Theater der Zeit

Ulrich Zwingli

Der berühmteste Bewohner des Hauses

von Valeria Heintges

Erschienen in: Zwischen Zwingli und Zukunft – Die Helferei in Zürich (09/2022)

Assoziationen: Schweiz

Zwingli-Stube, Helferei, Zürich
Zwingli-Stube

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An seinem 35. Geburtstag, am 1. Januar 1519, predigt Ulrich Zwingli das erste Mal am Grossmünster. Und bricht sofort mit der Tradition: Er spricht nicht zu dem Abschnitt des Evangeliums, den der Kirchenkanon für diesen Tag vorschreibt, sondern frei zum Matthäusevangelium. Und schon fünf Jahre später hat der Ostschweizer Zwingli die Stadt an der Limmat gehörig auf den Kopf gestellt. Anfang Februar 1519 beschwe­ren sich die Gesandten der Restschweiz (nur die Schaffhauser blei­ben dem Treffen fern) beim Zürcher Rat über die «luthe­rische Sekte». Zwingli und seine Anhänger würden die Sakra­mente und die Heilige Messe schmähen, die Mutter Gottes und die Heiligen. Ausserdem würden sie sich gegen die Reisläuferei wenden, also gegen schweizerische Söldner im Dienst auslän­discher Fürsten. Und sie ermunterten Plünderer, Kirchen auszu­rauben, und Nonnen und Mönche, ihre Orden zu verlassen und zu heiraten. Sie ässen sogar Fleisch in der ­Fastenzeit! Die Gesandten sind ­entsetzt – wenngleich auch sie zugeben müssen, dass in der ­Römischen Kirche nicht alles zum ­Besten steht. Sie selbst seien auch dagegen, dass die Geistlichen Ämter anhäufen und falsche Ablassbriefe in ­Umlauf seien. Aber man solle doch ­bitteschön ­diese Unarten als Eidgenossenschaft gemeinsam angehen.

Nur die Bibel als Grundlage

Die Zürcher Räte verwahren sich gegen den Vorwurf, ketzerische Irrlehren zu verbreiten. Doch die Gesandten staunen nicht schlecht, als die Räte ­sagen, sie seien zu Beginn selbst etwas konsterniert und überrascht gewesen vom Wirken des ­Ulrich Zwingli aus Wildhaus im Toggenburg. Aber mittlerweile hätten sie die Pfarrer der Stadt an­gehalten, allein die Worte der Bibel als Grundlage ihres Handelns anzusehen. Die Bestimmungen der Bischöfe und des Papstes seien ihnen dabei herzlich egal, «dann wir Gott und sinem wort mer dann der menschen satzungen […] gehorsam sin müessend», wie der Berner Historiker André Holenstein zitiert.1

In der Literatur gehen die Meinungen ein ­wenig auseinander, ob die Zürcher Räte wussten, ­welchen Revolutionär, welchen Querkopf sie sich fünf Jahre zuvor mit dem neuen Prediger eingehandelt hatten. «Seine theologischen Kenntnisse, seine Zugehörigkeit zum Kreis der eidgenös­sischen Humanisten sowie seine Nähe zur päpst­lichen Partei bzw. (seine) Franzosenfeindlichkeit empfahlen ihn 1518 für die Berufung nach Zürich», schreibt Holenstein. Auch sei er bereits als ­Geg­ner der Reisläuferei und des Ablasshandels ­bekannt gewesen. Vor allem das Reislaufen hatte das ­soziale Gefüge der Gesellschaft völlig zer­rüttet. Die jungen Männer verdienten ihr Geld im Ausland – nicht zuletzt bei brutalen Beutezügen –, aber im Inland fehlte ihre Arbeitskraft.

Niemand wusste, wie weit Zwingli gehen würde

Der französische König, der vor allem auf Schweizer Söldner zurückgriff, habe letztlich die «Betriebskosten» vieler Gemeinden bezahlt, schreibt der dezidiert linke Journalist, Politiker und Autor Franz Rueb. Das Land sei abhängig von der Söldnerei gewesen, während die Gemeinden litten, weil der Grossteil des abgepressten Geldes nach Rom ­geflossen sei. Die Zürcher Gewerbetreibenden ­hätten, mit gestiegenem Selbstbewusstsein, einen Ausweg aus dieser Misere gesucht. Zwingli «sollte die Emanzipationsbewegung der republikanischen Stadtgemeinschaft aus der bischöflichen Ober­hoheit religiös und ideologisch untermauern und befördern», schreibt Rueb. Doch habe niemand ­geahnt – darin besteht Einigkeit – wie weit der ­Toggenburger Rebell gehen würde. Wie sehr er die Schweiz an den Rand des Abgrunds bringen würde.

Ulrich Zwingli wird 1484 in Wildhaus im Toggenburg geboren. Sein Vater ist Bauer und Ammann, er kann es sich leisten, elf Kinder grosszuziehen und dreien seiner Söhne eine Ausbildung zu finanzieren. Zwingli kommt auf eine Schule nach Weesen am Walensee, dann auf die Lateinschule in Basel und Bern und bereits als Vierzehnjähriger an die Universität Wien. Er wechselt an die Univer­sität Basel und schliesst 1506 sein Studium ab. Er wird Pfarrer in Glarus, zehn Jahre später Leutpriester in Einsiedeln und bereits zwei Jahre später nach Zürich berufen.

Amtswohnung in der Helferei

Nur zwölf Jahre sind ihm auf der Stelle vergönnt. «Zwinglis Amtswohnung» steht auf dem Steinschild über dem Eingang zur Helferei. Und: «Von diesem Hause zog er am 11. Oct. 1531 mit dem Heere der Zürcher nach Kappel aus, wo er für seinen Glauben starb.» Sein Leichnam wird gevierteilt, verbrannt und in alle Winde zerstreut – so wütend hatten seine Lehre die Katholiken des Landes gemacht. Denn die Fragen, die er aufwirft, sind eben nicht nur theologische, sondern auch gesellschaftliche.

Zwingli sucht und findet, im Gegensatz etwa zu Martin Luther, umfassende Unterstützung auch in politischen Kreisen. In zwei Disputationen, die in Zürich stattfinden, wird deutlich, wie weit die Kooperation geht: Zum ersten Streitgespräch am 29. Januar 1523 lädt der Zürcher Rat selbst ein und nimmt sich dabei das Recht heraus, über theologische Fragen zu entscheiden. Entscheide über das Zölibat oder die Rechtmässigkeit des Zehnten dürfen bis dato nur die Bischöfe und der Papst treffen. Zwingli aber lehrt, die Bibel verbiete die Priesterehe nicht. (1524 wird er selbst die Witwe Anna ­Reinhart heiraten, die ihn gepflegt hatte, als er an der Pest erkrankte. Anna Reinhart bringt drei ­Kinder aus erster Ehe mit und wird vier weitere ­gemeinsam mit Zwingli haben.) Auch vom Zehnten, so Zwingli, stehe nichts in der Heiligen Schrift. Für eine kirchliche Entscheidungsinstanz sieht er gleichfalls keine Grundlage. Seine Lehre ist nicht nur in diesen Punkten nah an der christlichen Urgemeinde und sehr weit weg von Rom. Trotzdem folgt ihm der Zürcher Rat.

Bereits am 26. Oktober 1523 geht die zweite Disputation über die Bühne, diesmal über die Frage, ob Bilder und Gegenstände aus den Kirchen entfernt werden dürfen und wie die Messe gefeiert ­werden soll. Weil dem Stadtrat der Wind zunehmend ins Gesicht weht, entscheidet er, Bilder sollen bleiben und die Messe weiter im üblichen Rahmen gefeiert werden. Aber längst hat Zwingli auch ­fanatische Anhänger, die sich in der Täufer­bewegung sammeln. Sie erzwingen bereits 1525, dass die Messe abgeschafft und durch den Predigt- und Abendmahlsgottesdienst ersetzt wird. Danach werden Bilder systematisch aus den Kirchen entfernt.

Am Thema Abendmahl scheiden sich auch die Geister im Marburger Gespräch im Oktober 1529, in dem Zwingli und Luther auf Einladung des Landgrafen Philipp von Hessen disputieren. Eine Einigung scheitert scheinbar an der Abendmahlsfrage, «in Wirklichkeit aber war der Grund die tiefer­gehenden Unterschiede zwischen fürstenstaatlicher und bürgerlich-republikanischer Reformation», wie Rueb urteilt.

Zwinglis Bewegung wird immer radikaler: Die Bauern verweigern den Zehnten; die Gemeinden folgen und argumentieren, sie würden lieber selbst Hospitäler und Armenhäuser und einen eigenen Pfarrer finanzieren, als das Geld nach Rom abzuführen. «Die Kirche erlebte nicht nur als religiöse Heilsinstanz, sondern auch als weltliche Herrschaftsinstitution einen rasanten Autoritätsverlust», schreibt André Holenstein.

Stand die «Skandalstadt» Zürich zwischendurch sehr isoliert da, wächst das reformierte Gebiet jetzt stetig: Die Ostschweiz (Thurgau, Appenzell, Sankt Gallen und Glarus) stösst dazu, ab 1525 auch ­Basel, ab 1527 Bern. Und die Gegner formieren sich um die heute noch katholischen Gebiete in der Innerschweiz (Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug), in Solothurn und Freiburg und verweigern die Neuerungen. Die beiden Lager hätten sich unversöhnlich gegenübergestanden und zunehmend auch mit internen Streitereien zu tun gehabt, analysiert Holen­stein. «Letztlich liess sich die Religionsfrage nur politisch lösen.»

Im ersten Kappeler Krieg 1529 ist das noch ohne Blutvergiessen möglich, im zweiten nicht mehr: Über fünfhundert Männer sterben auf dem Feld bei Kappel am Albis, zwanzig Kilometer entfernt von Zürich. Die Folgen dieses eindeutigen ­Sieges sind allerdings – typisch schweizerisch – von einem Kompromiss geprägt. Die Sieger verzichten auf lautes Triumphgeheul, weil sie wohl ahnen, dass ein hartes Abstrafen des Unterlegenen nie zu Frieden führen würde. Man einigt sich, «in unseren landen einander güetlich ze dulden (und) das ­­ketzer schelten und andere schmähungen» zu unterlassen. Fortan herrscht eine friedliche Koexistenz. «Politik und Landfrieden anstatt der Durchsetzung eines fundamentalistischen Wahr­heitsanspruches – so lautete ab 1531 die zukunfts­fähige Lösung der Eidgenossen», urteilt Holenstein abschliessend. Zwinglis Nachfolger als Antistes der Reformierten Gemeinden wird Heinrich Bullinger.

Wichtig noch folgende Anmerkung: Zwingli selbst hat die kriegerische Auseinandersetzung ­aktiv gesucht und propagiert. «Der Friede, auf den gewisse Leute so sehr aus sind, ist Krieg, nicht Friede. Und der Krieg, für den wir so eifrig rüsten, ist Friede, nicht Krieg.» Der Wunsch, die Sache in einer Schlacht zu regeln, «war wohl seine Untat schlechthin», schreibt Franz Rueb. «Und es ist einer der Gründe für seinen unberechtigt fragwürdigen Ruf in der oberflächlichen populären Wahrnehmung.»

Bis heute ist der Ausdruck «zwinglianisch» oft negativ konnotiert, bezeichnet auch ein enges, eher lust- und freudloses Schaffen, ein unangenehmes «mehr Sein als Schein». Einige Arbeiten, die im Zuge der Feiern zu fünfhundert Jahren Reformation erschienen sind, bemühen sich redlich, das Bild zu ändern. Immerhin ist Zwingli «der einzige Revolutionär, den die Schweiz je hatte», wie Kulturhaus-Helferei-Chef Martin Wigger findet.

1 Der Abriss zum Wirken Zwinglis folgt im Wesentlichen André Holensteins Aufsatz «Ein Mann spaltet das Land», in: NZZ Geschichte 7/2016, S. 34 – 50.

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