Theater der Zeit

Thema: Festivals

Die bessere Welt

Die Wiener Festwochen zeigen zwischen Körperkampf und Selbstermächtigung ihr politisches Potenzial

von Margarete Affenzeller

Erschienen in: Theater der Zeit: Fuck off (09/2015)

Assoziationen: Österreich Akteure Wiener Festwochen

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Die Welt ist hässlich, sie verdient eine Widerrede. Für die Dauer von 120 Minuten rütteln die Teenage-Schauspieler vom Jungen Theater Basel an ihren Grundfesten. Sie halten, lautstark und vor Dringlichkeit keuchend, Reden an die Gegenwart, in der sie so ziemlich alles infrage stellen. „Noise“ in der Regie von Sebastian Nübling ist das performte politische Manifest einer kommenden Generation, die unduldsam auf die Welt blickt und aufrütteln will. Nübling weiß das jugendliche Empowerment gut zu kanalisieren und ihm mithilfe neuer Medien eine irrwitzige Form zu geben: Wie Cyborgs tanken die Darsteller ihre Smartphones und ihr eigenes Energielevel an einem himmelwärts weisenden Ladebaum auf, von dem Kabel wie Lianen herabhängen. Danach brausen sie im Pulk durch die Halle, um das lose herumstehende Publikum aufzustören. Das ist ein kluger, integrativer Mechanismus dieser famosen Aufführung, die vor allem durch ihr aufrührerisches Anliegen überzeugt: Ich will eine bessere Welt.

Irgendwann wird der Jüngste unter ihnen auf die Schultern der anderen gestellt und vollführt so einen halsbrecherischen Ritt durch das besorgt zu ihm aufblickende Publikum in der Betonhalle, einer stillgelegten Sargfabrik an der Stadtperipherie von Wien. Dabei skandiert er in einer vom Feuer seiner Leidenschaft oder seiner Wut massierten Sprache einen philosophischen Text des Schweizer Schriftstellers Guy Krneta über den Begriff der gesellschaftlichen „Bewegung“: „Wo wird heute noch eine politische Praxis formuliert?!“

Zwei Wochen zuvor hieß es in derselben Halle noch „Schlafen gehen, gesund frühstücken, lesen, Revolution, spazieren gehen, leichtes Abendessen, leichter Sex, eine Zigarette und um 23 Uhr ins Bett.“ Das klingt für viele gar nicht so verkehrt. Doch in einer Castorf-Inszenierung ist so ein Sager natürlich pure Provokation. Castorf ist nun wahrlich nicht die Entdeckung der Festwochen, aber sein langatmiges Videotheater beeindruckt noch immer. Seit 1999 zieht er bei den Wiener Festwochen seine dicke Dostojewski-Spur unbeirrt weiter. Auf „Dämonen“, „Erniedrigte und Beleidigte“, „Der Idiot“, „Schuld und Sühne“ sowie „Der Spieler“ folgte nun „Die Brüder Karamasow“.

Am knapp siebenstündigen Uraufführungsabend haben sich die sämtlich hochenergetischen Schauspieler so gut wie möglich an den Rändern der Bühne versteckt. Sie haben im Dämmerlicht des Innenhofes konspirativ die Köpfe zusammengesteckt, sind in den Holzkubus einer Sauna geflüchtet oder in die Karamasow-Datscha – stets begleitet von emsigen Kameraleuten. Castorf kümmert sich in seiner Ost-West-Dystopie keinen Deut um die Erzählökonomie, seine Textbausteine türmen sich zu einem riesen- und rätselhaften, weltanschaulichen Gebilde, das im Gehirn letztlich eindrücklich nachraucht, wobei es weniger erschöpfend auch gegangen wäre.

In Amerika portioniert man das Theater in kleinere Happen. Der New Yorker Regisseur Richard Nelson legte sein Kammerspiel „The Apple Family Plays“, das als einmaliges Europa-Gastspiel seinen Weg nach Wien fand, vorsorglich als Vierteiler an, der an vier aufeinanderfolgenden Abenden gezeigt wurde – und imitiert so das Format der Fernsehserie auf der Bühne. Mit beträchtlichem Gewinn: Tschechow’sches Herumknotzen unter US-amerikanischen Mittelschichtsintellektuellen. Von drei Seiten einer Arenabühne blickt das Publikum auf das Wohnzimmer der sechsköpfigen Familie, die sich als waschechte Demokraten im Städtchen Rhinebeck (NY) um die midterm elections Sorgen macht. Hausherrin Barbara trägt Salate auf, jede kleinste Regung ist inszeniert: Seufzer, aufgesetzte Höflichkeit oder die angespannte Verständigung über den an Demenz leidenden Onkel. Zwischen den einzelnen Teilen liegen größere Zeitsprünge, die die Entwicklung und Komplexität der Figuren sichtbar machen. Das ist das Wertvolle an diesen Abenden. Man studiert Umgangsformen, nimmt Anteil an den Problemen oder an Diskussionen über Obama und das Post-9/11-Gefühl.

Insbesondere mit exzentrischen Stückbearbeitungen taten die Wiener Festwochen in diesem Jahr viele Glücksgriffe. Meist waren es profunde Neudichtungen oder Stückkonzepte, die ein altes Drama frisch aufzuschlüsseln halfen. Der in Zagreb arbeitende Film- und Theaterregisseur Bobo Jelčić beispielsweise polte „Die Möwe“ komplett um. Tschechow geht in dieser Produktion des Zekaem-Theaters mit Körperkomik auf wundersame Weise Hand in Hand. Das den Figuren innewohnende Unbehagen: Es drückt sich in unverbrauchtem Slapstick aus. Jelčić hat vergnügt in die Blase dieser Künstler-Patchworkfamilie gestochen, die angespannte, tragödische, langatmige Luft entweichen lassen und den Rest auf drei abgewrackte Polstermöbel verfügt. Es glückte so ein heiterer Abend, der seiner Spaßigkeit nie zum Opfer fällt, sondern präzise den Tschechow-Lähmungen nachspürt.

Nicht weniger radikal verfuhr Dušan David Pařízek mit Jaroslav Hašeks „Der Fall Švejk“. Seine Bühnenfassung des Schelmenromans über einen unbegabten Soldaten im Ersten Weltkrieg kommt ohne den Titelhelden aus. An seiner statt diskutieren nicht ganz zurechnungsfähige Militärs unter einem drohenden Blätterhimmel von Formularen (Bürokratie!) über den Hochverrat des kleinen Mannes (er wurde in Feindesuniform aufgegriffen). Es entspinnt sich – mit wunderbar stoischen Mimen (Jiří Černý, Vladimír Javorský) – ein süß-saures Trauerspiel der Völkerverständigung, das in seinen mehr oder weniger versteckten Ressentiments den Schatten auf unser ewiges Projekt Europa vorauswirft. Das lustvolle Markieren von Sprachdifferenzen gibt dem Ganzen einen heiter-makaberen Grundton. „Tscheche!“ – das klingt für manche einfach nur wie ein kräftiger Nieser.

Ein ganz eigenes Ding extrahierte auch Ivo van Hove aus den drei Shakespeare-Dramen „Henry V.“, „Henry VI.“ und „Richard III.“. Seine Neukompilation „Kings of War“ zeichnet anhand dreier Königsporträts die blutbefleckte Genealogie englischer Herrschaft nach. In einem War Room frei nach Winston Churchill wird, kaum hat ein König das Zeitliche gesegnet, der rote Teppich für den nächsten ausgerollt. Viele schöne Zutaten weist diese in viereinhalb Stunden allerdings deutlich durchhängende Produktion der Toneelgroep Amsterdam auf: Videobotschaf-ten vom Schlachtfeld, tragische Countertenorklänge, Pyjamakönig allein zu Haus. Doch all diese halb backstage ausgetragenen kleinen Manöver in einer Machtzentrale halten dem langen Abend nicht stand. Zumal das Fernsehen mit Serien wie „House of Cards“ oder „The West Wing“ längst für sehr gutes einschlägiges Anschauungsmaterial gesorgt hat.

Noch eine Frischzellenkur für einen Klassiker: Der australische Regisseur Simon Stone, neuerdings Hausregisseur am Theater Basel, hat Henrik Ibsens „John Gabriel Borkman“ zum spaßigen Boulevardtheater umgedichtet. Schnatterpalaver über Facebook und Skype statt bleierne Verbarrikadierungssermone bestimmen diese Hochgeschwindigkeitskomödie, die sich perfekt abspult. Doch am Ende bleibt vom Bankiersdrama vorwiegend eines übrig: die lustige Familientragödie.

Nur mehr den Namen von Antigone braucht Rogelio Orizondo für seine Heldenfortschreibung „Antigonón, un contingente épico“, inszeniert von Carlos Díaz. Die Sprache des hochbegabten kubanischen Dramatikers (siehe TdZ 2/2014) vermählt Theorie mit Theaterpracht. Bei der Wien-Premiere (einem einmaligen Europa-Gastspiel) kam man aus dem Staunen nicht heraus, wie klug und aufregend sich hier Mythos und Arbeiterkultur, Weltgeschichte und Küchenrezepte, Märtyrerbriefe und WHO-Fleischkonsumwarnungen zueinander verhalten. „Antigonón“ ist ein für europäisches Publikum ungewöhnliches „Frauenstück“, das die Selbstbehauptung eines kolonialisierten Volkes als weiblichen Körperkampf zeigt. Der Kampfanzug ist dabei die Nacktheit: Drei Schauspielerinnen treten in diversen Oben- und Unten-ohne-Varianten spielerisch und akrobatisch perfekt in den Krieg um das Heldennarrativ. Es entwickelt sich ein hochpolitischer Catwalk, der dasselbe politische Potenzial enthält wie jener in Nüblings „Noise“ mit dem Jungen Theater Basel.

Solche Verbindungslinien sind den Festwochen mehrmals geglückt. Das ist in Zeiten heftiger Staffelübergaben auf Leitungsebene keine Kleinigkeit. 2016/17 folgt Tomas Zierhofer-Kin auf den erst im Vorjahr angetretenen Chef Markus Hinterhäuser. Das Schauspiel wird – nach Frie Leysens frühzeitigem Ausstieg und nach Stefan Schmidtkes diesjähriger Interimssaison – in der kommenden Spielzeit die Russin Marina Dawydowa kuratieren, die derzeit Leiterin des Moskauer NET-Festivals ist. //

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