Theater der Zeit

Spiele, von denen wir nicht wissen, dass wir sie spielen

Gespräch über This Is Not a Game …

von Thomas Oberender und Arne Vogelgesang

Erschienen in: Hybridtheater – Neue Bühnen für Körper, Politik und virtuelle Gemeinschaften – Drei Gespräche (12/2021)

Assoziationen: Dossier: Digitales Theater

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Arne Vogelgesang recherchiert seit mehreren Jahren intensiv zu rechten Netz-Communitys, die sich auf digitalen Plattformen wie Reddit oder 8chan organisieren, austauschen und einen gemeinsamen Nenner in verschwörungstheoretischen, demokratiefeindlichen und misogynen Ideologien finden. Die Vernetzung und Politisierung von Gruppen wie den Reichsbürger*innen oder dem QAnon-Netzwerk hat die Grenzen des digitalen Raums längst verlassen und wirkt in die analoge Gegenwart zurück: Attentate, Demonstrationen und Angriffe auf staatliche Institutionen wie das Washingtoner Kapitol oder den Berliner Reichstag im Zuge der Corona-Proteste sind die medienwirksame Spitze eines Eisberges, der sich aus den Echokammern und Filterblasen des Netzes und der sozialen Plattformen erhebt. Arne Vogelgesangs Interesse an diesen Gruppen und Phänomenen reicht über deren politische Implikationen hinaus: Er betrachtet sie aus einer theatralen Forscherperspektive. Denn Rollenspiel, Inszenierung, Narration und ästhetische Transgression sind Kategorien, ohne die ein Phänomen wie QAnon, das einem überlebensgroßen, labyrinthischen Live-Rollenspiel gleicht, nicht auskommt. Gerade der Spielcharakter ist für viele dieser Gruppen zentral, unabdingbar und gemeinschaftsstiftend: Sei es die aggressiv-misogyne „Flirttechnik“ der sogenannten Pick-up-Artists, die nach einer konkreten Handlungsanleitung agieren, oder die Schnitzeljagd der Q-Anhänger*innen nach der Super-Weltverschwörung, die sie weiter in wahnhafte Fiktion treibt – Phänomene wie diese lassen sich als alternative Theaterkonzepte begreifen und lösen unser herkömmliches Verständnis von „Bühne“ auf. In Vorträgen und Bühnen- und Film-Essays arbeitet sich der Regisseur und studierte Ethnologe Arne Vogelgesang an diesen games ab und sucht nach den Strukturen eines Phänomens, das ohne die Einbettung in den Plattformkapitalismus und die digitale Feedback-Kultur nicht existieren könnte.

Thomas Oberender: Ihr Film beziehungsweise Ihre Performance-Lecture This Is Not a Game beschreibt ein Spiel, das kein abgegrenztes Spielfeld hat, sondern dessen Spielfeld die Welt als Ganzes ist. Das Spiel beziehungsweise Online-Netzwerk QAnon spielt mit der Welt, wie wir sie kennen. Aber es sagt gleichzeitig auch, dass wir sie nicht wirklich kennen. Wir kennen nur eine für uns errichtete Kulisse. Für viele Menschen entsteht so eine massive Unwirklichkeitserfahrung, denn alle, die dieses Spiel spielen, sehen die Welt mit den Augen des Spiels, und für das Spiel ist die Welt ein riesiger Fake, der leider eben nur ein paar Eingeweihten auffällt. Aus der Perspektive der Verschwörungstheorie wird mit uns gespielt. Das ist sehr interessant. Für die QAnon-Anhänger*innen sind die vielen ausgewählten Details oder Vorgänge aus der Welt der täglichen Nachrichten nur die Camouflage einer dahinter verborgenen Wirklichkeit, die sie dank ihrer Recherchen als Mitspieler*innen enthüllen. Sie sind die Erleuchteten. Wir sind die Dummen, die den großen Fake noch nicht durchschaut haben. Aber zum Glück gibt es diesen anonymen Absender von Informationen namens Q, der regelmäßig Fragen veröffentlicht, die uns die Augen öffnen sollen. Sie beschreiben in Ihrer Arbeit die Welt von QAnon als eine Art Live-Action-Role-Play (LARP), das auf dem relativ entlegenen Imageboard 4chan begann und dann nach „draußen“ gelangte, in das „Internet für alle“, die sozialen Netzwerke und das realgesellschaftliche Leben. Für die Spieler*innen-Community wurde Trump so zum Märtyrer in der echten Welt, weil er in der Mythologie ihres Spiels den deep state einer verbrecherischen Elite angreift. Diese Community ist zunehmend auch in Deutschland präsent. Man könnte sagen, dass QAnon, das mit seiner Fiktion die gesamte Wirklichkeit „verzaubert“, das größte Gegenwartskunstwerk oder Massentheater unserer Zeit ist. Aber seine Wirkung in der realen Welt, nachdem es sich im Internet als eine Bewegung radikalisiert hat und herüberschwappt, ist äußerst fatal – es spaltet die Gesellschaft und fängt an, selber zur politischen Kraft zu werden, siehe Attila Hildmann oder die versuchte Reichstagserstürmung im Zuge der Corona-Proteste. Mein Eindruck am Ende Ihres Filmes war: Vielleicht ist QAnon das faszinierendste Spiel, das Menschen sich je ausgedacht haben, aber es ist auch im selben Moment das gefährlichste. Sie haben sich wie ein Feldforscher in diese Szene hineinbegeben, was auch gut passt, denn Sie haben Ethnologie und Theaterregie studiert. Und auch schon vor dem QAnon-Tribe haben Sie sich mit anderen Selbstdarstellungswelten im Netz beschäftigt, denen von Rechtsextremen oder Influencer*innen – alles Figuren in einer gescripteten Welt voller Ambiguität und Rollenspiele, aber eben auch politischer Implikationen. Seit wann betrachten Sie diese netzbasierten Szenen als Theater?

Technologische Räume

Arne Vogelgesang: Ich habe eine klassische Theaterregie-Ausbildung am Max Reinhardt Seminar absolviert, an dem das Telos der Ausbildung allerdings nicht unbedingt das war, was ich später getan habe beziehungsweise heute mache. Was mich relativ früh interessiert hat, waren technologische Räume, also Umgebungen durchaus auch im zeitlichen Sinne, zu denen beziehungsweise in denen menschliche Körper sich zu den von ihnen geschaffenen Medien und Maschinen verhalten müssen. Ich glaube, dazu kam es, weil das die Realität war, in der ich zu dieser Zeit bereits größtenteils lebte – ich war auch schon vor meinem Studium relativ viel mit dem Computer und dem Internet beschäftigt.

TO: Wann war das?

AV: Ich habe von 2002 bis 2006 studiert. Intensiv im Internet bewegt habe ich mich seit Ende 1999. Vorher, gegen Ende meiner Grundschulzeit, gab es schon Computerspiele. Das heißt, digitale Medien waren ein prägender Teil meines Lebens, aber es hat gedauert, bis dieses Interesse ins Theater gedriftet ist. Wahrscheinlich dauert es beim Theater sowieso immer ein bisschen länger, bis die Sachen dort ankommen. Bereits meine ersten Stücke hatten sich mit Technologie und bildgebenden Verfahren, Videobildern und dem Nachspielen von Videodokumenten beschäftigt. Aber erst 2013 gab es einen Moment, in dem ich dachte: „Augenblick mal, ich bin unglaublich viel im Internet unterwegs, die ganze Zeit. Ein signifikanter Teil meines Lebens spielt sich dort ab und das Netz ist ein realer Erfahrungsraum für mich. Warum ist das eigentlich nicht die Grundlage von dem, was ich im Theater mache?“ Dieser Moment hat einiges verändert.

Man kann ja immer nur von dem erzählen, was man erlebt oder zur Kenntnis nimmt – was weder völlig fremd noch völlig eigen ist, sondern gerade anders genug, um Interesse zu wecken. Das erste direkt auf das Internet bezogene Stück, das ich mit der Unterstützung von Kolleg*innen gemacht habe, war daher ein Stück über Romantik im Online-Zeitalter, insbesondere über die Frage, was die Männerfigur in der Online-Romantik auszeichnet. Singlebörsen oder Pick-up-Coachings waren damals schon ein großes Thema, und ich wollte dieses Material unbedingt collagieren. So entstand das erste Stück in einer Genealogie von Arbeiten, die sich im Wesentlichen nur noch auf Internetmaterial und Software stützten, um sich daraus selbst zu bauen.

TO: War das eine Form von Lecture-Performance oder der Versuch, diese Internet-Erfahrungen in eine klassische Theatersituation zu übersetzen?

AV: Ich glaube, es war zu wenig narrativ und kommentierend, um eine Lecture-Performance zu sein. Es war wohl eine Art Monolog-Performance. Ein Kollege war dabei – Christoph Wirth, der mit seinem Kollektiv auch bei einem Projekt in der Reihe „Immersion“ bei den Berliner Festspielen zu Gast war. Er hat den Sound für die Performance gemacht und Musik geschrieben, die dem Stück einen guten Sog gab. Und Marina Dessau, eine Kollegin, mit der ich schon seit Schulzeiten auf Bühnen stehe, hat mich performativ unterstützt. Ich habe in dieser Collage versucht, das, was mir an romantischem „Text“ im Netz entgegenkam – Post-Dada-Poesie von Spam Bots, Motivationstexte, Ratschläge oder schlecht übersetzte Hook-ups von Werbemails –, einfach runterzusprechen und zwischendurch Pick-up-Coachings mit dem Publikum zu veranstalten.

TO: Was ist das – ein Pick-up-Coaching?

AV: Ein Pick-up-Artist (PUA) ist ein selbsternannter „Verführungskünstler“. In dieser heterosexuellen Subkultur betrachten es Männer als Kunst, so viele Frauen wie möglich aufzureißen und als Kerben auf dem eigenen Waffenschaft zu verbuchen. Es gibt Dating Coaches, die in den Pick-up-Foren versuchen, die hetero-romantische Interaktion zu schematisieren, vermeintliche Frauentypen zu klassifizieren und Manipulationstechniken zu vermitteln, die Adepten angeblich sicher zum Erfolg führen. Eine sehr skurrile, aber auch nicht ungefährliche und weitgehend misogyne Szene, die sehr viel Output im Internet hat. Es gab und gibt natürlich Heerscharen von jungen Männern, die gerne wissen wollen, wie sie im Flirt erfolgreich sind und entweder eine Freundin kriegen, wenn sie nicht allzu hartherzig sind, oder möglichst viele Frauen aufreißen, wenn sie sich ein bisschen empathieloser geben.

Destruktion als Therapie

TO: Das ist Michel Houellebecqs Roman Ausweitung der Kampfzone – nicht in der depressiven oder melancholischen Variante, sondern als Wettbewerb.

AV: Dieser ist auf jeden Fall aggressiv, aber mit Übergängen in die depressive Variante. Teile der PUA-Szene sind mit eingeflossen in das, was man heute Incel-Kultur nennt – „involuntary celibates“ –, quasi der nicht erfolgreiche Teil im Wettbewerb. Bei den Pick-up-Artists drückt sich die Frauenverachtung im Erfolg ihrer Behandlung des Objekts „Frau“ aus. Und bei den Incels im Misserfolg, für den man wiederum Frauen verantwortlich macht. Beide Szenen greifen ineinander.

TO: Das erinnert mich an den Film In the Company of Men von Neil LaBute, der Ende der neunziger Jahre entstanden ist. In dessen Zentrum steht die Wette von drei Geschäftsleuten, ein Mädchen zu verführen, das blind ist. In seinem Stück The Shape of Things hat LaBute ein paar Jahre später gezeigt, wie eine Kunststudentin aus einem jungen Mann, der Adam heißt, physisch und psychisch einen anderen Menschen macht, eine lebende Skulptur, und diesen Prozess als ihr Abschlussprojekt an der Kunsthochschule dokumentiert. Das war 2003, ungefähr zu jener Zeit, von der Sie sprechen. Vielleicht haben diese Spiele ja etwas mit einer Gesellschaft zu tun, die damals das Ende der Geschichte gefeiert hat, den Neoliberalismus und die Bereitschaft, alles als Ressource zu begreifen – nur wird das hier ins Seelische gewendet. Ich wusste nicht, dass diese Verführer-Szene eine eigene Subkultur im Netz hat.

AV: Ja, der Neoliberalismus war und ist begeistert vom Machtpotenzial angewandter Spieltheorie. Eines der berühmtesten Bücher in der Pick-up-Szene heißt tatsächlich The Game, weil die Flirtinteraktion und der Umgang von Männern mit Frauen als ein Spiel verstanden wird, dessen Regeln man lernen kann – mit dem Effekt, dass Frauen, die an solche „Künstler“ geraten, natürlich nicht wissen, dass sie gerade deren Spielgegenstand sind. Das ist ein Machtpotenzial, das mich interessiert hat: Wenn eine Partei sagt, „So, ich spiel jetzt mal und das ist mein Bezug zur Wirklichkeit“, und die andere Partei das nicht weiß, kann das sehr unangenehme Folgen haben.

TO: Die historische Variante dieser Haltung ist wahrscheinlich Choderlos Laclos’ Spiel der Verführungen in Gefährliche Liebschaften. In der zugespitzten Bearbeitung von Heiner Müller sind seelischer Sadismus und Takt, Feingefühl und Esprit die Mittel der Verführung und erschaffen eine Welt, in der alles Zeichen und Beute ist. Bei Laclos verbindet sich das stark mit dem Ancien Régime. Naive Liebe war für die Hofgesellschaft nur etwas für Bauern und Kinder – was natürlich auch nicht stimmt.

AV: Sartres Schmutzige Hände zeigt die bürgerliche Variante davon, in der zumindest beide Parteien spielen, aber auch nicht rauskommen aus dem Spiel. Pick-up-Artists sind vielleicht die sehr, sehr runtergekochte und einseitige Variante dieses Spiels.

TO: Sie sehen in jeder Frau die Trophäe.

AV: Mehr als Preise können sie nicht sehen.

TO: Solche Beobachtungen zeigen, dass Sie in Ihren Arbeiten oft eine ethnologische Perspektive einnehmen. Sie sind mit intensiven Feldstudien verbunden, auch wenn das Feld bei Ihnen oft das Netz ist. Am Anfang Ihrer Regiearbeit stand, wenn ich das recht verstehe, also das Thema der Liebe in Zeiten des Internets.

AV: Wahrscheinlich das klassische Einstiegsthema im Theater, ja. Das Thema der Liebe und ihre Metamorphose im Netz. Zu Beginn war das noch sehr allgemein angelegt, aber nach dem ersten Feedback habe ich das auf jene hetero-männliche Perspektive zugespitzt, die zum großen Teil auch meine ist: Wir haben unserer Collage noch eine Version des SCUM-Manifests von Valerie Solanas hinzugefügt, sehr eingekürzt, mit Google übersetzt und in Tagebuchform umgeschrieben. So entstand eine Art Selbstbekenntnis, und all der Hass, den Solanas den Männern in ihrem Text entgegengeschleudert hat, wurde bei uns quasi zu einem Dokument männlichen Selbsthasses. Wir haben das Ganze für das Publikum als „Meditation über den inneren Mann“ gerahmt. Letzten Endes ging es darum, was vom heterosexuellen Mann noch übrig bleibt, wenn man sich ansieht, in welcher Form er unter diesen Internetbedingungen der Partner*innensuche – wenn man es überhaupt noch so nennen will – auftaucht. Es war ein sehr destruktives Stück. Destruktion als Therapie, wenn man so will.

Parakünstlerische Praktiken von Netzakteur*innen

TO: Schon bei Ihrem ersten Projekt war zu sehen, was auch Ihren jüngsten Film This Is Not a Game prägt: Dieser Übergang eines „Spiels“ – man könnte auch sagen einer Geisteshaltung oder Verhaltensweise –, das sich zunächst in der digitalen Kultur artikuliert und dann in die physische Welt übertritt. Auch bei Ihrer Analyse von QAnon zeigen Sie, wie ein Spiel von Insider*innen-Plattformen wie 4chan oder 8chan zunächst in das „Internet für alle“ wechselt und schließlich in das Alltagsleben hier draußen.

AV: Ja, das war thematisch das, was mich die nächsten Jahre begleitet hat. Und die Frage, wie wir diese Kultur und auch das politische Material aus dem Netz im Theater darstellen können. So hat sich relativ schnell eine Mischung aus Aufklärung und dem Versuch, das Ganze künstlerisch zu behandeln, ergeben. Wozu auch zählt, dass wir das, was von den genannten Akteur*innen im Netz betrieben wird, ebenfalls als eine para-künstlerische Praxis begreifen. Sehr oft besprechen Internet-Handelnde ihr Tun oder das der anderen in den Metaphern von Theater, Darstellung oder Repräsentation – all das macht es doppelt interessant, dieses Material ins Theater zu tragen.

TO: Theater funktioniert ja wie ein gigantischer Staubsauger, für den alles interessant ist, was Gegenwart irgendwie transzendiert. Das können alte Texte sein, mit denen man die Gegenwart über die Schulter wie durch einen Spiegel anschaut, oder Formen, Wissen und Sprachen fremder Herkunft, die einen zur Übersetzung zwingen. So hat das Theater auch Sie aufgesaugt und gesagt: Das sind Nachrichten aus einer anderen Welt, obwohl wir mittendrin leben. In This Is Not a Game kristallisiert sich Ihre jahrelange Arbeit in einer künstlerischen Form und mit einem Vokabular heraus, die Sie den Spielwelten der Internet-Communitys entlehnen und nicht der traditionellen Theaterbühne. All das prägt Ihren Bericht über die Menschen und ihre Gebräuche, die Sie im Netz studiert haben, auch formal. Wen treffen Sie im Netz?

AV: Ich glaube, mein Hauptaugenmerk liegt weder auf den Menschen noch auf den Figuren, sondern eher auf Beziehungen und Handlungen im weitesten Sinne, die ja auch Theaterstoff sind. Mich beschäftigt die Frage, was Leute da gerade tun, in dieser neuen virtuellen Wirklichkeit. Denn was die einen tun, könnten auch andere tun – es kann Vorbild und damit politisch wirksam sein. Handlung und Handelnde lassen sich aber natürlich nicht ganz klar trennen.

TO: Das ist wie auf der Bühne oder im Spiel. Wer ist das, den wir da beobachten?

AV: Genau. Was ist das? Spielen sie oder spielen sie nicht, und wenn ja, was für ein Spiel spielen sie und wie begreifen sie sich darin? Das findet man wenn überhaupt erst im Laufe der Zeit heraus. Die ersten Arbeiten, die wir 2014 mit politischem Material gemacht haben, stützten sich stark auf Momente von Selbstinszenierungen in YouTube-Videos, also auf Dokumente von Menschen, die sich vor die Kamera setzen und dann anfangen, Propaganda zu machen. Das waren einerseits Dschihadist*innen, andererseits Leute, die sich selber Patriot*innen und „Islamkritiker*innen“ nennen – das Milieu also, das später mit Pegida auf die Straße ging. Es waren die theatralen Settings ihrer Propaganda, für die wir uns interessiert haben. Wobei dieses Material schon in den Jahren vor 2014 entstanden ist, wenn auch nicht sehr viel früher – so alt sind die sozialen Medien noch gar nicht. Sie kommen einem nur so alt vor.

TO: Das stimmt.

AV: Ich habe neulich überlegt, seit wann es eigentlich YouTube gibt. Die ersten politischen YouTube-Materialien, die ich gesammelt habe, stammen ungefähr von 2008.

TO: Seit wann gibt es „Reichsbürger*innen“? Man könnte sie ja für eine Art Spielgruppe halten, wenn ihr Treiben nicht diesen fanatischen und demokratiefeindlichen Aspekt hätte, der kein Spiel ist. Wann haben sie damit begonnen, Bauernhöfe zu kaufen, Vereine zu gründen und eine informelle Staatsstruktur aufzubauen – mitten unter uns? Das muss doch ein Vorspiel gehabt haben? Als Sie sich mit dieser Bewegung beschäftig haben, sind Sie wahrscheinlich auch in deren digitale Vorgeschichte zurückgekehrt, ähnlich wie bei Ihrer Arbeit über QAnon.

Mediales Mordtheater

AV: Auf die Reichsbürger*innen können wir gerne später zurückkommen. Sie sind sehr interessant. Ihre Geschichte geht tatsächlich schon lange vor dem Internet los. Aber ich würde gerne noch bei 2014 bleiben, als wir mit Recherchen zum NSU und zu Anders Breivik die Digitalisierung des Terrors nachzuzeichnen versuchten. Breivik, der NSU und Al-Qaida waren bereits Fälle, bei denen Netzaktivismus und digitale Propaganda in die reale Welt vorgedrungen waren. Breiviks Attentat auf Utøya und auch die islamistischen Anschläge hatten reale Menschenleben gekostet, aber mir fiel auf, dass der Begründungszusammenhang dafür seltsam digital war. Die Tatsache, dass Breivik im Grunde all die Menschen, die er erschossen hat, nur erschossen hat, um Werbung für sein Manifest zu machen, und für seinen eigenen Terroranschlag sogar noch extra einen Trailer gedreht hat, das waren bereits Zeichen dafür, dass sich irgendetwas verändert hatte. Vielleicht nicht in Gänze, weil Terror immer mit einem solchen Kalkül funktioniert – er zielt ja auf mediale Verbreitung und die Medienlandschaft ist heutzutage nun mal eine digitalisierte –, aber die Aktivitäten im Netz waren selbst Treiber für Radikalisierung geworden. Wir haben es mit einer neuen Art von Kreislaufwirtschaft zu tun. Es gibt Propaganda im Netz, die auf reale Aktionen abzielt, ansonsten wäre sie nicht politisch. Was an Medienlandschaften im Internet zur Verfügung steht, ist eine riesige hungrige Verwertungsmaschinerie für alle Formen von Aktionen im physischen Raum. Selbst wenn diese dort kaum auffallen, können sie digitalisiert eine große mediale Wirkung entfalten und darüber dann wiederum zurückspielen in die so genannte „reale“ Welt, die wir immer noch sprachlich abtrennen von der Internetwelt, weil unser Vokabular der Tatsache hinterherhinkt, dass das natürlich alles miteinander verzahnt und verwoben ist.

TO: Wutreden von Menschen, die sich im Netz über etwas aufregen, sind ein Theater, das von vielen Menschen leidenschaftlich angenommen wird. Sie haben in einem anderen Zusammenhang darauf hingewiesen, dass politische Propaganda im Netz immer auch eine Form von Entertainment-Charakter besitzt, da sie sich auf Plattformen abspielt. Sie spricht Leute direkt an, wirbt um deren Aufmerksamkeit und Likes und will sie auf eine emotionale Reise mitnehmen, für die man den Anlass schaffen muss. Diese Reise ist in der Regel ein geschickt produzierter Flow von Bildern und Informationen, der unterhält, aber auch tödlich enden kann, wenn die ultimative Unterhaltung das ist, was kein Spiel mehr ist. Sie beschreiben diese Verschiebung des Entertainments ins Tödliche als eine Weiterführung der digitalen hate speech als live gefilmte Anschläge oder Amokläufe in der analogen Welt. Diese ultimative Variante des Spiels kann man eigentlich gar nicht Amoklauf nennen, sondern mediales Mordtheater. Anschläge wie von Stephan Balliet auf die Synagoge in Halle werden im Internet für Menschen aufgeführt, die live verfolgen, wie man das in der echten Welt tut, mit Helmkamera und bereits vorher gebasteltem Soundtrack. Was zu einer sehr problematischen Form von Zeug*innenschaft führt. In einer fantastischen Ausstellung von Inke Arns zum Alt-Right-Komplex im Dortmunder U gab es einen Raum, in dem die Aufzeichnung einer Aufführung von Milo Rau über Anders Breivik lief. In Breiviks Erklärung – so hieß das Projekt – hat die Schauspielerin Sascha Özlem Soydan dessen Manifest vorgelesen, sichtbar um Distanz bemüht, aber ich habe mich dabei ertappt, wie ich diesen Gedanken eines Massenmörders gelauscht habe und dachte: „Wenn ich nur ein bisschen labiler wäre und mich auf diese zum Teil perfide Argumentation einließe, würde ich mich einer Gehirnwäsche öffnen, der scheinbar auch Breivik erlegen ist.“ Wird in diesem Dokumentar-Theater das Gift vielleicht doch weitergegeben? Wenn Teenager*innen in dieser Videokabine sitzen und Breiviks satanische Verse hören, konsumieren sie eine sehr starke Droge, die man unkommentiert austeilt. Das gilt natürlich nicht nur für Teenager*innen. Als ich Breivik via Sascha Özlem Soydan über die japanische Kultur schwärmen hörte, lief es mir kalt den Rücken runter. Aber wahrscheinlich ist es der einzige Weg, diese Dämonie öffentlich zu machen, für alle bekannt und diskutierbar. Wie beurteilen Sie als Experte solch riskante Transfers, die sehr von der Erlebnissituation des Publikums abhängen?

Eine Art Verständniskunst

AV: Die Frage, was man repräsentiert, zu welchem Zweck und für wen – und repräsentiert auch in dem Sinne, dass man etwas reproduziert, das bereits woanders politische Ziele hatte, die ganz andere sein können –, ist eine Frage, die man immer wieder neu anschauen und beantworten muss. Ich glaube, dass sich mit der Zeit ändert, welche Entscheidungen man trifft und welche nicht. Bei Milo Rau war es ja die Schauspielerin, die die Distanz zum Text hergestellt hat oder zumindest herstellen sollte. Es hängt auch vom Kontext und dem Publikum ab, ob solche Distanzierungen gelingen oder nicht – und darüber wird wahrscheinlich auch immer gestritten werden. Wir haben, nachdem wir ein Reichsbürger*innen-Stück gemacht haben, eine Gastspiel-Anfrage aus Bautzen bekommen. Bautzen ist eine Stadt, die in mehrfacher Hinsicht akute politische Probleme hat, auch mit Reichsbürger*innen-Ideologie. Ich habe damals schweren Herzens eine Absage geschrieben, in der ich sinngemäß sagte: „Wir haben dieses Stück für ein Publikum in einem Berliner freien Theater entwickelt, bei dem wir ziemlich genau wissen, wer da hinkommt und wer nicht. Unser Stück besteht nur aus Originalmaterial, das collagiert wurde, und rechnet damit, dass das Publikum eine kritische Distanz zu den Materialien einnimmt und vielleicht eher den beunruhigenden Effekt erlebt, dass ihnen manche Dinge, die gesagt werden, gar nicht so fremd sind. Es ist für einen Ort geschrieben, an dem Theater eher eine Art Verständniskunst betreibt, was aber für ein Publikum in einer Stadt, wo die Hälfte der Leute mit diesen Ideen sympathisiert, eine grandios falsche Aktion wäre, denn dort bräuchten wir ein völlig anderes Stück.“ Ich denke also, man muss nicht nur klären, was man produziert und reproduziert, sondern auch für wen und was die Vorannahmen über das Publikum sind – weil diese zwangsläufig eine Auswirkung darauf haben, wer ein Stück zu sehen kriegen wird und wer nicht. Weil all die Leute, mit denen man nicht rechnet, dann auch nicht kommen werden. Oder erst recht – aber als Feinde. Das sind Überlegungen, die man, wenn man mit dokumentarischem Material umgeht, vor allem dann immer wieder anstellen muss, wenn man den Anspruch hat, das Material als Dokument mit nicht zu viel Wertung zu versehen, wofür es gute Gründe geben kann.

Manchmal mag Agitprop-Theater das Richtige und Nötige sein. Aber Theater kann auch ein Raum sein, in dem Dinge befragbar werden, in dem man es erst mal eine Weile aushält, dass man nicht genau weiß, was man davon hält. Politische Haltung soll ja kein Reflex sein, sondern auch Ergebnis von Reflexion. Dadurch dass die politische Belagerung oder zumindest die Belagerungsmentalität in der letzten Zeit zugenommen hat, werden diese offenen Räume gefühlt seltener. In dieser Situation kann Kunst ein Raum sein, in dem man sich ein bisschen freischaufeln kann, obwohl es kein unpolitischer Raum ist. Welche Politiken hätte Kunst in diesem Zusammenhang anzubieten? Über solche Politiken nachzudenken, muss on the fly bei der Arbeit stattfinden. Manchmal gelingt das, manchmal nicht.

TO: Schon das Intro von This Is Not a Game ist von der Berücksichtigung der verschiedensten Zusammenhänge, in die sich Ihre Arbeit begibt, geprägt. Zunächst geben Sie den Hinweis auf antisemitische und rassistische Materialien, der den dokumentarischen Quellen und der unkommentierten Art, wie Sie damit umgehen, geschuldet ist. Aber Sie halten auch eine zügige Ansprache an die hater, deren Angriffe Sie prophylaktisch beantworten – als eine Art Gegenzauber zu jener toxischen Rahmung, die vom anderen politischen Lager kommen wird. Dieser Prolog etabliert einen Ton, der aus der Feedback-Kultur des Internets kommt. Vielleicht hilft dieses Intro auch, diese Belagerungsmentalität zu durchbrechen, von der Sie gesprochen haben.

AV: Das müssten Sie mir genauer erklären.

TO: Indem Sie das, was Ihnen die hater später vorwerfen könnten, selber schon vorwegnehmen und als Gegenregung in Ihren eigenen Argumentationsstrang einbauen, holen Sie die Gegenseite ja gewissermaßen ins Boot, nehmen sie auf, und das, was vielleicht mal als Antwort gedacht war, als Todesstoß, als Denunziation – all das wird plötzlich wieder Teil eines Prozesses, einer Auseinandersetzung und ist grundsätzlich offen. Bei Belagerungsmentalität denke ich an die shrinking spaces, die wir in der Regel mit autoritär regierten Ländern wie der Türkei, dem Iran, Ägypten oder Russland verbinden, in denen die Handlungsräume der Zivilgesellschaft durch die Regierenden stark eingeschränkt werden. Aber wir haben genau das auch in den USA in der Trump-Zeit beobachtet. Identitätspolitik führt ja interessanterweise oft nicht zu mehr Toleranz, sondern zu mehr Grenzen, No-Gos und neuen Tabus. Und die AfD und die Querdenken-Bewegung haben auch hierzulande eine eskalierende Argumentationsweise entwickelt, die sozial spaltet, weil es nur noch um die emotionale Reise geht, die Klicks. Auch der Begriff cancel culture steht ja, je nachdem wer ihn verwendet, für die Tilgung und Beseitigung von diskriminierend empfundenen Aussagen und Positionen – eine ursprünglich linke Strategie, die inzwischen von der politisch Rechten für ihren identitären Kulturkampf übernommen wurde.

AV: Ja. Ich glaube, für das, was ich mit Belagerungsmentalität meine, spielt es eine große Rolle, dass die Rechte seit einigen Jahren kulturell in der Offensive ist. Aber es ist nicht nur das. In vielen Sozialmedien sind politische Ökonomien entstanden, die aus als normverletzend empfundenen sprachlichen Aussagen große Mengen Aufmerksamkeitskapital schöpfen können – egal, ob diese aus Kalkül, Unreflektiertheit, Ungenauigkeit oder Unwissen getätigt wurden. Manchmal weiß man ja nicht genau, warum Menschen sprechen, wie sie sprechen. Aufgrund der Möglichkeit von User*innen, Inhalte kopieren und zirkulieren lassen zu können, schlägt vieles enorme Wellen, das vorher nie wichtig geworden wäre. Diese Aufregungsökonomie regiert quer durch alle politischen Spektren. Mit Skandalösem lassen sich einfach und schnell Klicks und Likes erzielen. Von ihrem inneren Prinzip her glaube ich, dass es gar nicht entscheidend ist, ob diese Erregungen für gute oder schlechte politische Anliegen entstehen. Denn darüber, was das jeweils genau ist, streiten sich in der Regel alle und oft genug profitieren mehrere Seiten davon. Nahezu immer natürlich die Plattformen selbst.

TO: Diese Gewinn-Mechanik der Erregungskultur ist keine Rechts-links-Thematik, sondern medieninhärent.

AV: Ja, es hat was mit der Mechanik sozialer Medien zu tun. Das hat aber zur Folge, dass es mehr Aufmerksamkeit dafür gibt, was ich wann und wie sage. Auch das ist eine Parallele zum Theater – Kunst lebt ja von einer Steigerung der Aufmerksamkeit, aber es fehlt der Aspekt des Probehandelns. Das sozialmediale Spiel ist immer Ernst. Alle, die im Netz etwas veröffentlichen, müssen mehr und mehr aufpassen, was sie sagen, weil der digitale Raum sich durchpolitisiert hat. Das ist nicht unbedingt schlecht, weil es auch all denen, die vorher nie aufpassen mussten, was sie sagen, ein gehöriges Maß Sicherheit wegnimmt. Und zu denen gehöre ja auch ich. Nichtsdestotrotz verändert das etwas am Selbstgefühl oder dem Gefühl dafür, wie frei ich mich in einem Raum bewegen kann, den es bis vor kurzer Zeit noch überhaupt nicht gab und der auf dem Versprechen aufbaut, allen eine Stimme zu geben. „Sag was du willst, sei souverän.“ Aber: „Alle anderen werden über das Gesagte urteilen, also sei ständig auf der Hut.“ Und diese beiden neoliberalen Modi hauen sich ständig gegenseitig auf die Mütze, wie im Kasperletheater.

TO: Als ein Gründungsversprechen der sozialen Medien empfinde ich – auch wenn das heute naiv wirkt –, dass sie keine Hierarchien haben, keinen Hegemon. Außer die Plattformbetreiber*innen selber, die darauf achten, was erlaubt ist, ohne Eingreifen des Staates, solange es seine Gesetze nicht verletzt.

AV: Genau. Es gibt in den sozialen Netzwerken dafür zwei Imperative: Einerseits „Sei du selbst“, was wahnsinnig wichtig ist für jegliche Netzperformance von Authentizität. Und andererseits die Ansage: „Du kannst sein, wer du willst.“ Beides zusammen ergibt eine sehr seltsame Mischung, eine Art existenzielles Spiel mit Identität. Das gibt Aussagen oft eine identitär-performative Komponente oder macht diese vielleicht auch einfach nur sichtbarer. Man könnte anhand der 2010er Jahre eine Ethnografie der Bewusstwerdung von Identität als Macht- und Ohnmachtsfaktor und als potenzielles Waffensystem in den sozialen Medien schreiben. Und zwar keineswegs nur für die, denen „Identitätspolitik“ seit einiger Zeit als Pseudo-Vorwurf entgegengehalten wird, sondern vor allem für jene, die ganz praktisch begriffen haben, dass sie ihre identitären Privilegien in mediale power moves verwandeln können. Da es in sozialen Medien aber erst einmal kein Gelände gibt, durch das Fronten verlaufen könnten, sind alle ständig gleichzeitig in Offensive und Defensive, sobald sie in das Kriegsspiel einsteigen oder hineingezwungen werden. Vielleicht ist es das, was ich mit Belagerungsmentalität meinte.

truther schaffen Figuren

TO: Vielleicht können wir kurz über die Präsentationshaltung des traditionellen Theaters sprechen. Diese beiden Imperative, von denen Sie sprechen, spielen auf der Bühne eine große Rolle, auch wenn das Material, mit dem im traditionellen Theater gearbeitet wird, nur in Ausnahmefällen dokumentarisch oder scheinbar authentisch ist. Seit dem späten 19. Jahrhundert gibt es einerseits die Bemühung, die Künstlichkeit des Theaters im Naturalismus zum Verschwinden zu bringen – was im Grunde der Gipfel der Künstlichkeit ist, weil man sie nicht mehr bemerkt; und kurz darauf beginnt die gegenteilige Bemühung, die Künstlichkeit des Theaters bei Edward Gordon Craig oder Maurice Maeterlinck in einem stark formalisierten Spiel besonders sichtbar zu machen, sodass sie ihre Werke am liebsten mit Marionetten aufgeführt hätten.

Der Naturalismus produziert also eine Art psychologische Authentizität, während Craigs Theater formal authentisch ist. Aber immer gibt es das Stück; das Skript und die Schauspieler*innen werden mit den jeweiligen Rollen „besetzt“, wie man am Theater sagt. In der Welt der Netz-Communitys besetzen oder schaffen sich die Menschen ihre Rollen jedoch selbst, das ist ein wichtiger Unterschied. Sie haben in Ihrem Film untersucht, welche Rollenbilder sich in diesen digitalen Communitys herausbilden, beziehungsweise welche Rahmungen von Situationen zu Rollenbildern oder zu einem Rollenbewusstsein derer, die da agieren, führen. Und Sie weisen auf das Paradox hin, dass diese Rollenbilder von Individuen hervorgebracht werden, die sich im Staat nicht mehr repräsentiert fühlen und aus Protest eine eigene Repräsentationskultur entwickeln, also ihr eigenes Theater, durch das sich für sie die Welt wieder authentisch anfühlt. Im traditionellen Stadttheater ist die Bühne ein der Welt abgezweigter Raum, eine Welt in der Welt, die da drinnen unter sich bleibt, auch wenn sie an Vorgänge draußen denken lässt. Bei einem Spiel wie QAnon ist das anders – die Vorgänge „draußen“ sind alle Fake, die Wahrheit erfährt man nur drinnen, im Spiel. In This Is Not a Game leiten Sie QAnon von der LARP-Kultur her, also einem Liverollenspiel in der physischen Realität, bei dem Menschen in fiktive Situationen eintreten. Das passiert in der Regel nicht vor Publikum, sondern mit einem selbst und den anderen Mitspieler*innen, zum Beispiel als Reise in ein fiktives Mittelalter, in dem man sich als Spielfigur auslebt, halb improvisiert, halb instruiert. Irgendwann sei diese LARP-Kultur ins Netz gewandert, sagen Sie, und hat sich dort neue Welten erschaffen. QAnon wanderte aus sehr speziellen Foren schließlich ins Netz des Mainstreams und in die sozialen Medien und beruht immer darauf, dass „unsere“ Welt, also die Ereigniswelt der offiziellen Politik und Nachrichten, plötzlich als ein LARP-Szenario behandelt wird. In dieser fiktionalisierten Realität siedeln sich anonyme Akteur*innen an, die zu Figuren werden, die sich ihre Rollen selber zuschreiben, wenn sie innerhalb der QAnon-Community etwa behaupten: „Ich bin ein FBI-Mann im Weißen Haus und gebe euch Hintergrundinformationen.“ Innerhalb des Spiels wird diese anonyme Stimme zum „FBI-Insider“ und seine Aussagen werden von den Mitspieler*innen als Aussagen eines FBI-Insiders behandelt. So werden diese Stimmen durch andere sogenannte truther, also Menschen, die glauben, eine geheime Wahrheit hinter den offiziellen Nachrichten der Politik und Medien zu kennen, beglaubigt und so wird die Figur zur Figur. Das QAnon-Theater braucht Feedback, weil seine Rollen und Plots nur durch das Feedback anderer truther entstehen. In der Commedia dell’arte erfindet niemand seine Rolle, sie wird innerhalb der eigenen Familie weitergegeben. Aber in dem Feedback-Theater, in dem Sie sich bewegen, sagt jeder selbst, dass er oder sie Il Capitano ist, hier gibt es nur anonyme Mitspieler*innen und kein Publikum im klassischen Sinne. Kann man sagen, dass die Vorgänge in Echtzeit entstehen durch das jeweilige Framing und jene Fragen, die der mysteriöse Q vorgibt?

Es zählt nur das geschriebene Wort

AV: Mehr oder weniger. Die Austauschkultur auf 4chan, Reddit und verwandten Plattformen ist tatsächlich sehr schnell, das passiert alles on the fly, mehr oder weniger in Echtzeit. Wobei man auch eine Grenze beachten muss, wenn man reale Phänomene oder soziale Aktionen als Spiel oder Theater betrachtet, insbesondere, wenn sie gravierende politische Folgen haben. Ich versuche, die Ähnlichkeiten festzustellen, aber natürlich ist ein Internetforum wie 4chan, auf dem anonym Texte und Bilder getauscht werden können, auch erst mal nur 4chan und nicht Avantgarde-Theater, obwohl man es sich so anschauen kann – als textbasiertes Theater, in dem sehr viele Rollen zur Verfügung stehen und man einen Echtzeitaustausch mit einem Publikum hat, das auch mitspielt. Es ist aus dieser Perspektive dann eine Art riesiges Lehrstück in der ursprünglichen Brecht’schen Bedeutung. Obwohl es nicht mal identifizierbare Körper gibt, sondern bloß deren Fiktion, und die Basis einer eigenen Kultur, die sich ständig weiterentwickelt, mit eigener Sprache und Referenzsystem. Ein solches Imageboard ist damit ein Inkubator für bestimmte Netzphänomene, trotz der Beschränkungen, die es hat. Was QAnon als Spiel angeht, sollte man die Rolle der Q-Figur deswegen aber auch nicht überbewerten. Sie ist nicht potente Regie, sondern eher Soufflage in einem Produktionszusammenhang, aus dem die Regiefunktion gestrichen oder dezentralisiert wurde und sich nach Marktprinzipien neu verteilt. Auf der Ebene der dramaturgischen Funktionen wäre dieses Spiel älteren Theaterformen wie der Commedia dell’arte sogar näher: Es gibt funktionale Typen wie der „Informant“, „Troll“, „Narr“, „Rechercheur“ – aber wer diese Funktionen gerade ausfüllt, ist variabel und führt zu unterschiedlichen Spielstilen. Mit der Zeit bilden sich vielleicht so etwas wie Rollen mit eigenen Machtpotenzialen heraus.

TO: Welche Rollen sind Ihnen in diesen Foren oder Boards aufgefallen?

AV: Ich habe in dem Stück Flammende Köpfe, das ich für das Theater Dortmund entwickelt habe, scherzhaft versucht, verschiedene YouTube-Videos, die ich über Jahre gesammelt habe, nach den klassischen Rollenfächern des Theaters einzuteilen. Da gab es dann etwa die komische Alte, den jugendlichen Liebhaber oder die jugendliche Naive, die gerettet werden muss. In meiner Lesart der Videos waren das Angebote an eine bürgerliche Gesellschaft, in diesen Rollen ein Ensemble von verschiedenen „Patriot*innen“ und Identifikationsangeboten entdecken zu können. Aber Rollenfächer in dieser Form gibt es auf 4chan nicht – man weiß ja nie genau, wer da gerade schreibt. Ist das ein Fünfzehnjähriger oder eine Sechzigjährige? Es zählt nur das geschriebene Wort, das macht die ganze Fiktion aus. In dieser Textfläche ist Q die zur Rolle erhobene Funktion des Informanten, die Community macht sich wahlweise über die Inhalte lustig oder überaffirmiert sie, die beflissenen Rechercheur*innen sind baker – Bäcker des täglichen Brotes an Verschwörungserzählungen und dramatischer Spannung, das dann von Influencer*innen und ihren Gefolgschaften kollektiv verzehrt und verdaut wird.

TO: Sie sehen mich ja jetzt in diesem Skype-Fenster vor einem Schwarz-Weiß-Foto, das nichts mit unserem Gespräch zu tun hat. Ich war zu faul, es auszuwechseln, aber irgendwie mag ich es auch. Es ist ein Foto von einem Projekt des russischen Künstlers Ilya Khrzhanovsky, das DAU hieß. Dieses Projekt kann man auch als ein gigantisches Spiel begreifen. An ihm haben sich hunderte Menschen über zwei Jahre in der Ukraine beteiligt. Vielleicht kann man es auch als ein Massen-LARP beschreiben. Khrzhanovsky und sein Team haben dort ein stadtviertelgroßes Filmset gebaut, in dem sie wirklich gelebt haben und zwar in einer Art Zeitreise, zurück in die stalinistische Sowjetunion. Das Filmset zeigte ein damals geheimes Institut in Moskau, in dem der einzige Nobelpreisträger der UdSSR tätig war, der Physiker und Erotomane Lew Landau, nach dessen Spitznamen „Dau“ der Film benannt wurde. Die Menschen in dieser Filmstadt waren keine Schauspieler*innen, sondern wirkliche Physiker*innen, Forscher*innen oder Techniker*innen und lebten zum Teil über Monate und Jahre miteinander, während sich das Set, ihre Kleidung, Sprache und ihre Verhältnisse fast unmerklich durch drei Jahrzehnte bewegten. Kinder wurden gezeugt, Ehen geschlossen und immer wieder war eine Kamera dabei, ganz offen, insgesamt hat man 700 Stunden Film gedreht. Einer der dort entstandenen Spielfilme, die eigentlich auch Lebensfilme sind, hat bei der Berlinale 2020 einen Silbernen Bären gewonnen. Das Foto in meinem Hintergrund war der Innenhof dieses Sets. In einem gewissen Sinne hat sich das Projekt Khrzanovskys, das eine Art Stalinismus-Analyse schaffen wollte, auch „selbst“ geschrieben, indem die Menschen, die im Set und Kostüm lebten, sich frei entscheiden konnten, was sie tun und wie weit sie gehen – als dieser Charakter, der oder die sie in diesem Sowjet-LARP waren. Man könnte sagen, dass die Konstruktion dieses Sets, oder besser Settings, die Menschen wirklich in einen anderen Zustand versetzt hat. Wenn Sie an die Bewegung von QAnon aus der Netzkultur in die soziale Realität der körperlichen Welt denken oder wenn Sie den Querdenker*innen zuhören, haben Sie dann nicht auch das Gefühl, dass sie vergessen haben, dass dieser FBI-Mann im Internet eine fiktive Figur ist? Wie geschieht es, dass scheinbar Leute mitspielen, die irgendwann nicht mehr wissen, dass es ein Spiel ist?

Dunkle Dialektik

AV: Es war nie nur als Spiel gemeint und auch nicht als künstlerisches Experiment. Deswegen hat es ja diesen Doppelcharakter von „Shall we play a game?“ – das ist ein Zitat aus War Games, einem Hollywoodfilm von 1983. In diesem sagt ein ahnungsloser Teenager: „Hey, lass uns Atomkrieg spielen“ – und dann geht’s fast schief, weil ein Computersystem im Spiel ist, das nicht zwischen Wirklichkeit und Simulation unterscheiden kann und erst lernen muss, dass manche Spiele am besten nicht gespielt werden. Der Film thematisiert damit bereits die zweite Tagline von Q und die Kehrseite des Doppelcharakters: „Hey, this is not a game, das ist Ernst, was wir hier machen, das ist kein Spiel“ – weil das Spiel ja mit Material aus der Wirklichkeit gespielt wird. Es bezieht sich auf die reale Politik und versucht, diese mit dem Ziel umzuerzählen, eine politische Mobilisierung oder in manchen Bereichen vielleicht auch eine Demobilisierung zu erreichen. Darüber kann man diskutieren. Insofern ist dieses Überschwappen von Spiel in Ernst von Anfang an angelegt, sowohl in dem Sinne, dass es kein abgeschotteter Bereich ist, in dem alles nur reine Fiktion ist, sondern in dem die Wirklichkeit selbst fiktionalisiert wird. Es ist auch in dem Sinne angelegt, dass das Spiel in genau dieser Fiktionalisierung von Wirklichkeit besteht. Dass dahinter ein politischer Impetus steht, der das auch möchte, und die „Figuren“ sich schließlich auch in der Wirklichkeit so verhalten wie im Spiel, ist die Kehrseite davon. Auf 4chan und in diesem textbasierten kollektiven game jam sind tatsächlich nur die Spielregeln und der Stil entworfen worden.

TO: Welche Regeln sind das?

AV: Die Mechanik von Andeutungen und Fragen, Rechercheaufgaben und die Regeln des Narrativs: „Wir enthüllen hier ein großes Ereignis, das ist das größte Whistleblower*innen-Event aller Zeiten.“ Was ja gleichzeitig einen potenziell massiven Schaden für jedes reale Whistleblowing darstellt.

TO: Weil so jede Enthüllung in einen Fake-Bereich gerät. Bei QAnon wird ja nur „Fake“ enthüllt.

AV: Ja, genau, QAnon ist quasi die Fake-isierung von Wirklichkeit als ein politisches Projekt. Das ist vielleicht sogar das Wesentliche daran. In dem Moment, wo jemand in dieses Projekt eingetreten ist, entsteht ein Zweifel an allem.

TO: Und nur die eigene Community, die sich um die „Wahrheit“ kümmert, weiß „Bescheid“. Man kann niemandem mehr vertrauen, außer Leuten, die den gleichen Virus tragen. Und gleichzeitig ist es elektrisierend. In Ihrem Film zeigen Sie die Mechanik, dass die Frageliste von Q der Code für ein Rätsel ist, das es aufzulösen gilt, um zur wirklichen Wirklichkeit durchzustoßen. Wenn ich diesen QAnon-Antworten von Leuten folge, die scheinbar ein Wissen haben, das Türen öffnet zu dem, was dahinter wirklich los ist, schüttle ich natürlich irgendwann den Kopf über die Leichtgläubigen, die ahnungslos die Tagesschau schauen. Das ist schon ein ziemlicher Schritt. Für Buddhist*innen ist die Welt, die sie im Traum erleben, die wirkliche Welt, hingegen die Welt, die wir sehen, wenn wir die Augen öffnen, nur ein Traum. Tendenziell ist das bei QAnon ähnlich: Dass die Wirklichkeit per se der Traum ist und ich diesen Trug durchschauen muss, um wissend zu werden, ist strukturell auch die Basis des Spiels, das Sie beschreiben.

AV: Das verbindet das Spiel mit der klassischen Spiritualität, weshalb QAnon auch so gut in Teilen der esoterischen Szene funktioniert. Ich träumte, ich sei ein Schmetterling, oder bin ich der Schmetterling, der träumt, er sei erwacht? Dieser Moment des Erwachens als Kollektivereignis ist nicht neu: „Das Volk erwacht“ gab es auch bei den Nazis, und die Spiritualisierung von Politik kommt jetzt zurück. Wir sehen das bei QAnon und finden es zum großen Teil vorreflektiert in Filmen, denn viele Filme, soweit sie Kunstcharakter haben, beschäftigen sich mit ihrem Medium und thematisieren damit, ob nicht die Realität auch ein Film sein könnte oder der Film die Realität – so wie diese Grenze auch im Theater bespielt wird, wenn die Spieler*innen aus der Rolle fallen. Deswegen ist Matrix so ein beliebter Film in diesen Szenen, weil er die Thematik des Erwachens mit der Erzählung über eine große Lüge verbindet, darüber, dass die Wirklichkeit selbst eine Lüge ist. Bei all dem spirituellen Gerede von „Licht“ ist es natürlich eine ziemlich dunkle Dialektik, wenn wir sagen, wir konstruieren eine alternative Wirklichkeit, um zu beweisen, dass die Realität falsch ist.

TO: „Dunkle Dialektik“ ist eine gute Beschreibung. Mich erinnert das an die Matrix-Erfahrung des amerikanischen Science-Fiction-Autors Philip K. Dick. Dieser hat acht Jahre vor seinem Tod ein Gotteserlebnis gehabt, ein Paulus-Erlebnis, und die letzten Jahre seines Lebens ausschließlich mit dem Versuch verbracht, das, was ihm offenbart wurde, zu verstehen. Dieser Realitäts-Shift hat ihn über mehrere Tage aus dem normalen Zeitfluss ausgekoppelt und in die Zeit der Christenverfolgung vor über 2000 Jahren geführt. Philip K. Dick hat plötzlich einen Dialekt des Aramäischen verstanden und gesprochen und ihm ist eine lebensgefährliche Erkrankung seines Sohnes mitgeteilt worden, die zu einer Notoperation am Folgetag geführt hat, weil er sie dem Arzt mit medizinischen Ausdrücken präzise beschreiben konnte. Es ist alles in allem nicht so einfach, in dieser Epiphanie nur einen paranoiden Schub zu sehen, wovor er sich selbst am meisten gefürchtet hat. Dick hat sich während dieser Ereignisse also scheinbar wiederholt kurz auf der Ebene des Programmierers der Matrix befunden, zumindest würden die Wachowski-Schwestern das so beschreiben.

Wir erleben ja gerade, wie verschiedene Formen von marginalisiertem Wissen – sei es das animistische Wissen der Indigenen, das unserer eigenen Vormoderne oder das von nichtwestlichen Kulturen – aufgewertet werden. Klimawandel, Artenschwund, aber auch unsere Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus oder der Pandemie haben ein neues Wende-Wissen produziert und eine tiefe Skepsis gegenüber der destruktiven „Normalität“ der Moderne. Vieles von diesen Zweifeln und Abkehrbedürfnissen okkupiert auch QAnon und sagt: „Du hast recht mit diesem Gefühl, hier stimmt wirklich was nicht. Die Mächtigen lügen.“ Diese Verbindung zwischen Spiritualität, QAnon und der extremen Rechten, wie Ihr Film sie zeigt, hat mich schockiert. Sie legen unter die Bilder der versuchten Erstürmung des Reichstags durch Hygiene-Demonstrant*innen einen authentischen Soundfile, der scheinbar direkt aus einem Yoga-Retreat kommt, geprägt von der professionellen Milde und Rhetorik heilsgewisser Lehrer*innen, die von Liebe sprechen und wahrer Empfindung.

AV: Ja. Was dieser neuen Spiritualität fehlt, sind ein paar echte Mystiker*innen. Es fehlt die mystische Praxis. Es gibt jedoch einen riesigen Markt mit einer sehr flachen Spiritualität, die sich leichter politisieren lässt. Und spirituelle Politik ist wahnsinnig gefährlich. So viel es an dieser zu kritisieren gibt, ist es aber leider auch nicht so, dass hyperrationale Politik zwangsläufig besser wäre. Es muss nicht das eine gut und das andere schlecht sein. Die Kollektivierung von Ergriffenheitsgefühl oder Verbundenheitsgefühl hat meiner Meinung nach vor allem den Makel, dass sie sich nicht mit der Gewalt einer wirklich spirituellen Erfahrung verbindet, die ja nicht gewaltsam herbeigeführt werden kann. Das, was Philip K. Dick oder andere Leute beschreiben, die diese spirituelle Erfahrung tatsächlich gemacht haben, lässt deutlich werden, dass das in der Regel ein nicht besonders angenehmer Vorgang ist, sondern etwas, das einen massiv durcheinanderrüttelt. Die Beschreibungen, die ich häufig finde, sowohl aus der seichten Esoterikszene als auch von Teilen der rechten Szene, die das okkupiert hat, sind von ganz anderer Art und rein zerebral: „Das war der Moment, in dem ich aufgewacht bin und erkannt habe, dass Weiße unterdrückt werden“ und so weiter. Erweckung als ideologisches Abonnement.

Solche Verwandlungsmomente haben ja überhaupt nicht die Erfahrungskomponente, von der Dick spricht, sondern sind eher vergleichbar mit NLP-Techniken. Diese sind eine Sammlung von Methoden und Kommunikationstechniken, die darauf zielen, psychische Abläufe im Menschen zu beeinflussen. Man formatiert sich anders, programmiert sich, erreicht damit eine Art Sinn und Zielgerichtetheit und kann auf dieser Basis dann unbeschwert agieren – was meiner Meinung nach nicht der Effekt ist, den eine wirklich spirituelle Erfahrung hat. In der Regel bewirkt die ja nicht unbedingt, dass man danach besser weiß, was man tun soll, sondern recht lange braucht, um mit der neuen Wirklichkeit zurechtzukommen. Ich glaube, dass bei QAnon oder spiritueller Politik im Grunde genommen nur die Erzählung von spiritueller Erfahrung verwertet wird, ohne die Erfahrung selbst gemacht zu haben. Und das funktioniert, weil dieser Moment, in dem es einem plötzlich wie Schuppen von den Augen fällt, offensichtlich enorm verlockend ist.

TO: Ich glaube, die diabolische Dimension, aber auch die faszinierende, die Sie beschreiben, ist dieser Mix aus dem Angebot, seinen Empfindungen zu folgen, und zugleich plötzlich mehr zu wissen und so, wie es in dem Spiel heißt, aus dem Regime der zerstörerischen Eliten, die sich mit Kinderblut verjüngen, auszusteigen. Selbst wenn man irgendwo im Hinterkopf noch im Sinn hat, dass es ein Spiel ist, fühlt sich die Selbstermächtigung echt an. Und so schlüpft man durch das, was Sie in Ihrem Film als „Karnickellöcher“ beschreiben. Diese rabbit holes – kleine Merkwürdigkeiten, die scheinbar harmlose Details in den offiziellen Nachrichten zu Codes für ungeheuerliche Geheimaktionen machen – sind der Check-in für die Welt der Verschwörungserzählung. Es ist wie bei Alice im Wunderland – man soll dem weißen Kaninchen folgen. Irgendwas spricht einen da an, man sagt sich: „Das wäre ja interessant.“ Und schon schlittert man auf die andere Seite der Welt, in dieses Wahngebäude der QAnon-Erzählung, wo man ständig in Trab gehalten wird durch neue Q-Posts, das heißt durch neue Indizien für die „Wahrheit“ einer Erzählung, an deren Beleg Tausende von Menschen basteln. Einige von ihnen werden wirklich Täter*innen, die das Kapitol angreifen, weil sie es für ein satanistisches Tempelmonument halten, oder planen Attentate und Entführungen, um die angeblichen Geheimpläne der Regierung zu durchkreuzen. Wenn wir das technisch betrachten – wie entsteht diese Narration? Es gibt scheinbar Menschen, die Regeln für dieses Spiel festgelegt haben, und es gibt den großen Unbekannten, diese ominöse Figur Q, die jene Fragen veröffentlicht, die das alles in Gang halten. Sie haben Q den puppetmaster genannt. Was ist das?

AV: Der Begriff puppetmaster wird in der Alternate-Reality-Game-Szene benutzt, um die Spielleiter*innen zu kennzeichnen. Also diejenigen, die das Spiel entwerfen, steuern und das Feedback der Spieler*innen integrieren und so sicherstellen, dass alle eine gute Spielerfahrung haben. Es ist natürlich seit Langem auch der propagandistische Begriff für die Strippenzieher*innen in antisemitischen Verschwörungsideologien. Ich beziehe mich aber auf die erste Definition und in diesem Kontext hat der Begriff keine antisemitischen Untertöne. Trotzdem ist puppetmaster vielleicht nicht der ideale Begriff für das, was die Funktion in diesem Spiel ist.

Community Drive

TO: Es ist ein altmodisches Bild. In gewisser Hinsicht zu klar, weil man weiß, wer die Puppe und wer Meister*in ist. Bei den Spielen, von denen Sie sprechen, changieren die Realität und das Personal viel mehr, oder?

AV: Ja, es ist ein altes Bild, das nicht hundertprozentig passt. In einem Alternate-Reality-Game sind die Spieler*innen ja gerade in hohem Maße keine Puppen, sondern müssen mit ihren je eigenen Bedürfnissen, Interessen und Lebenspraxen motiviert und bei der Stange gehalten werden. Natürlich muss es eine Person oder mit nicht geringerer Wahrscheinlichkeit mehrere Menschen geben, die diese motivierenden und handlungstreibenden Posts verfassen, diese Q-Posts, von denen Sie sprechen. In dem Video gehe ich auf die Frage noch etwas näher ein, ohne sie zu klären, weil ich bis jetzt nichts Definitives zur Identität der Verantwortlichen finden konnte. Es gibt Recherchen und Meinungen dazu, zum Beispiel, dass die Person, die jene Q-Posts sendet, mehrfach gewechselt habe. Gerade anfangs konnte ja jeder in dem gleichen Stil posten und zum LARP beitragen, weil alles anonym war. Es gibt Screenshots von Discord-Servern, also Chaträumen, in denen sich baker aus der 4chan-Gemeinde darüber kurzgeschlossen haben, wie sie mit neuen Q-Drops umgehen, wie sie was publizieren und welche Auslegungen sie wählen. Möglicherweise stammen aus einem solchen Kreis auch die ersten Posts. Dann gab es 2017 einen Wechsel von 4chan auf 8chan, das heißt vom größten englischsprachigen Imageboard auf das kleinere und extremere. Danach wurden sogenannte tripcodes eingeführt, Identifikationszahlenfolgen, die passwortgeschützt sind und sicherstellen sollen, dass es immer die gleiche Person ist, die als Q postet – die aber auch mehrfach gehackt wurden. Eine häufig vertretene Theorie lautet, dass seit dem Austritt einiger Leute aus dem Spiel die Betreiber*innen von 8chan entweder selbst dieses Posts verfassen – weil im Grunde genommen das gesamte Board nur noch für die Q-Posts existiert – oder zumindest wissen, wer Q ist. Bewiesen ist nichts und ich weiß auch nicht, ob man das jemals rausbekommen wird. Vielleicht nicht. Es ist auch nicht die wichtigste Frage bei diesem Spiel, denn es funktioniert ja mit der Ansage: „Q, gib uns die Brotkrumen“ – also die Hinweise und die Rätselaufgaben – „das tatsächliche Brot backen wir uns selbst daraus“. Das heißt, das Spiel ist community driven, wie man auf Englisch sagt – es ist die Gemeinschaft der Ratenden und Weiterverbreitenden, die im Wesentlichen dieses Spiel erzeugen, am Leben erhalten und ihm seine Dynamik geben. Und das führt zu der für mich interessantesten Frage im Hinblick auf diese fiktive Figur: Wie lange kann das weiterlaufen? Geht das Spiel weiter, selbst wenn die Figur mit ihren Botschaften aufhört? Kann es ein Evangelium von Q geben? Jesus war ja auch irgendwann tot und erst dann konnte es richtig losgehen. Könnte man zum Beispiel den Tod dieser Figur inszenieren, wie glaubwürdig auch immer, und hätte plötzlich eine Sammlung von Schriften, aus denen sich eine regelrechte fringe religion entwickelt? Oder geht das nicht, weil diese Pseudoreligion so an die momentane politische Realität gekoppelt ist, an das ständige Versprechen, dass Trump als Erlöser die Verhältnisse komplett ändert, dass in dem Moment, da er nun kein Präsident mehr ist, dieser Glaube seine Zugkraft verliert? Das ist, von außen betrachtet, im Moment vielleicht die spannendste Frage, was die Weiterentwicklung von QAnon angeht.

TO: Ein bisschen ist das, als würde das Living Theatre ewig weiterspielen, weil sie Julian Becks theoretische Texte als Evangelien weiter heilig halten und die Revolution nie aufhört. Oder nehmen wir Brecht – der steckt weiter in allen möglichen zeitgenössischen Theaterarbeiten drin, von denen er sich gar nicht hätte vorstellen können, dass er sie mit seinem Kleinen Organon oder Verfremdungs- und Lehrstückideen inspiriert hat. Nur sind diese Vergleiche zugleich völlig schief. Wir wüssten zum Beispiel gar nicht, wer Brecht war. Aber vielleicht wissen wir das ja wirklich nicht. Ich glaube, jetzt hängen wir gerade. (Pause) Hören Sie mich?

AV: Ich habe mal mein Bild ausgeschaltet, genau, wir hatten Tonprobleme und das Ganze hing.

TO: Kann ich auch machen.

AV: Vielleicht geht es jetzt besser so. Können Sie das Letzte noch mal wiederholen, bei mir ist fast nichts angekommen?

TO: Die Frage ist, wie sich das Spiel eigentlich fortschreibt. Wodurch entsteht die Narration? Ein wenig an Informationen und Richtungen wird durch die Q-Posts vorgegeben, aber „das Brot backen wir“. Bei einem normalen Computerspiel würden wir das nicht machen, weil die Handlung feststeht.

AV: Es gibt einen Artikel von einem Game Designer, Reed Berkowitz, der gesagt hat, der Unterschied von Q zu einem richtigen Spiel oder einem Alternate-Reality-Game sei, dass es keinen Plot gibt, aber einen plot device– die Figur Q, die ja nicht real ist, sondern nur dazu dient, die Handlung voranzutreiben. Diese Handlung ist aber nicht geschrieben, sondern nur eine Anweisung. Es gibt Versatzstücke von Dramaturgien, es gibt ständig suspense, es gibt die dauernde Ankündigung: „Jetzt geht’s gleich los, jetzt kommt’s.“ Es ist wie ein gigantischer, stundenlanger Trailer.

TO: Eine endlose Aneinanderreihung von Cliffhangern.

AV: Genau, es ist ein einziger, gigantischer Cliffhanger ohne Handlung, der auf die Weiterentwicklung der Realität angewiesen ist, denn de facto passiert all das, was versprochen wird, ja nicht – bis man es selber tut.

TO: Ah, das ist vielleicht auch die gefährliche Dynamik in der Sache.

AV: Ja, das macht die politische Komponente daran aus. Alle müssen irgendwann erkennen, dass diese Erzählung – zum Beispiel die von dem Erlöser Trump, der bald alles klären wird, während wir uns nur zurückzulehnen und „die Show zu genießen“ brauchen, wie es oft heißt –, dass all das nie eintritt und diese Show niemals kommt. Deshalb muss man sie irgendwann selber machen, siehe die Erstürmung des Washingtoner Kapitols nach Trumps Abwahl. Die Handlung, die vorangetrieben wird, ist entweder die Recherche, das Nachvollziehen, das Lösen der Rätsel und das Missionieren bis zu einem bestimmten Grad. Oder es bedeutet, irgendwann als selbsterfüllende Prophezeiung genau das zu tun, was einem die ganze Zeit versprochen wurde. Wenn mir die ganze Zeit versprochen wird, dass bald aufgeräumt wird, die und die Personen alle verhaftet werden und vor ein Militärgericht gestellt werden, aber es passiert nicht, dann gibt es irgendwann plötzlich genug Leute, die vorm Kapitol stehen. Und darunter sind einige, die mit Waffen ausgerüstet sind und ihre Handschellen selber mitgebracht haben oder sie vor Ort finden – weil sie nun mal gerne Leute verhaftet sehen wollen. Oder hingerichtet. Und plötzlich spielt sich dieser hundert Mal wiederholte Plot real ab. Don’t dream it, be it. Das ist die Gefahr.

TO: Wenn ich an die Hygienedemonstration vorm Reichstag denke, dann habe ich nicht das Gefühl, dass diese Leute sich noch in einem Spiel bewegen. Diese zweite Wirklichkeit, diese durch die Q-Posts insinuierte Wirklichkeit wird von ihnen für die authentische Wirklichkeit gehalten.

AV: Das ist typisch für Verschwörungserzählungen. Die Einzigen, die das als Spiel gesehen haben, waren vielleicht am Anfang die Leute auf 4chan – das war auch im Format deutlich. Aber seitdem QAnon 4chan verlassen hat, wird es kaum mehr als Spiel beschrieben, sondern als Realität.

TO: Und so erzeugen diese Vorgänge irgendwann ihre eigenen Märtyrer*innen.

AV: Ja, so entstehen auch irgendwie anrührende Szenen, wie die mit jener Frau, die nach der Kapitol-Erstürmung völlig konsterniert vor der Kamera sagte: „Sie haben mich mit Pfefferspray besprüht! Wir dachten, wir machen Revolution. Wir wollten ins Kapitol, das ist doch die Revolution hier – und ich hab Pfefferspray abgekriegt!“ Sie konnte das nicht fassen, weil sie dachte, das liefe alles ab wie der Film, der ihr die ganze Zeit versprochen wurde, oder dass es sich vielleicht wie in einem Musical abspielt. Les Miserables de Q.

TO: Zu den gerne erzählten Legenden unseres traditionellen Theaters in Europa gehört ja zum Beispiel auch die Revolution, die in Brüssel aus der Oper auf die Straße getragen wurde und zum Aufstand führte. Auch Brechts Idee der Mobilisierung des Proletariats durch seine Lehrstücke und Majakowskis Mysterium Buffo waren von der Inkubation des Lebens durch das Spiel beseelt. Genauso die Outdoor-Thingspiele der Nazis. Aber auch im eher traditionellen Guckkastentheaterbetrieb wird dieser Limbo zwischen der Bühne drinnen und der Welt draußen oft betont, ganz so, als könne das Theater einen Übergangsbereich schaffen, der drinnen und draußen verbindet.

AV: Ja, das ist die große Sehnsucht des Theaters, dass man rauskommt.

TO: Eigentlich verrückt, dass Kunst nie nur Kunst sein will.

AV: Obwohl man fairerweise sagen muss, dass es Brecht ja nicht darum ging einzuüben, wie man Leute in eine Kalkgrube wirft, sondern das Problem zu verstehen. Von einer solchen Komplexität sind dann Spiele wie die von QAnon doch relativ weit entfernt. Da werden nach meiner Meinung tatsächlich Verschwörungserzählungen eingeübt, indem sie so oft wiederholt werden, dass sie die Form von Wirklichkeit in den Köpfen der Beteiligten annehmen.

Die Plattform-Kommunikation schafft ein Kollektivsubjekt

TO: Es gibt einen diabolischen Aspekt an QAnon, der mich sehr fasziniert. Denn das Spiel, das unsere alltägliche Welt mit einem alternativen Szenario verbindet, für dessen Wahrheit all die Mitspieler*innen pausenlos und auf der Höhe der aktuellen Nachrichtenlage neue Belege finden, verwandelt ja eine bis dahin unschuldig wirkende Realität in etwas Auszubeutendes, in eine Ressource, die das Spiel füttert. QAnon-Apps „hosten“ nun meine Beziehung zur Realität, zu Menschen, städtischen Räumen und so weiter. Wie jedes soziale Netzwerk kapitalisieren sie unsere sozialen Beziehungen. Und seit der Jahrtausendwende beobachten wir dieses Vordringen der Verwertungszusammenhänge in unsere Privatsphäre an sehr vielen Stellen: Uber macht mein privates Auto zum Taxi, Airbnb das leere Kinderzimmer zum Gästeraum und bei QAnon fiktionalisiert sich nun mein privates Weltverhältnis entsprechend der Logik eines verschwörungstheoretischen Spiels. Das kann im klassischen Dispositiv von Theater eigentlich nicht passieren, oder? Erstens sehen wir im Theater als Kollektiv alle den gleichen Wahn. Aber er bleibt hinterm Portal. Aber was Sie in Ihrem Film über QAnon beschreiben, ist die größte Inbesitznahme von Lebenswelt, die Menschen sich je ausgedacht haben. Sieht man einmal von den Diktaturen des 20. Jahrhunderts ab.

AV: Ich verschlagworte diesen Prozess – und der begann schon deutlich vor QAnon – seit ein paar Jahren für mich als Privatisierung des Politischen. Man sah ihn auch an der Weise, wie sich im vergangenen Jahrzehnt ein YouTube-Aktivismus herausgebildet hat, in dem sich Menschen in ihrem privaten Wohnzimmer oder Auto vor die Kamera setzen und als politische Subjekte inszenieren. Oder sich durch die neue Aufmerksamkeitsökonomie der digitalen Medien als solche überhaupt erst erfanden – „erwachten“. Wir leben also nicht mehr in einer Zeit, wo das Private auch politisch ist, sondern andersrum – das Politische wird zunehmend privat. Dies aber nicht in der alten bürgerlichen Bedeutung einer dem öffentlichen Geschäft entzogenen Sphäre, sondern im wirtschaftlichen Sinne eines Entziehens von staatlichem, also auch demokratisch reguliertem Einfluss. Gleichzeitig gibt es eine entgegengesetzte Bewegung, gerade in einem Kollektivsubjekt wie /pol/ oder 4chan. Individualität spielt hier kaum eine Rolle, außer für diejenigen, die versuchen, damit wieder Geld zu machen. Aber für die meisten, die sich nur innerhalb dieser reinen Aufmerksamkeitsökonomie bewegen, ist das tatsächlich ein rein kollektiver, in seinem darwinistischen Konkurrenzcharakter fast naturhafter Vorgang. Da die Natur der Kommunikation auf Imageboards wie 4chan oder 8chan oder anderen so funktioniert, dass alle anonym sind, dass ich nur als Pseudonym auftrete, kann ich Erfolge nie auf mein individuelles Guthabenkonto schreiben, es ist immer Wir. Es ist immer das Wir, das es geschafft hat, und so wird das tatsächlich intern auch besprochen. Selbst in Slogans wie „We are the news now“, den man auch vorm Kapitol gehört hat, heißt es „We are“ – es ist immer ein Kollektivsubjekt, das da gesetzt wird. Das digitalisierte Volk.

TO: Ist das das Ende der Figur?

AV: Vielleicht eher das Ende des Individuums als das der Figur. Auf Krautchan oder später Kohlchan gibt es den Bernd. Da gibt es also eine Figur, die Bernd-Figur, aber alle heißen und sind dort dieser Bernd. Dieser Bernd hat dies gemacht, jener Bernd hat das gemacht. In den englischsprachigen Versionen ist es „Anonymous“, alle sind Anon – von diesen Imageboards kommt auch das Anonymous-Kollektiv. Das heißt, ich kann mir zwar privat auf die Schulter klopfen, wenn ich einen Witz gemacht habe oder mein Meme weiterverbreitet wird, aber niemanden interessiert eigentlich, wer ein Meme zuerst gemacht hat. Das ist Kollektiveigentum, das überhaupt erst dadurch zum Meme wird und zu wirken beginnt, weil es zirkuliert, kopiert und vervielfältigt wird.

Die Gefräßigkeit von Q Anon und seine Parteiähnlichkeit

TO: Das erinnert mich an die frühen Bolschewiki oder das Pathos der Komsomolzen – da ist man Teil einer Avantgarde gewesen, leidenschaftlich, aber namenlos.

AV: Vielleicht kann man QAnon als eine Persiflage auf die Partei verstehen. 4chan selber ist nicht mal Rätekommunismus, sondern dort herrscht eher Konkurrenz-Anarchie oder Diskordianismus, eine riesige Zelebration der Uneinigkeit. Und QAnon ist der Versuch, diese Uneinigkeit als eine Art politische Kraft zu nutzen und irgendwie zu dirigieren. Was zum Teil auch dazu geführt hat, dass es Streit gab und sie von 4chan runtergeschmissen wurden und zu 8chan gewechselt sind.

TO: Die Weimarer Republik, dieses ganze Durcheinander, die Zwietracht zwischen den außerparlamentarischen Kampfbünden, Fürstenenteignung und konservativer Revolution, esoterischen Bewegungen und Lebensreform, Dada und Bauhaus – zwischen all dem entstand die NSDAP. Sie wurde medial durch den Verleger Alfred Hugenberg stark unterstützt, seit 1925 wurde Hitler in der NSDAP „Führer“ genannt. Mit der Weltwirtschaftskrise, Notstandsverordnungen, extremer Sparpolitik und Arbeitsdienst setzte sich die antisemitische und populistische Narration der NSDAP, begleitet vom Straßenterror der SA, immer stärker durch. Trumps demagogische Rhetorik und Geist des „America First“ ist weit entfernt von diesen Zuständen, aber sein Nationalradikalismus hat auch eine verbindende Wirkung. Und mit QAnon ist da plötzlich ein Spiel, das sagt, dass es kein Spiel ist, und das Trumps System der Verdächtigungen, Verleumdungen und Unterstellungen, mit dem er politische Gegner*innen überzogen hat, erstaunlich ähnlich ist. Durch den endlosen Thread von Qs Fragen, die die Demokratie anzweifeln, lässt dieser Thread ein systemstürzendes Narrativ durchblicken und redet es somit auch interaktiv herbei.

AV: Ja, ich glaube, es gibt da eine Parallele zu dem, was ich die „Gefräßigkeit von QAnon“ nenne. Denn es wurden nicht nur diverse Verschwörungserzählungen, die schon im Schwange waren, aufgenommen und einverleibt, sondern auch verschwörungs-esoterische Bewegungen. Der Anschluss eines Teiles von ihnen an QAnon gelang zum Beispiel dadurch, dass man einen Kurzschluss mit der Thrive-Bewegung herbeigeführt hat, mit einer selbsternannten „Bewegung“ in Anführungszeichen, die aus dem gleichnamigen Film hervorging und so groß dann wiederum auch nicht war, aber den New-Age-Spiritualismus mit absurden Verschwörungserzählungen vermengt hat, um möglichst viele Menschen anzusprechen und so an Masse zu gewinnen. Das hat eine gewisse Parteiähnlichkeit. Aber die Gefahr oder Sorge, die mich beschäftigt, ist, dass in diesem Fall erst die Farce kommt und dann die Tragödie. Bei QAnon glaube ich, dass es zu far out und zu lächerlich ist, als dass es von signifikanten Teilen der radikalen Rechten voll angenommen werden würde. Aber die Mechanik hat man jetzt ganz gut ausprobiert, und es kann sein, dass die nächste Version wesentlich erfolgreicher ist.

TO: Sie sagen am Ende Ihres Films, dass die aktuellen Geschehnisse, die Angriffe auf das Kapitol, vielleicht das Finale eines Testlaufs waren, der mit der Entmachtung von Trump enden wird. Aber das muss ja nicht das Ende des Spiels auf einer höheren Ebene sein. Und Sie geben den Hinweis, dass man dies in Osteuropa zuvor alles schon ausprobiert hatte. Was meinen Sie damit?

AV: Ich bin im Osteuropa-Stoff oder im russischen Stoff nicht so tief drin, aber es gibt ja diese Erzählungen über den Putin’schen Berater, dessen Name mir natürlich gerade nicht einfällt …

TO: Ich höre die Tasten klappern.

AV: … der aus dem Theater kam.

TO: Ah ja. Wladislaw Surkow, kann das sein?

AV: Genau. Diese Erzählung besteht jedenfalls darin, dass die Strategie der Putin’schen Herrschaft im Grunde darin besteht, ähnlich diskordisch zu sagen: „Wir unterstützen einfach alle. Wir fördern die Faschist*innen und wir fördern die Antifaschist*innen und die dazwischen, wir fördern unsere eigene Opposition. Und dann erzählen wir allen, dass wir das tun. Und in dem Moment bricht alles außerhalb von unserem Zentrum komplett zusammen, weil niemand mehr weiß, wer überhaupt authentisch spricht.“ Das heißt, dass eigentlich alles, was passiert, ein gigantisches Theater ist und jedes Oppositionsangebot, das mir entgegenkommt, im Grunde nur gesteuert ist von der tatsächlichen Macht – was ironischerweise genau der Kern der meisten Verschwörungserzählungen über die Eliten ist.

TO: Klingt nach einer perfiden Geheimdienststrategie.

AV: Ja. Ich weiß nicht, wie viel von dieser Story stimmt.

In Berichterstattungen habe ich öfter über sie gelesen, aber es ist einfach auch eine gute Geschichte, und wenn die Geschichten zu gut sind, kann man oft annehmen, dass die Wirklichkeit noch ein bisschen komplizierter ist. Aber mein Eindruck war, dass mit der Trump’schen Regierungszeit sehr viel von dem, was man russischer Desinformation und den russischen Trollfabriken zugeschrieben hat, noch mal in den USA durchgespielt wurde. Es ist ja auch klar, dass es nicht nur an einem Ort der Welt passiert, sondern wenn das ein probates Machtmittel ist, wird es auch andernorts probiert. Eine andere Erzählung, eher aus verschwörungsideologischen Kreisen und den truther-Communitys, also denjenigen, die überall die Wahrheit ausgraben –

TO: – in Anführungsstrichen, Wahrheit ist ja ein seltsamer Begriff geworden.

AV: Das stimmt, „Wahrheit“ in Anführungszeichen, so wie truther in Anführungszeichen auch eine Selbstbezeichnung ist. Nun ist diese Community aber gespalten, weil ein Teil der Meinung ist, dass QAnon eine Psy-Op ist, also eine gesteuerte Geheimdienstoperation gegen das amerikanische Volk, um politische Kräfte oder politischen Unwillen mit Blödsinn lahmzulegen. Und auch diese Geschichte hat etwas sehr Überzeugendes. Das ist die Kraft einer guten Story: Natürlich kann man Realist sein und vieles für Zufall und Emergenz halten, aber wie viel befriedigender ist es, Q als Geschichte darüber zu betrachten, dass hier Strategien der Desinformation und psychologischen Kriegsführung, die man sonst in anderen Ländern benutzt, um Feinde zu schwächen, nun einfach auch im eigenen Land angewandt werden, um den eigenen Machterhalt zu sichern, oder vielleicht auch einfach nur, um davon abzulenken, dass der Präsident eigentlich total unfähig ist und sich, seine Netzwerke und Familie die ganze Zeit bereichert?

TO: Das ergäbe einen unglaublich tollen Film …

AV: Nicht wahr? Auch Trumps Twitter-Account war ja ein gigantisches, absurdes Theater.

„Natürliche Personen“ statt Figuren

TO: Die Reichsbürger*innen, von denen wir vorhin sprachen, sind aber kein Spiel, oder?

AV: Nein, aber von allem, was ich recherchiert habe, schienen sie mir die theatralischsten zu sein.

TO: Sie folgen ja auch einer Verschwörungstheorie, die sie in der politischen und sozialen Realität unseres Landes offensichtlich reale „Inseln“ einer völlig anderen Welt bauen lässt.

AV: Die Idee, dass die BRD eigentlich gar kein Staat ist, sondern das Deutsche Reich fortexistiert, kommt tatsächlich aus der harten nationalsozialistischen Szene. Das war der Versuch, nach der Gründung der BRD diesen Staat und sein Grundgesetz zu delegitimieren – noch vor der Zeit des Internets. Manfred Roeder oder Horst Mahler und das „Deutsche Kolleg“ in Würzburg, ein neonazistischer Think Tank, waren einige der Figuren und Player, die das mitentwickelt haben.

TO: Ah, Horst Mahler war der Anwalt von Rainer Langhans und Fritz Teufel von der Kommune 1 und danach auch von der RAF. Ein Linksextremist, später Holocaust-Leugner.

AV: Ja, das waren stramme Nazi-Akademiker und irgendwie ist die Reichsbürger*innen-Ideologie von da diffundiert und hat seither seltsame, fast travestierende Formen angenommen. So haben Leute angefangen, sich als Reichskanzler auszurufen, sich fiktive Adler-Orden anzuhängen und zu sagen: „Ich gründe einen neuen Staat.“ Das Interessante an der Szene ist für mich, dass sie einen wahnsinnigen Glauben an und Vertrauen in Sprechakte hat. Was Liebknecht oder Scheidemann konnten, das kann sich doch jeder herausnehmen. Vielleicht stelle ich mich auch einfach mal ans Fenster und rufe etwas aus. Aber der Glaube, dass das dann auch wirklich so ist und es nicht etwa noch eine Mehrheit von Menschen geben müsste, die das akzeptieren, und vielleicht noch ein paar Freikorps, die es durchsetzen – das ist halt das Spezielle an diesen Leuten. Deswegen findet man in der Szene der Reichsbürger*innen, zu der auch sogenannte „Selbstverwalter*innen“ gehören, unglaublich viele Akte der Ausrufung, der performativen Erklärung von Wirklichkeit, was als solches eine sehr theatrale Handlung ist.

TO: Mit aller Vorsicht kann man sagen, dass Schlingensief zu Teilen auch so funktioniert hat.

AV: Ja. Ich glaube, dass es in der Kunst auch vor Schlingensief viele vergleichbare Aktionen gab, und das ist den Leuten, die so was in der rechten Szene machen, nicht unbedingt bewusst. Es gab in den 1990er Jahren auch diese Mode der Ausrufung von sogenannten „Mikronationen“ oder Staatsfiktionen, siehe Neue Slowenische Kunst. In solchen Fällen war es künstlerische Praxis, einen exterritorialen Staat zu proklamieren, und die existierten dann ja auch relativ lange. Was immer „existieren“ in diesem Zusammenhang bedeutet.

TO: Einige gibt’s noch, in Litauen und die sogenannte Freistadt Christiania in Kopenhagen. Berühmt geworden ist der Freistaat Fiume, den der italienische Nationalist und Dichter Gabriele D’Annunzio Anfang der 1920er Jahre in der gleichnamigen Stadt gegründet hat. Sie gehört heute zu Kroatien.

AV: In der Reichsbürger*innen-Szene kommt nun die Legende hinzu, dass es einen Unterschied – der ist den Aktiven in der Szene wirklich unglaublich wichtig – zwischen Menschen und Personen gibt. Die reden also nicht von Figuren, sondern von Personen und von Personalausweisen und so weiter, die bewiesen, dass wir nur das Personal des Staates wären und diesen Arbeitsvertrag kündigen könnten. Das heißt, durch das Gesetz werden wir nur als eine juristische Fiktion angesprochen, was innerhalb des Rechtsvokabulars auch völlig richtig ist. Aber die Reichsbürger*innen übertragen das auf die Wirklichkeit und sagen, dass sie zu diesem Staat, der sie die ganze Zeit als Fiktion adressiert, sagen können, dass sie diese Fiktion nicht mehr sein wollen, sondern jetzt sie selbst sind. „Ich bin jetzt Mensch. Und damit kündige ich den gesamten Vertrag, den ich mit dem Staat habe, und bin jetzt frei.“

TO: Wahnsinn. Das ist wieder so ein bizarres Stück.

AV: Im Grunde auch eine Variante der Matrix-Story, nur dass die Fiktion rein sprachlich ist. In dieser Szene steht ständig ein Begriff von Künstlichkeit gegen einen der Echtheit. Und mit diesem konstruierten Widerspruch wird ein gigantisches Theater aufgeführt, weil die Leute – ich glaube, es hat ein bisschen abgenommen, aber vor ein paar Jahren war das ein großes Problem – jede Konfrontation mit der Staatsgewalt filmen und sich selber als die freien menschlichen Subjekte inszenieren, die mit Amtspersonen in Streit geraten, vor denen sie die unsinnigsten Forderungen erheben, sie völlig delegitimieren und versuchen, sie mit ihrer schrägen Logik in die Ecke zu treiben. Zugleich ist das für diese Szene auch wiederum wunderbares Unterhaltungsmaterial, das goutiert und gefeiert wird. Es gibt eine sehr schöne Aufzeichnung von einem Workshop, den Adrian Ursache gegeben hat. Adrian Ursache war einmal Mister Germany und ist dann Reichsbürger-Souveränist geworden. Hier wurde er wiederum berühmt dadurch, dass er vom SEK niedergeschossen wurde, nachdem er versucht hat, sein Haus, das gepfändet werden sollte, gemeinsam mit anderen Leuten zu besetzen. Als die Polizei kam, um ihn rauszuholen, und er mit einer Waffe rumgefuchtelt hat, hat er sich dafür ein paar Kugeln eingefangen. Von ihm gibt es also eine Aufzeichnung, die ihn bei der Durchführung eines Workshops zeigt, den er gegeben hat, nachdem er in der Reichsbürger*innen-Szene berühmt geworden ist, weil er genau mit dieser Art von Reichsbürger*innen-Theater zuvor vor seinem Gartenzaun einen Gerichtsvollzieher und ein paar Polizisten vermeintlich in die Flucht gejagt hat, indem er sie so lange zutextete, bis sie abzogen. Das war der große Beweis dafür, dass es geht – man muss nur genug magische Formeln wiederholen und dann geht die Polizei irgendwann einfach. In seinen Workshops hat er nun versucht, diese magischen Formeln auch anderen Leuten beizubringen. In einem dieser Workshops sagt er: „Schaut, es ist alles nur ein Spiel. Es ist wie im Werbespot von Manuel Neuer, der sagt: ‚Wenn du willst, bin ich nicht mehr deine Freundin, dann bin ich Manuel Neuer‘“ – oder andersrum, das weiß ich jetzt auch nicht mehr. Und genauso könne er sich auch hinstellen und sagen: „Ich bin Angela Merkel und das ist jetzt so.“ Es kommt für ihn lediglich darauf an, Authentizität durchzuziehen: „Ich bin jetzt nur noch Mensch und frei und unabhängig.“ Daher könne jeder Mensch innerhalb des Umfelds von Ämtern und Staatsvertreter*innen immer entscheiden: „Spiele ich mit oder spiele ich nicht mit.“ Denn unsere Souveränität entstehe dadurch, dass wir Kontrolle darüber erlangen, ob wir spielen oder nicht spielen. Das heißt, ich bin jetzt keine „Person“ mehr und leg das einfach ab und bin nur noch ich, oder ich bin jetzt doch wieder Person – aber darüber entscheide einzig und allein ich. Und das ist eine sehr wirkungsvolle Handlungsweise.

Magische Formeln

TO: Und diese Person, die ich dann vorgebe zu sein, bin natürlich auch nicht ich, sondern eine Rolle, die anzunehmen ich mich entschieden habe.

AV: Ja, oder ich nehme eine an und sage: „Jaja, genau der bin ich“, und eine Sekunde später sage ich: „Ach nee, der bin ich doch nicht. Das ist nicht mein Name, mein Name ist ein ganz anderer.“ Das ist eine extreme Form von Theater – aus der Rolle fallen, in eine andere hinein, selbst Regie führen. Während gleichzeitig in dieser Szene – aber nicht nur dort – eine unglaubliche Abschätzigkeit gegenüber allen Theaterbegriffen vorherrscht, denn „Theater“, das ist die Politik, das Polit-Theater, die Politikdarsteller*innen, die gewählten Politiker*innen. Der Theaterbegriff wird die ganze Zeit benutzt, um die eigene Verachtung gegenüber der parlamentarischen Demokratie zu erklären und sich selbst als das authentische Volk zu reinszenieren. Und gleichzeitig spielt man, dass sich die Balken biegen, ohne das so zu benennen.

TO: Wenn ich alte News & Stories-Sendungen von Alexander Kluge anschaue, in denen sich Helge Schneider eine Kapitänsmütze aufsetzt und einen U-Boot-Kommandanten spielt, der die Fragen von Alexander Kluge zum U-Boot-Krieg im Ersten Weltkrieg beantwortet, hat das natürlich auch etwas davon. Das ist ein vor allen Augen absurdes und trotzdem geistvoll oder befreiend wirkendes Theaterspiel, aber mit dem Unterschied, dass der Rest der Wirklichkeit nicht denunziert wird. Für die Reichsbürger*innen ist das eigentliche Theater hingegen der gesamte politische und administrative Alltag unseres Landes. Und Leute wie Adrian Ursache sind sich darüber im Klaren, dass ihr Reichsbürger*innen-Theater ein Trick ist, mit dem man die amtliche Öffentlichkeit verblüffen und sich Freiräume verschaffen kann. Das ist schon eine unglaubliche Reflexion von dem, was Leben an sich ist – eben ein viel größeres, unendliches Spiel.

AV: Was die Reflexion begrenzt, ist jener Glaube, dass die eigenen magischen Formeln wirklich griffen und man irgendwann gewänne. Man könnte quasi allen anderen diktieren, was die Wirklichkeit sein soll. Und das funktioniert eben nicht.

TO: Das ist der eigentliche Unterschied zwischen Leuten wie Helge Schneider und Adrian Ursache.

AV: Aber die Einführung von derart magischen Praktiken ist die konkrete politische Strategie, die in dieser Szene entwickelt wurde. Sie wurde deren Beitrag zur politischen Praxis. Und sie beinhaltet, dass man in einer Diskussion mit anderen Leuten enorme Vorteile erzielen kann, wenn man einfach eine andere Realität behauptet, unsinnige Formulare verlangt und sagt: „Nein, aber da muss eine Unterschrift sein, das ist ja nur ein Stempel, dann ist das nicht gültig.“ Oder man sagt: „Nein, ich brauche einen Fingerabdruck mit blauer Tinte. Tut mir leid, so ist das nicht gültig, da kann ich Ihnen nicht helfen.“ Oder: „Nein, das ist nicht mein Name, der steht da nur.“ Mit solchen Manövern ist es ziemlich lange Zeit gelungen, Vertreter*innen der Exekutive komplett zu verwirren und zu entwaffnen, weil sie darauf angewiesen sind, dass die anderen nach ihren Regeln spielen.

TO: Das delegitimiert die andere Seite vollkommen. Während Theater ja auch viel mit Legitimation zu tun hat: Ich bin auf der Bühne jetzt ein anderer und ihr im Saal gestattet mir das – diese Erlaubnis ist die Grundlage jeder Aufführung im Stadttheater.

AV: Ja, genau. Aber an die Kraft dieser Delegitimierung über den Moment hinaus wird in dieser Szene geglaubt, das ist die Schwäche des Ganzen. Man hat den Staat ausgerufen und erklärt die Polizei jetzt für aufgelöst, aber dann kommt sie trotzdem und verhaftet einen, und man kann nichts dagegen machen.

TO: Reichsbürger*innen funktionieren, bis es zur Probe aufs Exempel kommt. Oder die Wirklichkeit blutet irgendwann wirklich.

AV: Es sind ja auch Leute gestorben. Oder – und das ist, glaube ich, letztlich die Idee und deswegen gibt es diese enorme Aktivität und Propaganda – man überschreitet irgendwann so etwas wie eine kritische Masse. In den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen waren viele Reichsbürger*innen vertreten. Es geht einfach darum, dass genug Leute die eigene Fiktion glauben. Und das verbindet sich sehr gut mit QAnon – wenn die Masse groß genug ist, dann ist der Staat einfach da und real, sobald er ausgerufen wird.

TO: Das heißt, es wächst mitten in unserer Republik eine Theaterrepublik heran, die sich nicht mehr als Teil des offiziellen Landes begreift, sondern das offizielle Land als Theater begreift und gar nicht mehr ernst nimmt, also für nicht mehr legitim erklärt.

AV: Ja, genau. Das Gute ist: Dadurch, dass in der Reichsbürger*innen-Szene alle selber gerne Führer*in sein wollen, entsteht ein neo-historisches Deutschland, ein Flickenteppich von lauter sich überlappenden kleinen Staaten – oder auch großen Staaten –, die sich gegenseitig ihr Territorium streitig machen, weil alle wollen, dass ihr Staat der richtige ist. Das vermindert die Gefahr, weil sich diverse Reichsbürger*innen und Reichsregierungen ständig untereinander bekämpfen. Aber was man daraus lernen kann, ist die reale Wirkung, die der Glaube an die Macht der Fiktion und von theatralen Akten haben kann.

TO: Sie haben vorhin beschrieben, dass es QAnon gelungen ist, anschlussfähig für diverse Verschwörungstheorien zu werden, was das Spiel auf eine ganz andere Ebene gehoben hat. Wenn es diese Person gibt, die das Diverse, dieses Pluriversum unterschiedlicher Verschwörungstheoreme und Stimmen zusammenfasst wie dieser ominöse Q, und er zum Beispiel den Flickenteppich der Reichsbürger*innen in eine größere Narration integriert, kann es doch sehr gefährlich werden.

AV: Ja.

TO: Wenn all diese „natürlichen Personen“, „Selbstverwalter*innen“ und Querdenker*innen auf Q’s Fragen reagieren würden und anfingen, ihre Recherche entsprechend diesem master script auszuführen, wäre das gefährlich.

AV: Ja. Andererseits sind ganz normale Bürger*innen ja auch gefährlich, wenn sie die richtige Erzählung bekommen.

TO: Zum Beispiel?

Änderungen im Verhältnis zu unserer politischen Wirklichkeit

AV: Naja, auch bei den Nazis bestand der Großteil der Basis ja nicht aus gefestigten Verschwörungsideolog*innen, sondern eben aus dem Volk. Ich glaube, wenn es erst mal den richtigen Rahmen gibt, liegt das Mobilisierungspotenzial noch ganz woanders. Aber es gibt zumindest aktuell sehr diverse Szenen politischer Unzufriedenheit mit unterschiedlichen Graden von Organisation. Und die zusammenzufassen, verleiht ein großes Potenzial an Macht, das glaube ich schon. Und vielleicht ein größeres als das Potenzial, über den offiziellen demokratischen Weg zu gehen. Gerade in Deutschland, wo es eine Menge Schutzmechanismen dagegen gibt. In den USA hatte Trump es ja schon geschafft, relativ viele Mechanismen auszuhebeln, weil seine Partei so froh war, den Präsidenten zu stellen. Bis zu dem Punkt, an dem viele Leute in der eigenen Partei – zumindest sagen sie das selber so – erklärtermaßen aufgewacht sind und spätestens aufgrund der Bilder vom erstürmten Kapitol sagen: „Meine Güte, es könnte sein, dass der das tatsächlich ernst meinte mit dem Putsch, und auch das, was er vorher gesagt hat, vielleicht meinte er das ja wirklich.“ Ich fürchte allerdings, dass dies kein nachhaltiger Lerneffekt sein wird. Es ist eine beunruhigend persistente Eigenschaft von vielen Menschen, dass sie Faschist*innen nicht glauben, was sie sagen. Sie denken: „Die meinen das nicht so.“ Das war in der Berichterstattung vor Hitlers Machtergreifung bereits genauso – exakt in der Form, in der man es wieder hören kann. Inklusive des Glaubens, es gäbe Momente, in denen Leute, die faschistische Versprechen machen, sich „entlarven“ und deswegen ihre Attraktivität verlieren würden. Auch eine Theatermetapher. Es wird dabei vernachlässigt, dass Faschismus – je nachdem, wie die historische Situation ist – für sehr viele Menschen auch eine attraktive Option sein kann.

TO: Wie schätzen Sie die medialen Fähigkeiten der Reichsbürger*innen ein? Ist das vergleichbar mit der Attraktivität von QAnon?

AV: Es ist sehr viel diffuser und unorganisierter, aber es gibt eine eigene Sprache und es gibt auch gewisse Regeln und eine große Hartnäckigkeit, das eigene Paralleluniversum scheinbar größerer Selbstmächtigkeit nicht mehr zu verlassen. Und es gibt einen regen Transfer aus den USA in den deutschsprachigen Bereich, was den Souveränismus angeht. In den USA nennen sich die Leute, die sich auf das „Naturrecht“ berufen, sovereign citizens.

TO: Schillers Don Carlos handelt eigentlich durchgehend von der Differenz zwischen dem, was man damals pathetisch als den Menschen entdeckte, der in jedem Katholiken, Protestanten, Bürger, Aristokraten, Niederländer oder Spanier gleichermaßen vorhanden ist, also in dem, was in der Reichsbürger*innen-Szene als Ebene der bloßen „Person“ abgelehnt wird. Schon seltsam, in welch travestierter Form das wiederkehrt. Für Schiller ist eine der großen Fragen ja die, wie man unter all den Höflingen und Rollenspieler*innen am Hof, in der Kirche und auf dem erotischen Parkett einen Menschen entdecken kann. Denn wenn man den Menschen in der Person zum Vorschein bringt, kann man zum Beispiel auch Frieden schließen zwischen Katholiken und Protestanten. Don Carlos’ Vater, König Philipp, fragt ihn spöttisch, ob er ihm denn wenigstens einen Menschen an seinem Hof zeigen könne. Für ihn gibt es da nur Höflinge im unguten Sinne. Der „Mensch“ ist bei Schiller unlösbar mit Pathos verbunden. Er entwickelt in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung sogar die Idee eines idealen Staates, der zur Befreiung des Menschen durch die Mittel der Kunst beitragen soll. Diese Idee des „Menschlichen“ war einmal sehr progressiv besetzt.

AV: Ja. Es ist ein bisschen deprimierend, dass momentan die rechten oder reaktionären Kräfte so viel erfolgreicher damit sind, die Resterampe der Ideen zum Rohstoff ihrer politischen Bewegung zu machen. Es könnte ja auch die Linke sein, aber irgendwie kriegen die das gerade nicht so gut hin. Obwohl ich selbst diesem „Menschen“-Idealismus auch nicht viel abgewinnen kann. Mich hat es immer eher genervt, wenn das Theater sich überanstrengt, um diese Fiktion auf der Bühne zu dramatisieren. Aber lieber im Theater als vor dem Reichstag.

TO: In Ihrem Film beschreiben Sie, wie QAnon von der Spiritualität bis zum Staatsstreich alles innerhalb eines verschwörungstheoretischen Widerstandsszenarios vereint, das sich gegen Aufklärung völlig abdichtet. Ich war schockiert von den Bildern der Erstürmung des Kapitols – nicht weil die Täter*innen so surreal anmuteten, sondern im Gegenteil: Da gab es diese Milizentypen, aber auch die Hipster und Leute, die aussehen wie Performancekünstler*innen. Es ist keine Loser-Szene, die da aufmarschiert. Ähnlich wie bei den deutschen Hygienedemos.

AV: Das stimmt.

TO: So viel Theater war nie.

AV: Die Hygienedemos, also die tatsächlichen Hygienedemos von „Nicht ohne Uns“ und der „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“, sind ja nicht zufällig zuerst vor der Volksbühne in Berlin aufmarschiert, sondern teils als Theatermachende einige Jahre vorher bei der Besetzung des Hauses mit dabei gewesen. Die sind also natürlich mit einem Theaterbewusstsein aufgetreten.

TO: Bei den „Staub zu Glitzer“-Leuten kann ich mir das schwer vorstellen.

AV: Die haben sich recht schnell von diesem kleinen Flügel distanziert, der bei den Hygienedemos beteiligt war. Nichtsdestotrotz – das ist jetzt ein bisschen despektierlich, aber ich war bei der Volksbühnenbesetzung 2017 vor Ort, als wir gerade an dem Reichsbürger*innen-Stück gearbeitet haben, und habe da ein bisschen mitgefilmt und mir das angeschaut und fand es frappierend, weil es so ähnlich war.

TO: So ähnlich mit den Reichsbürger*innen?

AV: Genau. Die Proklamationen, diese Kultur der Ausrufung und so eine seltsame Besetzung – auch im psychologischen Sinne – des Gebäudes und der Glaube daran, mit der Ausrufung von etwas anderem wäre jetzt schon die Wirklichkeit verändert. Und dann an der tatsächlichen politischen Realität zu scheitern und sich einwickeln zu lassen, um mit dieser Besetzung so kläglich zu enden – das hatte ein ähnliches Feeling. Andere Motive, andere politische Zusammensetzung, aber die Stimmung war ähnlich. Natürlich lange nicht so krass wie bei der Erstürmung des Kapitols. Dort hatte man bei manchen Leuten das Gefühl, dass sie komplett in einem ganz seltsamen Film sind und überhaupt nicht verstehen, was sie da gerade tun und was passiert. Aber es lag eine ähnliche Stimmung in der Luft. Und vielleicht vermittelt das zumindest eine Ahnung oder einen Geruch davon, dass sich in unserem Verhältnis zur politischen Wirklichkeit oder in der Art und Weise, wie wir in Aktion treten, gerade etwas ganz grundlegend verändert – unabhängig von politischen Ambitionen. Wobei ich glaube, dass die politische Rechte sich damit leichter tut, weil sie in den meisten Fällen ein instrumentelleres Verhältnis zur Wahrheit hat.

TO: Naja, ich war bei dieser Besetzung der Volksbühne durch das Kunstkollektiv „Staub zu Glitzer“ auch eines Abends vor Ort, und mich hat das eher gerührt, muss ich sagen. Ich bin zufällig in eine Diskussion hineingeraten und habe bestimmt zehn, fünfzehn Jahre niemanden mehr so über Theater diskutieren hören, über die politische Rolle der Institutionen, über die Organisationsformen, all das. Dass so fundamental diskutiert wurde, hatte ich zuletzt 1989/90 erlebt, und das hat mir großen Eindruck gemacht. Das andere ist natürlich der Gestus der Ergreifung, diese Occupy-Geste. Dieser magische Vorgang hat schon funktioniert. Auch weil ich mich persönlich privilegiert fühle und an vielem schuldig. Aber bin ich politisch nur wahrhaftig, wenn ich von Hartz IV lebe? Auch das ist eine Spielart des Konflikts von Mensch und Person. Ich finde gut, dass unsere Unterhaltung über Ihren Film This Is Not a Game am Theater endet, an der Volksbühne. Ja, vielleicht endet sie damit heute wirklich. Zumindest für den Moment. Lassen Sie uns das fortsetzen, ja? Ich fand das sehr anregend. Danke!

AV: Das ging mir genauso. Vielen Dank!

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