Theater der Zeit

Aktuelle Inszenierung

Mit Dante driften

In Belgrad verschränkt Frank Castorf die „Göttliche Komödie“ mit einer frühen Erzählung von Peter Handke

von Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: Barbara Mundel – Stürzende Gegenwart (12/2022)

Assoziationen: Europa

Jana Milosavljević als Engel der Verzweiflung und rechts Dunja Stojanović in Dantes „Göttlicher Komödie“ in der Regie von Frank Castorf am Beogradsko dramsko pozorište.
Jana Milosavljević als Engel der Verzweiflung und rechts Dunja Stojanović in Dantes „Göttlicher Komödie“ in der Regie von Frank Castorf am Beogradsko dramsko pozorište.Foto: Dragana Udovicic

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Inferno, Höllenkreise, Sünderqualen? Auf der Bühne steht nur eine Bretterbude als Jugo-Imbiss, über der das Coca-Cola-Signet zu einer Teufelsfratze verfremdet ist. In einer Telefonzelle klingelt es unendlich lange, und plötzlich stürmt eine Schar Schauspieler aus dem Hof, zu dem die Hinterbühne geöffnet ist, für eine kurze Rast in den Imbiss. Jemand drückt auf der Jukebox Dylans „Knockin‘ on Heaven’s Door“, und schon wird der gerade nach draußen ­gestellte Tisch wieder abgeräumt – mit einer Hand das gesamte Gedeck im Tischtuch als Sack, wie man es vielleicht schon einmal spätabends irgendwo gesehen haben könnte. So beginnt hier die Geschichte des früheren Fußballtorwarts und Monteurs Josef Bloch, Protagonist in Peter Handkes „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ aus dem Jahr 1970, der seine grußlose Ankunft beim Frühstück seiner Baustellenkollegen als Zeichen seiner ­Entlassung deutet und im Folgenden aus der Lebensbahn gerät. Als Inferno-Wanderung durch Wien und schließlich nach dem Mord an einer Kinokassiererin ins Burgenland an die Grenze zu Jugoslawien, damals.

Das ist eine überraschende Setzung für eine Parallelmon­tage zu Motiven aus und vor allem auch Reflexionen zu Dantes „Göttlicher Komödie“, mit der Frank Castorf Ende Oktober zu einem fünfstündigen Abend am Belgrader Schauspielhaus anhebt. Das Beogradsko dramsko pozorište, 1947 als Stadttheater gegründet und heute am Rande des unmittelbaren Stadtzentrums ge­legen, gehörte bis vor Kurzem nicht zur ersten Liga der ex-jugoslawischen Theater oder der Theater Serbiens. Das Gebäude mit 500 Plätzen vor einer nicht gar so großen Hauptbühne – und seit Kurzem ­einer Sommerbühne gleich dahinter – zeigt sich im sachlich funktionalen Kulturhausstil der fünfziger Jahre weniger prunkvoll als das Nationaltheater und ebenso wenig glasfassadenmodern wie das Dramatheater. Ein hässliches Entlein ist es trotzdem nicht, aber das Potenzial war natürlich aus dem Inneren zu entwickeln, als der jetzige Intendant Jug Radivojević das mit mit­tlerem Repertoire so vor sich hin spielende Theater vor zwei Jahren übernahm. Jüngere Regisseure wie Miloš Lolic, die im ex-jugoslawischen ­Theater wichtige Neuerungen anregten, oder aus Deutschland Ersan Mondtag, der hier mit „Living Room“ sein Auteur-Theater der Familienhölle auswärts noch einmal neu erarbeitete, sollten das Ensemble mit anderen Spielweisen bekannt machen und vor allem mit der Energie des Risikos aufladen. Motto: Alles geht in Newgoslavia, wie das geläufige Wort für die kulturelle Rekonstruktion heißt.

Castorfs Belgrad-Debüt hat indes eine viel längere Vorgeschichte. Er war mehrfach mit der Volksbühne zum internationalen Festival BITEF nach Belgrad eingeladen und wurde nachher immer wieder umworben, dort zu inszenieren. Als 2010 das Natio­naltheater eine Produktion mit ihm plante (die aber nicht zustande kam), lernte er den serbischen Bühnenbildner und Filmszenografen Aleksandar Denić kennen. Aus der Begegnung wurde das produktivste Regie-Bühnenbild-Duo der Gegenwart, mit bis zu dieser Arbeit insgesamt vierzig Inszenierungen in Schauspiel und Oper und einem neuen Stil für Castorf-Inszenierungen in einer visuell hoch aufgeladenen Mehrschichtigkeit der historischen Verweise in die reale Geschichte, ihren Symbolen und dazu noch Theater- und Filmgeschichte in großen Zitaten, wie das etwa beim Berliner „Faust“ 2017 zu erleben war.

Der Josef Bloch des Buchs ist dagegen ein einfacher und einsamer Mann, den Handke mit ungerührter Lakonie erzählt. Marko Gvero, der schweigend mit unsagbar tieftraurigen Augen und irgendwie magisch verschmutzten Bartstoppeln in die Kamera von Andreas Deinert hineinschaut, spielt ihn als rätselhaft ­Getriebenen und Verlorenen, bis in der dritten Stunde des Abends alles zusammenkommt, was Castorf hier in den verschiedenen Erzählsträngen angelegt hat.

Die Dante-Passagen zuvor sind nur lose mit der „Komödie“ assoziiert. Ein paar Figuren versammeln sich auf der nächtlichen Straße vor dem Theater, das sie dann als Gang ins Inferno betreten, wo eine Leuchtschrift verkündet: „Heaven is a place where nothing ever happens“. Es wird sehr viel über das Spezifische von Poesie referiert, über ihren Klang und dessen besondere Bedeutung in Dantes Italienisch. Teilweise wirkt das wie eine literaturhistorische Hommage, bei der es etwas weniger wild zugeht als sonst bei Castorf, auch wenn die aufgedonnerten Schauspielerinnen am Eingang zur Hölle wie am Einlass zu einem besonders angesagten Club betteln müssen. Bloch fährt indes, gefilmt in ­einem Belgrader Linienbus, Richtung Burgenland.

Dort, an der Grenze, begegnet er Tito (gespielt von Aleksandar Jovanovic) in seiner weißen Uniform, der ihm erzählt, dass er 1940 in Moskau in dem berüchtigten Lubjanka-Gefängnis den Dichter Ossip Mandelstam getroffen hat, nach seiner Verhaftung wegen eines Spottgedichts auf Stalin. Mandelstam, der zwar schon 1938 unter heute noch nicht ganz geklärten Umständen in einem Zwischenlager bei Wladiwostok zu Tode kam, war ein kundiger Verehrer Dantes und schrieb mehrere Essays, die später als „Gespräch über Dante“ erschienen sind. Mit dieser kühnen Konstruktion – Tito hielt sich zum genannten Zeitpunkt tatsächlich in Moskau auf – bringt Castorf den Dante-Komplex zusammen mit dem driftenden Mörder bei Handke in einen jugoslawisch-serbischen Kontext, der es in sich hat in einer Stadt, in der die Trümmergebäude der NATO-Bombardierung noch zu sehen sind. Teile der aktuellen serbischen Regierung wissen gerade nicht, wie man es mit Russland halten soll. Zugleich ist Serbien auch ein Flucht- und Durchgangsland für emigrierende Russen, während blau-gelbe Solidaritätsflaggen in Belgrad kaum zu sehen sind. All das ist sozusagen Atmosphäre um diese Inszenierung herum, und tatsächlich geht kaum jemand raus von denen, die vielleicht mehr Dante erhofften.

Der kommt noch ausführlich mit der Geschichte des toskanischen Adligen Ugolino aus dem tiefsten Höllenkreis zur Sprache und zur Darstellung, gezeigt in kannibalistischer Vereinigung mit seinem kirchlichen Widersacher – vom Ensemble fast kabarettistisch vorgeführt, zugleich ein Bild, wie sich noch Tote in der Hölle totbeißen, was durchaus als Macht grauenhafter Vergan­genheit über die Gegenwart gedeutet werden kann. In dem Zusammenhang fehlt auch nicht der wie alle anderen Figuren von ­Adriana Braga Peretzki wunderbar kostümierte Engel der Verzweiflung aus Heiner Müllers „Auftrag“, der inzwischen in beinahe jeder Castorf-Inszenierung wie eine Signatur vorkommt, hier aber in der gewaltigen Textmontage noch einmal überrascht und auch sehr viel schlüssiger – und anschlussfähiger – ist als zuletzt beim Dresdner „Wallenstein“ (TdZ 06/22).

Für eines der mehreren Enden, die auch dieser Castorf weit nach Mitternacht sucht, hat William Minke nach seinem ausgezeichneten filmischen Soundtrack zwei Stücke gefunden, die dann in der Überlagerung Castorfs ästhetische Methode als Musik­theater noch einmal vorführen. Simply Reds Version von Robert Johnsons „Me and the Devil Blues“ wird allmählich mit „The End“ von den Doors überlagert, dessen Text dann mit einer Zeile ­Vorsprung vor dem Original von der Schauspielerin Jana Milosavljević in ganzer Länge performt wird, bis Jim Morrisons surrealer Text über die Verbindung einer darin auftretenden Schlange in Heiner Müllers New-York-Traum von den drei Welten mündet. Von der Musikgeschichte zurück ins Theater, wo mit Mandelstam über Handke Dante verhandelt wird. Eine so göttliche wie harte Kollision. //

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