Lässt sich Geschichte in Geschichten erzählen? Kann Wahrheit Substrat subjektiver Sichtweisen sein? Wenn ja, wie viele Erzählungen hält dann eine Historie aus? Die deutsche Literaturtradition lernte diese Fragestellung vor allem durch die subjektivistische Provokation ihrer Dichterfürsten kennen. Peter Handke hat einen solchen Diskurs vor zwanzig Jahren eröffnet, als er „Gerechtigkeit für Serbien“ rief. Wenig später wurden von Martin Walser, mit seinem Roman „Ein springender Brunnen“, ähnliche Positionen auf die NS-Zeit angewandt. Hier wie dort erhob des Dichters Blick Kraft poetischer Autorität Anspruch auf eine eigene Wahrheit. Die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch erhielt zwar wie Walser den Friedenspreis des deutschen Buchhandels und dazu 2015 den Nobelpreis für Literatur, Dichterfürstin ist sie dennoch keine.
Alexijewitsch arbeitete als Journalistin, bevor sie begann, Romane zu schreiben. In ihrer literarischen Arbeit bedient sie sich noch immer einer journalistischen Strategie: der Originalton-Montage. Auch in „Secondhand-Zeit“, ihrem 2013 erschienenen Roman zum „Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ collagiert sie aus einer Unzahl von Interviews das vielfarbige Diptychon der Welten dies- und jenseits jener historischen Zäsur, die der Zerfall des Sowjetreiches markiert. Es sprechen Parteimitglieder, Soldatenkinder oder Aufsteiger der Jelzin-Jahre. Alexijewitsch lässt Opfer des Stalinismus ebenso zu Wort kommen wie Leute, die man als Nostalgiker bezeichnen würde. Was...