Theater der Zeit

Auftritt

Staatstheater Meiningen: Uns zu zeigen, ist Anfang und Ende

„Ein Sommernachtstraum“ von William Shakespeare – Regie Nicolas Charaux, Bühne und Kostüme Michael Lindner, Komposition Sixtus Preiss, Live-Kamera Luna Zscharnt

von Lina Wölfel

Assoziationen: Thüringen Theaterkritiken Nicolas Charaux Meininger Staatstheater

Ein Irrspiel mit Live-Kamera und Regionalbezug: Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ in der Regie von Nicolas Charaux am Staatstheater Meiningen.
Ein Irrspiel mit Live-Kamera und Regionalbezug: Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ in der Regie von Nicolas Charaux am Staatstheater Meiningen.Foto: Christina Iberl

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Seit jeher gilt der Wald als mythischer Erfahrungsraum – ein Ort zwischen Zivilisation und Natur, zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, ein Ort des Übergangs, der Prüfung, der Verwandlung. In Mythen, Märchen und Religionen wird er zur Projektionsfläche innerer Ängste und Sehnsüchte, bevölkert von Geistern, Dämonen, Feen und fremden Wesen. Er ist Schwelle und Spiegel zugleich: zwischen Kultur und Natur, zwischen dem zivilisierten Selbst und seinem wilden, triebhaften Urgrund. Wer ihn betritt, begibt sich auf eine Reise ins Innere – in ein Dunkel, das ebenso bedrohlich wie verheißungsvoll ist – und trifft mitunter am Ende doch nur auf sich selbst.

Shakespeare nutzt in „Ein Sommernachtstraum“ genau dieses Schwellenpotenzial. Der Wald wird zum zentralen Schauplatz für Liebesverwirrung, Machtspiele und Illusion zwischen athenischen Liebespaaren, Elfen, Kobolden und einer illustren Handwerkertruppe. Für das Auflehnen gegen familiäre Erwartungen, gesellschaftliche Zwänge und die Gesetze des Tages – kurzum: Der Stoff bietet ausreichend satirisches und satyrisches Potenzial.

Regisseur Nicolas Charaux macht daraus eine vor Zynismus und Selbstironie strotzenden Inszenierung über den (Meininger) Theaterbetrieb. Denn der „Sommernachtstraum“ hat in der thüringischen Kleinstadt Tradition: zum 18. Mal steht die Komödie seit Theatergründung 1856 auf dem Spielplan, sechsmal inszenierte Theaterherzog Georg II. ihn höchst persönlich. Auch Ausstatter Michael Lindner ließ sich vom musealen Chic des 19. Jahrhunderts inspirieren und baut eine mystisch-romantische Berglandschaft samt grell leuchtendem Riesenmond und Spanplatten-Baum auf die Bühne. Selbst die Kostüme kommen zunächst naturalistisch-historisierend daher, bis die zottigen Perücken und pastellenen Mesh-Gewänder der Feen und Elfen signalisieren: jetzt geht’s los mit der verwunschenen Parallelwelt.

Also, endlich rein in den Wald. Hier kommt eine leicht überlichtete Live-Kamera (Luna Zscharnt) zum Einsatz. Stilistisch zwischen Mockumentary und Folk Horror-Film im Do it yourself-Stil angesiedelt, werden Brusthaare, aufgerissene Augen und lüsterne Münder auf Leinwand übertragen. Bühnen- und Kamerageschehen kreuzen einander, die Blicke doppeln, verschränken, überlagern und ergänzen sich. Die Liebenden irren über die Bühne, sehen einander nicht, während ihre panischen Gesichter in Großaufnahme projiziert werden. Da spürt man die Vereinzelung im Wald, die Hatz und die Grausamkeit, die der Ersetzbarkeit der Liebespartner innewohnt. Und vielleicht einen Hauch – ausnahmsweise mal ernst gemeinter – Institutionskritik: Die Austauschbarkeit der Liebenden als Austauschbarkeit der Spielenden, das Ringen um Anerkennung, der Wunsch gesehen zu werden, das Ausgeliefert sein, Manipulation, kollidierende Egos. Man muss sich aber aktiv darauf einlassen, ablenken lassen vom komödiantischen Aneinander: längst ist die Kamera in Titanias tuchbehangene Liebeshöhle weitergezogen oder folgt Oberon und Puck in den Pausenraum hinter der Bühne auf Käffchen und Banane bei Deep-Talk mit Punchline-Potenzial.

Es ist letztlich das Ensemble, das dem Abend eine Qualität verleiht, die ihn über einfach gut gemachtes Unterhaltungstheater mit lokalem Bezug hinaushebt – dieses junge, wache, differenzierte und einfach unfassbar gute Ensemble, in dem sich jede:r und keine:r zugleich in den Vordergrund spielt. Die bezaubernd-komische Bromance zwischen Puck und seinem Herren Oberon – Rico Strempel und Vivian Frey entwickeln eine fast kindliche Spielfreude miteinander, die nicht nur ansteckend ist sondern den Charakteren erstaunlich subtile Zwischentöne zuspricht.

Und dann sind da jene, die im Minutentakt zwischen Handwerker:innen, Liebenden und Elfenwesen wechseln – mit einer Nuanciertheit und Konsequenz, die schlichtweg Schauspielkunst ist. Anja Lenßen begegnet Theseus als Hippolyta mit souveräner Gleichgültigkeit, spielt Titania wild und zornig und gibt dem Handwerker Squenz eine angenehm trockene Abgeklärtheit. Florian Grafs Zettel ist ein so überambitionierter Nervbolzen, dass er jeden Schauspielschulbewerber in den Schatten stellt. Pauline Gloger gerade noch eine vor allem und von allen abgefuckte Helena, dann der sehr engagierte, aber ein bisschen zu nervöse Schlucker. Mia Antonia Dressler besitzt als Hermia die notwendige sassyness Lysander bestimmt seinen Schlafplatz auf der andere Seite der Bühne zuzuweisen. Dann die dazugehörigen Herren: Lysander und Demetrius, die sich eigentlich nur in Statur sowie Haar- und Anzugfarbe unterscheiden, womit Matthis Heinrich und Leonard Pfeiffer zwar geschickt, aber noch etwas unsicher spielen. Im Gegensatz zu ihren Handwerkerfiguren Flaut und Schnauz deren Spiel mit kleinsten Gesten ein riesen Spaß ist – Szenenapplaus für Heinrich für seine bei aller feucht-fröhlichen Knutscherei standhaft bleibende Wand inklusive.

Und das Meininger Premierenpublikum? Das lacht und grölt und klatscht – es liebt seinen Sommernachtstraum. Eine lustvolle Komödie in wunderschöner Kulisse. Das, was Theater sonst noch könnte, was über den Text hinaus geht, lässt Charaux nur durchscheinen, wenn er es dem Abend nicht sogar bewusst versagt. Zum Schluss dreht sich die Bühne, Querbalken, Leitern, Sicherungen, die das Bühnenbild zusammenhalten, werden sichtbar. Ein Scheinwerfer leuchtet direkt ins Publikum: aufwachen. Der Spaß ist vorbei. „Wie täuschen wir die träge Zeit – wenn nicht durch ein Vergnügen?“ Ein Vergnügen war es allemal. Und genau darin liegt die Begegnung mit uns selbst: Dem Wunsch folgend, der krisengeprägten Realität für einen Moment zu entkommen, fliehen wir in den Wald, suchen lustvolle Ausgelassenheit und werden am Ende doch vom leisen Unbehagen unserer eigenen Ignoranz eingeholt.

Erschienen am 12.5.2025

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