Theater der Zeit

Künstlerinsert

Lebende Räume

Der Wiener Choreograf Willi Dorner erkundet die Spannungen zwischen Körper und Architektur – als Rückeroberung der Stadt in Zeiten schrumpfender öffentlicher Orte

von Renate Klett

Erschienen in: Theater der Zeit: Hasta la vista – Bierbichler, Fiebach, Kuttner, Quiñones, Vanackere. Ein Brennpunkt zur Neubesetzung der Berliner Volksbühne (06/2015)

Assoziationen: Österreich Tanz Akteure

Anzeige

Anzeige

Ist es Sport, Tanz, Theater, Akrobatik, Skulptur? Eigentlich nichts davon – oder doch eher: alles auf einmal? Willi Dorner passt in keine Schublade, seine Tänzer schon, sie können sich bestimmt auch dort hineinquetschen, ganz körperlich, nicht symbolisch. So wie sie sich zwischen Geländer und Gerüste klemmen, über Laternen stülpen, an Fassaden kleben, so dass einem schon vom bloßen Zuschauen schwindlig wird.

Willi Dorner macht eine Kunst, für die es keinen Namen gibt. Eines seiner Stücke heißt „bodies in urban spaces“ – der Titel beschreibt knapp und genau, worum es ihm in allen seinen Arbeiten geht: um die Spannung zwischen Körper und Architektur, ihre Interdependenzen und die Überraschungen, die sie füreinander bereithalten. Seine Aufführungen sind Stadtrundgänge, bei denen man Menschen beobachtet, die zum Bestandteil der Topografie werden. Lange Körperreihen in knallbunten Outfits sind liegend, hockend, kauernd über riesige Freitreppen drapiert, markieren schmale Wege oder akkurate Zickzacklinien.

Andere Akteure baumeln von Balkonbrüstungen, hängen kopfüber an Säulen und Bäumen, sitzen auf Mauervorsprüngen, starr und kompakt, sind in Hauseingängen übereinandergestapelt wie eine atmende Barrikade. Oder sie knäueln wie ein vergessener Müllhaufen an der Straßenecke, nur ein Bein, eine Hand spreizen heraus. Die Bilder sind hintergründig, manchmal unheimlich. Man muss es sehen, um es zu verstehen – dann rattern die Assoziationen, und alle Beschreibungen stimmen, auch wenn jede anders ist. „Die Grundfrage ist immer: Wie leben die Menschen in ihrer Stadt?“, sagt Willi Dorner. „Wie können sie sich ihre Stadt wieder aneignen, diese Städte mit all ihren Privatisierungen und Verboten? Wir wollen sie mit unseren Aufführungen zurückerobern, indem wir sie aus einer neuen Perspektive betrachten.“ Dahinter steht immer auch der politische Anspruch, dass der öffentliche Raum den Bewohnern der Stadt gehört und niemandem sonst.

Und so schickt er seine Spieler aus, auf dass sie mit ihren Körpern den Raum erforschen, besetzen und verändern, lässt sie zu bizarren Skulpturen erstarren, in schwindelnder Höhe oder im Rinnstein. Es sind absurde Irritationen des Gewohnten, viele nehmen sie gar nicht wahr, wenn sie vorbeihasten, aber wer die Augen offen hält, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Und irgendwie spricht es sich herum, Paare schießen Selfies, Passanten bleiben stehen, starren, zeigen, laufen mit und sind plötzlich Teil einer Kunstaktion, ohne es zu wissen. Die eingeweihten Zuschauer werden verschluckt vom Zufallspublikum, das feixt, ratlos ist, sich freut oder schimpft, aber auf jeden Fall mitzieht. Der erweiterte Kunstbegriff, frei nach Beuys, manifestiert sich so selbstverständlich wie flüchtig – er hat eine befreiende Wirkung und lässt die Straßen vibrieren vor freudiger Erregung und Erklärungslust.

„bodies in urban spaces“ ist heute so etwas wie Dorners Markenzeichen, aber das große Outdoor-Spektakel begann klein und indoor: 2004 hatte er eine sechswöchige Künstlerresidenz im Wiener Wohnbau Hängende Gärten. Dort entwickelte (und fotografierte) er eine Reihe von Installationen, die das Verhältnis von menschlichen Körpern und eingerichteten Wohnungen thematisierten. „Die Zimmer waren so vollgestellt mit Möbeln, dass kaum noch Platz war für meine Leute“, erinnert er sich. Also stopfte er sie in die Spalte zwischen zwei Schränken oder diversen Küchenmaschinen, schichtete sie neben Treppen übereinander oder verkeilte sie unterm Esstisch.

Zwei Jahre später ergab sich durch die Einladung der Polytechnischen Universität Katalonien in Barcelona eine Gelegenheit, die Körper-Raum-Installationen nach draußen zu verlegen, sie in einer zeitlichen Abfolge über die Stadt zu verteilen und damit einem neuen Publikum zugänglich zu machen. Für dieses Pilotprojekt arbeitete Willi Dorner erstmals mit Tänzern und Architekten zusammen. 2007 fand dann die offizielle Premiere von „bodies in urban spaces“ beim Festival Paris quartier d’été statt. The rest is history. Die Aufführung wurde über die Jahre hin in 85 großen und kleinen Städten auf drei Kontinenten gezeigt. Von New York bis Heilbronn, von Yokohama, London, Berlin, Istanbul und Moskau bis Santa Maria da Feira in Portugal und Saint-Brieuc in Frankreich, dem Land, aus dem bisher die meisten Einladungen kamen. Es gibt einen preisgekrönten Dokumentarfilm über die Produktion („body trail“, 2009), und im letzten Jahr erschien ein wunderschöner Bildband über „bodies in urban spaces“.

Tänzer, Kletterer, Freerunner

Jede Aufführung ist anders, aber alle haben die gleiche Wirkung: eine euphorische Live Art, die Leben und Kunst aufpeitscht. Die Tänzer, Akrobaten, Kletterer, Freerunner nehmen ihre vorgegebenen Positionen ein und verharren schweigend und unbeweglich darin, bis sie auf ein vereinbartes Zeichen hin das Tableau vivant auflösen, blitzschnell zu ihrer nächsten Position sausen und die weiterziehende Menge erwarten. Die wird im Verlauf der Vorstellung immer größer, nimmt auch schon mal die ganze Breite der Fahrbahn ein und bringt den Verkehr zum Erliegen.

Die Lawine lässt sich ebenso leicht auf Nebenstraßen und Umwege lenken; Dorner lotst sie gerne durch abgelegene Viertel, die selbst die Einwohner kaum kennen, und besonders gerne durch solche mit schlechtem Ruf. Und so werden die Körperinstallationen nicht nur in der Betriebsamkeit der City präsentiert, sondern auch in verlassenen Baustellen und -lücken, Betonwüsten, Brachen und Schandflecken. „Wir wollen den Blick auf Details richten, die meist übersehen werden“, sagt er, „mit dem Körper den Ort sichtbar machen.“ Das Vertraute soll fremd, das Fremde vertraut werden. Wenn eine junge Frau mit Kapuzenpulli neben einer bröckelnden Karyatide schwebt, ein Junge mit buntem T-Shirt hoch oben an einer Regenrinne, dann ist der Blick unweigerlich schärfer als sonst.

Zudem sind die Stücke Kommunikationsbeschleuniger: Durch das gemeinsame Gehen und Staunen kommt das Publikum leicht ins Gespräch. Auch die Performer sind auf schnellen Austausch angewiesen; neben dem harten Kern der Cie. Willi Dorner gibt es in jeder Stadt neue, lokale Mitwirkende, die in nur fünf Tagen Probezeit den Parcours und ihre Positionen darin lernen müssen. Und sie müssen sich so miteinander vertraut machen, dass sie sich gegenseitig helfen können. Denn ihre Arbeit ist ungemein anspruchsvoll, die Körperanspannung, die fliegenden Wechsel, die extremen Verrenkungen, Verkeilungen, Verknäulungen sind anstrengend und brauchen höchste Konzentration. Ihr Körper muss gut trainiert, ihr Geist yogagestählt sein, um die physischen und mentalen Herausforderungen meistern zu können. Schwere Unfälle hat es bisher nicht gegeben – da sei Dorner vor, der seine Verantwortung für die jungen Leute sehr ernst nimmt.

Die beiden Arbeiten „above under inbetween“ und „fitting“, die gemeinsam mit „bodies in urban spaces“ eine subversive Stadttrilogie ergeben, funktionieren nach dem gleichen Prinzip wie das Hauptwerk, aber sie variieren es. Bei „above under inbetween“ (2010) stehen verstreute Möbel auf der Straße, Schränke, Kommoden, Sofas, Tische, Stühle. Es ist, als hätte Dorner den vollgeramschten Wohnungen der Hängenden Gärten Luft verschaffen wollen und sie leergeräumt. Die Spieler jedoch traktieren weiterhin die Enge, sie schlüpfen in die Möbel hinein, falten sich auf ihnen zusammen, stemmen sie hoch, kippeln, tanzen, paradieren mit ihnen zu laut dröhnender Musik. Danach folgt „drifting“, ein kurzer Parcours durch die Stadt – ohne Möbel.

„fitting“ (2012) beginnt mit einem Parcours, bei dem Holzbretter eine große Rolle spielen: Die Performer balancieren auf ihnen, ebenerdig und in der Höhe, umstellen Baumkronen mit ihnen oder versperren Hauseingänge, indem sie sich zwischen sie klemmen. Die Route endet auf einem verwilderten Gelände, das zu einem sehr speziellen Freilufttheater einlädt. Die Zuschauer nehmen Platz, die Spieler beginnen, mit einem ausgeklügelten System aus Holzwänden, Brettern, Leitern und Schienen ein mehrstöckiges Modellhaus zu errichten, das zu allem taugt, nur nicht zum Wohnen.

Die stummen Akteure halten Fotos mit glücklichen Gesichtern vor die Stirn, aus Illustrierten ausgeschnitten und zu Lebensgröße aufgeblasen. Dieses anonyme Lächeln ist einerseits rührend, andererseits unerträglich. Während sie Zimmer um Zimmer aufeinandersetzen, sich darin breitmachen so gut es geht, demonstrieren sie Normierung und Beschränkung des erstrebten Einfamilienhauses. Die Happy Family, die sie darstellen, gerät immer mehr aus dem Ruder, je höher der Bau wächst. Schließlich wird alles wieder auseinandergenommen, die Wände und Planken knallen auf den Boden, den Zuschauern direkt vor die Füße.

Was sich bei der Trilogie auf weite Teile der Stadt ausbreitete, beschränkt sich bei der neuesten Arbeit „living room“ auf ein Stadtviertel und seine Bewohner/-innen. Das Work in Progress hat seinen Ausgangspunkt in einer Fotoausstellung in Privatwohnungen, die den Begriff Living Room wörtlich nehmen: als lebenden Raum. Zu den Fotos und Videos über die Wohnungen, ihre Einrichtung und Struktur gibt es Live-Interventionen auf den gemeinsamen Spaziergängen von einem Ausstellungswohnzimmer zum anderen und viele Gespräche mit Bewohnern und Besuchern.

Philosoph des Blicks und der Bewegung

Willi Dorner, 1959 in Wien geboren, hat eine Ausbildung als Tänzer und Tanzpädagoge absolviert und anschließend Alexander-Technik studiert: „Die hat mich sehr beeindruckt. Damals habe ich angefangen, über Wahrnehmung zu arbeiten, wie ich mich selbst wahrnehme, wie sich mein Körperbild verändert, wie die Subjekt-Objekt-Beziehung in mir funktioniert. Das habe ich dann auf die Räumlichkeit bezogen, den zweiten wichtigen Punkt meiner Arbeit“, erzählt er. Es zog ihn weg von der Bühne, in den öffentlichen Raum. Nur war die Förderung, die seine freie Gruppe bekam, an Innenräume gebunden. Er sollte Theater machen, und was er machen wollte, war nicht das, was das Bundesministerium unter Theater verstand. Schon damals passte er nicht in die Schubladen.

Dorner ist ein Philosoph des Blicks und der Bewegung. Seine szenischen Readymades sind hochaktuell und politisch brisant, aber sie sind auch, und das macht sie groß, voller Poesie und Melancholie. Man denkt an die genialen Sprachverbeulungen eines Georges Perec – Dorners Bildkompositionen könnten als das choreografische Pendant dazu gelesen werden –, an die frühen Happenings oder an die Situationisten, die den Alltag zur Kunst erkürten und ihm Beine machten. Er arbeitet mit Architekten, bildenden Künstlern und Museen zusammen, mit Fotografen, Digitalfilmern und Softwarespezialisten. Aber je raffinierter seine Setzungen auch werden – die Kraft und Schönheit seiner Spektakel kommt ganz analog von der Straße. Irgendwie ist das beruhigend. //

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Theater unser"
"Pledge and Play"