sie arbeiten wir für den Staat, für die Öffentlichkeit, für das Wohlergehen des Landes. Und für mich ist der Wille, Leben zu retten, ­unsere ethische Verantwortung, genauso wie der Wille eines Arztes, das ist das Gleiche. Mich macht es wütend, dass es im Staatsdienst einige gibt, die Unmengen von Geld verdienen, Leute in Machtpositionen, die Theater leiten, Krankenhäuser und Universitäten, Leute, die Häuser haben, keine Ahnung, wie das geht, verdammt, aber es gibt Leute, die sich bereichern, die ökonomische Imperien aus öffentlicher Hand finanziert haben, und das ist eine Schande. Gleichzeitig macht es mich stolz, in Spanien zu leben, wo das Gemeinwesen funktioniert, das freut mich sehr. Die Eintrittskarten für unser Stück „Los protagonistas“1 im Conde Duque, kosteten 8 Euro, das ist so viel wie ein Gin Tonic kostet, und das ist eine sehr teure Produktion. Ich wäre ohne das Stipendium von 5000 Euro, was ich während des Studiums vom Staat bekommen habe, nicht hier.

MG In den öffentlichen Theatern gibt es keine tiefgreifenden Veränderungen, wenn die künstlerische Leitung wechselt. Die Autoren werden ausgetauscht, die Spielpläne geändert sowie die Themen, für die die jeweilige Leitung sich besonders interessiert. Aber die Öffentlichkeit bekommt davon nicht allzu viel mit, und wir nehmen unsere begrenzten Möglichkeiten einfach so hin. Sollten wir sie stattdessen nicht infrage stellen? Sind wir sonst nicht selbst Teil einer Reihe sehr offensichtlicher Komplizenschaften und Klientelismus? Ihr positioniert euch beide politisch in eurem Schreiben, aber ihr hinterfragt nicht eure eigenen Abhängigkeiten, die Prekarität eurer Praxis. Hito Steyerl sagt, dass politische Kunst ­Situationen darstellt, die Ungerechtigkeit und Elend beinhalten, sich aber weigert, ihre eigenen Produktions­bedingungen zu diskutieren.

PG Als ich sehr jung war, im Jahr 2000, ging ich für einen Monat nach Kuba, angezogen von der Revolution, dem Kommunismus, und dem ganzen Quatsch, wes­wegen man halt nach Kuba ging, als Fidel Castro noch lebte. Ich sah jede Menge Theater, alle Stücke wurden vom Regime kontrolliert und endeten gleich. Zum Schluss der Vorstellungen machten sie alle Lichter an, um klarzustellen, dass das Theater verloren war, es war ihre Art, es zu denunzieren, denn wenn sie es aussprachen, kamen sie ins Gefängnis. Es war, als sagten sie „schaut euch die Scheiße ruhig an, in der wir stecken“. Es war wie unser „Nicht in den Krieg“, wisst ihr noch? Ich erinnere mich daran als eine Art, diese Prekarität zu zeigen. In einem Interview hast du mir mal eine Frage gestellt, die mich sehr beschäftigt hat. Du wolltest wissen, was ich darüber denke, dass unser Publikum bürgerlich und kultiviert ist?

MG Das geht auf ein Gespräch mit Tanya (Beyeler) zurück. Sie hat mir bei eurer Uraufführung von „Kultur“ auf dem Festival Temporada Alta erklärt, dass das Stück aus dem Versuch heraus entstanden ist, euer bürgerliches Publikum in Unbehagen zu versetzen, um ihm auf die Nerven zu gehen. Es stimmt, dass ihr beide eine bestimmte Art von Publikum habt und vielleicht immer dieselben Leute zu euch kommen, was Tanya als „eure Facebook-Pinnwand“ bezeichnet.

PR Das finde ich interessant, das hat mit der Geste zu tun, die man dem Zuschauer entgegenbringt. Ich habe das Gefühl, dass bei einer bestimmten Art von Theater die Botschaft an die Zuschauer lautet: „Fickt euch“. Es ist ein Theater, das seinem Publikum ,auf den Sack gehen‘ will, vielleicht, weil es ihm gegenüber Misstrauen ­empfindet, oder einfach, weil es sich schuldig fühlt, ­genau dieses Publikum zu haben, ich weiß es nicht. Mir kommt das alles ein bisschen kindisch vor, und die ­Botschaft, die ich dem Publikum vermitteln möchte, ist genau das Gegenteil.

PG Die Idee ist ziemlich veraltet anzuerkennen, dass das Theaterpublikum bürgerlich und kultiviert ist, wo es doch offensichtlich ein bürgerliches, kultiviertes Publikum ist. Aber die Kultur, das Geld, die Situation des ­Bürgertums von vor 50 Jahren ist nicht die gleiche wie heute. Unsere Zuschauer, unsere Freunde, mein ganzes Umfeld, das sind alles kluge, gebildete Leute, sehr intelligent, aber sie sind arm. Und das muss man zugeben. Mein Publikum ist arm. Das ist hart und auch neu, das sind 40-Jährige ohne Kinder, die in Wohngemeinschaften leben, ohne Arbeit, in unsicheren Verhältnissen. Aber super kultiviert mit drei Sprachen, zwei Studiengängen, Kreditkarten und mit iPhone wie ich, aber arm. Das bürgerlich-gebildete Publikum der 80er und 90er Jahre ist nicht das von heute. Ich schreibe einen Text ­darüber, weil du mich damit angestachelt hast, und ich mag es, wenn ich auf etwas gestoßen werde. Als Euro­päer sind sie privilegiert, haben aber den gleichen ­Lebensstandard wie Migranten, die nach Spanien kommen. Wir sehen alle super aus in dieser Art von liberalem Kommunismus, den wir leben, zitieren Balenciaga, die gleichen Bücher, die gleichen Philosophen, die gleichen Rosalías und tragen die gleichen Turnschuhe. Deine ­Frage hat das klar gemacht. Und ich schäme mich nicht zuzugeben, dass ich von März bis September Schiss ­hatte, weil kein Geld reinkam. Wir gehen super gut aussehend ins Theater, aber das ist die Dekadenz, die wir leben, und dieses Thema wird langsam sichtbar, darüber werden die Theater reden müssen.

MG Es gibt ja durchaus Literatur, die sich mit der Arbeiterklasse befasst hat und es auch weiterhin tut, aber ich bin mir nicht sicher, ob das Theater daran interessiert ist, diese Geschichten zu erzählen. Wir können zwar über Euthanasie reden, aber nicht darüber, dass wir nicht über die Runden kommen.

PR Ich bin da anderer Meinung. Ich finde, wenn man etwas ehrlich machen will, muss man sich auch selbst ein wenig zeigen. Ich komme über die Runden, ich gehöre nicht zur Arbeiterklasse. Über wen soll ich also schreiben? Muss ich mich über jemanden stellen und über jemanden sprechen, bei dem das nicht so ist? Ich wüsste nicht, wie ich das anstellen sollte, es käme mir sehr unehrlich vor. Es scheint mir, dass man über die Konflikte, Probleme und Spannungen, die man erlebt, reden muss, und wenn diese Spannungen mit Geld zu tun haben, gut. Aber vielleicht ist das nicht der Fall. Das bedeutet dann aber nicht, dass deine Arbeit weniger ehrlich ist.

MG Kannst du beim Schreiben nur davon ausgehen, was du selbst kennst?

PR Nein, natürlich nicht. Es ist wunderbar, sich in andere hineinzuversetzen. Du sagst, das Theater hat die ­Arbeiterklasse aus den Augen verloren, und vielleicht ist das auch so, ich weiß es nicht. Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Arbeiterklasse nicht ins Theater geht.

MG Aber wir sind doch diejenigen, von denen Pablo vorhin geredet hat. Ich bin dieses Publikum.

PR Und im Theater geht es nicht um dich?

MG Nein.

PG Man muss dazu sagen, es wurde wirklich ganze ­Arbeit geleistet, dass niemand sich selbst als Arbeiter ­bezeichnen würde, weil es gleichbedeutend damit ist, ein verdammter Loser zu sein. Uns ist auch nicht bewusst, wie viele Kids auf dem ganzen Planeten arbeiten, indem sie gratis Content auf YouTube oder Instagram stellen, das generiert Gewinne. Und ich glaube, dass sich das ändern und das Bewusstsein dafür zurückkommen wird. So, wie es niemandem bewusst war, dass du 14 Stunden in einer Fabrik gearbeitet hast, sieben Tage die Woche, bis jemand kam, der sagte „Leute, was ist das für ein Leben, ihr müsst lesen lernen“. Niemand will ­Arbeiter sein, wir schämen uns dafür, weil du dann als Loser giltst, und Feminismus oder Umweltschutz dürfen nicht über der wirtschaftlichen Ungleichheit stehen. In dem Moment, wo du Ökologie und Feminismus an erste Stelle stellst, vergisst du das große Problem des Geldes. Sie können nicht an erster Stelle stehen, aber Nationalismus, Unabhängigkeitsbestrebungen und all der andere Unsinn genauso wenig. Wirklich Reichsein ist für mich nicht, eine Firma mit 50 Mitarbeitern zu haben, das ist ein Scheiß, das ist selbst Arbeiter sein. Wirklich, wirklich reich sein bedeutet, 33 Prozent der Bildrechte von Barça oder einen Fernsehsender zu be­sitzen. Dieses, ich habe eine Bar und fünf Mitarbeiter und denke, dass ich jetzt Unternehmer bin … Du bist ein Depp und ein Arbeiter wie ich.

MG Ich bin schon lange der Meinung, dass Theater, das uns nur erzählt, was wir eh schon wissen, harmlos ist. Wo es uns vielleicht etwas erzählen könnte, von dem wir wenigstens noch nicht wissen, dass wir es schon wissen.

PG Das ist etwas, worauf ich dir keine Antwort geben kann, denn es hängt von denjenigen ab, die das Programm machen, das ist ihre Arbeit. Meine Arbeit besteht darin, mich schreibend abzumühen, mich auszudrücken, indem ich poetisch ein paar Ideen erzähle. „Kultur“ haben wir wirklich an alle Programmgestalter der Welt weitergeleitet, die es sehen wollten, und sie haben es nicht gezeigt, weil das nicht geht. Albert Serra hat „Liberté“ gemacht und den Goldenen Leoparden beim Filmfest von Locarno gewonnen, obwohl in dem Film gefickt wird, aber das ist Leinwand, das ist harmlos, in „Kultur“ kann man das nicht einfach so machen.

MG Aber das, was man in „Kultur“ sieht, ist doch das Gleiche wie in jedem Pornovideo im Internet.

PG Ja, aber es gibt keine Gastspieleinladung, keine ­einzige. Die Programmleiter, die es gesehen haben, ­sagten „oh mein Gott“. Es ist keine gefällige Arbeit, der Text ­ist traurig, und am Ende, wenn du es gesehen hast, sagst du dir, meine Güte, wie schlicht wir aber auch sind. Und in dieser Kuratorenschicht steckt auch viel Feigheit. Warum sind wir nie in Andalusien aufgetreten? In unserem Stück „Escenas para una conversación después del visionado de una película de Michael Haneke“2 gibt es eine Semana-Santa-Szene, und es kamen Programm­leiter auf uns zu, die uns sagten, dass sie es nicht auf den Spielplan setzen könnten, weil sie damit ihren ­Arbeitsplatz riskierten. Und ich bin ja nicht wie die Künstler aus den 80ern, die wirklich mutig waren.

MG Und wieso zeigt ihr es selbst nie?

PG Das machen wir ja. Ich arbeite in anderen Kontexten umsonst. Wir machen alle zwei oder drei Jahre ein ­großes Stück, und zwischendurch machen wir viele ­verschiedene Sachen, in Kontexten, wo wir nichts ver­dienen. Ich habe Glück mit dem George Pompidou, den Wiener Festwochen oder dem Festival d‘Automne in Paris, dort verdienen wir und leben davon.

PR Ich finde es interessant, dass du sagst, es kommt dir harmlos vor. Was müsste denn passieren, damit etwas nicht harmlos ist? Wenn ich schreibe, versuche ich, über das zu schreiben, was ich nicht kenne, über das, was mich überrascht, damit es auch diejenigen überrascht, die es sich ansehen. Nur ist das gar nicht so leicht. Ich glaube aber nicht, dass ich mich bewusst nicht traue, es zu tun. Ich denke, das hängt mit dem Schaffensprozess zusammen, damit, mit Dingen zu brechen, und mit dem Mut, Bewährtes zu riskieren. Aber das ist eine sehr persönliche Angelegenheit, die nicht einfach ist. Für mich hat sie nichts mit einer Konfrontation mit dem Zuschauer zu tun; die Geste, die ich dem Zuschauer gegenüber machen möchte, ist keine Geste der Konfrontation. Ich will ihn nicht vor den Kopf stoßen, ich glaube nicht, dass das nötig ist, ganz und gar nicht. Ich will ihm vielmehr wie einem Freund begegnen. In welcher Theaterform auch immer, ich will anders mit ihm sprechen, ihm menschlich gegenübertreten. Dann gibt es da aber noch ein anderes großes Problem im Theater, und das sind die Themen, beziehungsweise die Ideen zu Themen. Es ­passiert sehr häufig, dass etwas allein aufgrund seines Themas bewertet wird. Das ist eine Sache, die mir sehr stark auffällt, denn im Kino ist das anders. Im Kino kommt es nur äußerst selten vor, dass jemand einen Film macht, um seine Meinung über ein Thema auszudrücken.

MG Und warum ist das im Theater der Fall?

PR Ich denke, das liegt an dieser religiösen Komponente. Wenn du nicht aufpasst, wird das Theater ganz schnell zu einer Kanzel. Es scheint, als müsste man sich, sobald man da oben steht, zu etwas äußern wollen, sagen, was man über ein bestimmtes Thema denkt. Und ich glaube, das ist die schlechteste Schreibhaltung, weil man dann genau das schreibt, von dem man meint, dass andere es wollen: Man schreibt, was man zu wissen glaubt, aber das ist eine Maske, eine Fassade, es ist falsch. Das Spannende am Schreiben ist doch, wenn Dinge zum Vorschein kommen, von denen du nicht wusstest, dass du sie wusstest, die dich vielleicht selbst überraschen und die etwas zum ­Ausdruck bringen, was du an dir selbst vielleicht gar nicht so sehr magst. Diese Konfrontation, von der du redest, die sollte man während des Schreibens mit sich selbst haben. Es geht nicht so sehr darum, den Zuschauer zu belei­digen, was ohnehin ziemlich veraltet ist, sondern darum, dass man den Konflikt mit sich selber sucht.

MG Meint ihr nicht, dass jetzt ein guter Moment wäre, um Veränderungen, oder zumindest einen gewissen Bruch in der Art und Weise, wie Theater gemacht wird, zu provozieren?

PG Es ist ein guter Moment, aber gleichzeitig auch nicht, denn es ist ein Moment großer Angst und Instabilität, und deshalb gibt es wenig Spontanität und Freiheit. Aber es ist genau der Kontext von Angst, dem du gehorchen und einfach weitermachen kannst, oder du stellst das Pissoir von Duchamp hin, das geht auch.

MG In einer Zeit der Angst und der Tendenzen zum Konservativen, die auch der Ausgangspunkt unseres Gesprächs war, welche Verantwortung tragen die großen, vorwiegend öffentlichen Kultureinrichtungen, einen Wandel zu begünstigen und voranzutreiben?

PG Die Frage ist, was für ein Land du aufbauen willst, welche Art von Polizei, Gesundheits- und Bildungs­system du haben willst. Welche Art von Kultur für die Zukunft.

MG Aber wenn diejenigen, die die Kultureinrichtung ­leiten, genauso viel Angst haben, wie du, geht es letztendlich doch nur darum, sie zu teilen …

PG Es gibt Menschen, die ein regelmäßiges Einkommen haben – ich nicht. Für sie kann ich also nicht sprechen. Ich habe einfach nicht deren feste Gehälter. Es gibt Leute, die das öffentliche Theater für ihre Strandbude halten.

MG Meint ihr nicht, dass wir uns zu sehr damit auf­halten, über Politik zu reden, wo wir doch eigentlich ­darüber nachdenken sollten, dass Theater und Kultur an sich schon politisch sind?

PR Sich aktuell dem Theatermachen zu widmen, ist für mich eine politische Geste: seinen Blick auf den anderen zu richten, zu versuchen, ihn zu verstehen, sich in ihn hineinzufühlen. Das Einfache in etwas Komplexes zu verwandeln – ganz im Gegensatz zur Politik –, zu ver­suchen, die Wahrheiten zu ergründen, anstatt sie bloß zu benennen. Nach Widersprüchen zu suchen, um den Diskurs komplexer zu gestalten: das ist politische Arbeit – eine Arbeit, die die Politik im Allgemeinen nicht ­leistet. //

1 „Die Protagonisten“.

2 Der Titel bedeutet übersetzt so viel wie „Szenen für ein Gespräch nach dem Anschauen eines Michael-Haneke- Films“.

Aus dem Spanischen von Charlotte Roos und Lea Saland

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