Theater der Zeit

Kolumne

Liebes ZENTRALORGAN …

von Thomas Stecher

Erschienen in: Theater der Zeit: 75 Jahre Theater der Zeit – Ein Jubiläumsheft (05/2021)

Assoziationen: Dossier: TdZ-Geschichte

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… so nannten wir Dich auf der Schauspielschule in Ost-Berlin ­Anfang der Achtziger (ich glaube, Christoph Hohmann hatte es zuerst ausgesprochen) und das war nicht despektierlich gemeint. Dich als Zentralorgan zu bezeichnen, war damals schon fast subversiv, denn es behauptete eine Gegenwelt zu der des großen Zentralorgans, das damals den Tagesplan fürs kleine Land herausgab.

Im Studium wurden die meisten von uns Deine Abonnenten, und ich bin es immer noch. Ununterbrochen, wenn ich von der kurzen Zäsur in den verstolperten Nachwendejahren absehe.

Meine stärksten Bindungen an Dich liegen in der Ehemaligen. Ich weiß nicht, ob sich jetzt schon Altrosa über mein Gedächtnis senkt, aber ich fand Dich meistens etwas aufrechter, weniger opportunistisch und manchmal sogar mutiger als andere Druck-Erzeugnisse der Untergegangenen – eben eine Fachzeitschrift und keine Ideologieschleuder. Das hatte etwas Elitäres.

Deine Autoren sind mir bis auf wenige Ausnahmen in honoriger Erinnerung.

Sie hatten noch das Kritikerhandwerk in der Tradition von Kerr, Jhering und Luft gelernt, kannten noch nicht das Wikipedia-Copy-and-Paste mancher heutiger Feuilletonpraktikanten und ­vergaßen auch nie, die Schauspieler zu erwähnen und ihre Arbeit zu beschreiben.

Ich habe mich und uns durch die verbleibenden Jahre der DDR von Dir gut behandelt und in der Arbeit achtungsvoll begleitet gefühlt. Ob und wie Du mit alternativen oder subversiven Thea­terformen und -machern umgegangen bist, weiß ich nicht mehr.

Für uns im Osten war es zwar immer spannend, in den Hochglanz Deines westlichen Pendants zu schauen, aber irgendwie passtest Du in Deiner grauen Bescheidenheit besser zu uns und unserer damaligen Arbeit.

Als dann Schluss war mit der Theaterrepublik, wollte ich Dich in einer Mischung aus Sentimentalität und Ossi-Trotz nicht verlassen, noch nicht wissend, wo wir uns und das Theater im neuen Deutschland wiederfinden würden.

In den folgenden Jahren ist unsere Liaison trotz Abo lockerer geworden, zeitweise gleichgültiger. Seit meinem Auszug aus den subventionierten Häusern um die Jahrtausendwende hat sich meine Arbeitsrealität mehr und mehr von dem entfernt, was Du im Kern widerspiegelst. Der Weg geht selten vom Staatstheater direkt zu Rimini Protokoll, der Raum dazwischen bestimmt für viele von uns die künstlerische und materielle Existenz – dort, wo man immer noch um Kunst ringt, aber auch Geld verdienen muss, auf der Bühne, an der Kasse. Du schaust natürlich vorzugsweise dorthin, wo Neues entsteht, wo sich Dinge verändern. In jedem Förderantrag steht das Wort „innovativ” – aber manchmal fällt mir dazu nichts mehr ein.

Ich lese immer weniger Namen, die ich kenne, die neuen merke ich mir schwer. Manche Fotos nehmen mir die Lust auf die zugehörige Kritik. Manchmal erlebe ich mich rat- und meinungslos. Manches verstehe ich nicht, manches überanstrengt mich, manches interessiert mich nicht. Zeitweise habe ich auch darüber nachgedacht, ob ich die Euro fürs Jahresabo nicht anderweitig ­einsetzen müsste. Regiefrauenquoten? Weiß nicht. Herrenwitze über Frauenfußball? Nö! Die schwarze Schminke bleibt im Kasten. ArmerAlterWeißerTheaterMann schlägt sich herum …

Ich habe es nie übers Herz gebracht, einen Schlussstrich zwischen uns zu ziehen, auch wenn die Versuchung da war. Aber dann hätte ich das Gefühl gehabt, mich von etwas zu verabschieden, was mit den Ursprüngen meines Berufswunsches zu tun hat.

Darum lass uns reden, was wir aneinander haben:

Du hast Dich verjüngt und bist ­erkennbar geblieben. Du bist gesamtdeutscher, europäischer, internationaler geworden. Du zwingst mich zur Auseinander­setzung und ich bin Dir dankbar für den Blick über meinen Tellerrand. Du überraschst mich mit Beiträgen, die aufregend tief an die Wurzeln ­gesellschaftlicher und künstlerischer Veränderungen gehen. In Deinem Ansatz, Theater als sozial eingreifend zu denken und Entwicklungen auf beiden Seiten der Rampe aufzuspüren, zu ­thematisieren und zu begleiten, fühle ich mich ganz bei Dir. Ich finde Dich ­mutig und diskursiv, voll Leidenschaft und Verstand.

Deshalb wirst Du mir weiter monatlich in gefühlt immer kürzeren Abständen und nachhaltig wechselnden Umverpackungen ins Haus kommen, wirst von mir durchgeblättert oder gelesen werden (tatsächlich oft im viel zitierten kleinsten Raum), manchmal werde ich Dich vielleicht auch liegen lassen. Nach einer Schonfrist wirst Du jetzt gnadenlos recycelt. Als die Ewigkeiten noch nicht vorbei waren, habe ich Dich gesammelt, bei Einsfünfzig war dann Schluss. Das Zonenpapier hielt zwar länger als der Staat, aber verfällt auch allmählich. Und Du bist ja digital archiviert.

Ich freue mich auf die Zeit mit Dir, bis dass der Werauch­immer uns scheidet. Und die paar Kröten für Dich werde ich ­immer haben, bis einst die Bayerische Versorgungskammer das Jahresabo absichert.

Alles Gute, ZENTRALORGAN, lass uns weitermachen, auf zur 100! //

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