Editorial
Editorial
von Tim Sandweg und Christina Röfer
Erschienen in: double 39: Gewalt spielen (04/2019)
Assoziationen: Puppen-, Figuren- & Objekttheater
Gewaltdarstellung im Theater ist ein ambivalentes Feld. Scheint sie einerseits in einer künstlerischen Form, die im Spiel über die Welt nachdenkt, probates Mittel der Reflexion, Aufklärung oder Analyse, gerät sie andererseits schnell in die Falle der Ästhetisierung oder Profanisierung und muss sich den Vorwurf der Verharmlosung gefallen lassen. Auf den Bühnen des Figurentheaters begegnet sie uns in unterschiedlichsten Formen, denen wir uns im Thementeil dieser Ausgabe von double aus zwei Perspektiven genähert haben: Einerseits haben wir Theaterschaffende gefragt, warum sie Gewaltdarstellungen einsetzen und welche ästhetischen Strategien sie dabei verfolgen. Zum anderen interessierte uns die rezeptionsästhetische Blickrichtung: Warum schauen sich Menschen Gewalt an, mitunter sogar gerne? Wo entsteht ein ästhetischer Genuss? Und warum wird die Gewalt an Material von den Zuschauer*innen oftmals viel intensiver wahrgenommen als im Theater mit menschlichen Körpern? Von Künstler*innen, die sich mit traditionellen Formen des Kaspertheaters beschäftigen oder die Drastik des Théâtre Grand Guignol in Splatterästhetik übersetzen, über monsterhafte Umkreisungen oder größtmögliche Stilisierung bis hin zu performativen Reaktionen auf alltägliche Gewalt in Israel reichen die versammelten Positionen. Auch wenn sie in ihren Ansätzen sehr divers sind, spielt das dem Figurentheater immanente Verhältnis von Nähe und Distanz immer eine besondere Rolle – wie der Theaterwissenschaftler André Studt in seinem einleitenden Essay ausführt. Nähe und Distanz sind aber auch in der Konstituierung von Zuschauerschaft in realen Gewaltszenarien entscheidend: In Guantánamo Bay und den US-amerikanischen Geheimgefängnissen, wie der Kulturwissenschaftler Sebastian Köthe in seinem Beitrag analysiert.
Im zweiten Teil des Heftes reisen unsere Autor*innen durch die Lande und laden zu einer Stippvisite nach Litauen ein, kämpfen sich durch den Förderdschungel der Freien Figurentheaterszene in der Bundesrepublik und wohnen einer internationalen, künstlerisch- partizipativen Konferenz bei. Außerdem sind sie zu Gast bei Festivals in Berlin und besprechen Inszenierungen, die, dort und anderswo, aus dem Rückblick in die (persönliche) Vergangenheit den Bogen in die (gesellschaftliche) Zukunft schlagen. Gewohnt vielseitig beleuchtet auch diese double-Ausgabe also wieder die Diskurse der Szene über das Verhältnis von Mensch und Ding, das sich oft als nicht so harmlos entpuppt, wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheinen mag.
Eine anregende Lektüre wünschen
Christina Röfer und Tim Sandweg
Playing Violence
In this issue of double we approach the depictions of violence in puppet theatre shows from two perspectives: On the one hand, we asked theatre professionals why they use depictions of violence and what aesthetic strategies they pursue in doing so. On the other hand, we were interested in the receptive aesthetic perspective: why do people watch violence, and even take pleasure in doing so at times? Where does the aesthetic pleasure emerge? And why is violence against material objects often felt much more intensively by the audience than in a show featuring human bodies? The positions collected range from artists who work with traditional forms of “Kasper” shows, or who translate the drastic elements of Grand Guignol Theatre into splatter aesthetics, to monstrous encirclements and the highest possible stylisation, all the way to performative reactions to everyday violence in Israel. They are complemented by two essays: the theatre scholar André Studt approaches the theme of „playing violence“ in a mental context, and the cultural scientist Sebastian Köthe analyses the constituent nature of spectators in real violent scenarios in Guantánamo Bay.