Auftritt
Theater Magdeburg: Pirosmanis Giraffe
„Im Menschen muss alles herrlich sein“ von Sasha Marianna Salzmann – Regie Alice Buddeberg, Bühne Emilia Schmucker, Kostüm Clemens Leander, Musik Matthias Kloppe
Assoziationen: Theaterkritiken Sachsen-Anhalt Alice Buddeberg Sasha Marianna Salzmann Theater Magdeburg

Die Struktur des Abends wird schon in den ersten Minuten deutlich: Vor dem Eisernen Vorhang stehen Schauspieler:innen in einer Reihe, alle im gleichen Kostüm – weite Hosen, enge Blusen, die gleichen braunen Locken – und erzählen in einem sich ergänzenden, teils chorischen Sprechen von dem wiederkehrenden Traum, den sie alle haben: Eine Reihe von Müttern und Töchtern, die Mutter der einen ist die Tochter der nächsten. Eine Uhr beginnt zu ticken.
Im Zentrum des Abends stehen die Biografien von vier Frauen, ein Familienepos, ein Erlebnisbericht der Perestroika-Zeit, eine Erzählung über die Poesie des Zerfalls.
Lena und Tatjana, die Mütter jeweils einer Tochter, sind beide in der Sowjetunion aufgewachsen, ihre Kinder Nina und Edi kennen das (Ost-)Deutschland der Nachwendezeit, in dem sie aufgewachsen sind.
Die Inszenierung folgt in einer klugen Strichfassung im wesentlichen Lenas Lebensgeschichte. Ihr Aufwachsen mit den Eltern in der Ukraine einer sich auflösenden Sowjetunion (schon hier eine komplizierte Familienbeziehung), das durch die Krankheit der Mutter motivierte Medizinstudium, die erste Liebe zu einer Frau und danach die nächste zu einem „Tschetschenen“, die Geburt des Kindes, von dem Mann, den sie liebt, mit dem sie nicht zusammenlebt, dann die Heirat mit einem, den sie nicht liebt, mit dem sie aber als sogenannter Kontigentflüchtling nach Deutschland gehen kann. Was im Roman auf Lena als Erzählung fokussiert ist, wird in der Fassung von Alice Buddeberg und Viktoria Göke zur Figurensprache und zum Dialog. Alle sind Lena. Wer welche Szene spielt, wird bisweilen scheinbar spontan entschieden. Auf der Bühne von Emilia Schmucker – eine mit Sand bedeckte Fläche – entstehen so, auch mithilfe eines Overheadprojektors, Szenen der Erinnerung. Die Zeit bei der Großmutter in Sotschi, die Sommer im Ferienlager „Kleiner Adler“, die Autofahrt zur Aufnahmeprüfung zum Medizinstudiengang, alles wird gerade einmal mit einer Handvoll Requisiten auf der bis auf den Sand leeren Bühne erzählt. Der Sand läuft durch die Finger, mal als Bündel eingewickelt als Lenas Baby, mal als die Zeit, in der die einzelnen Körner für die Erinnerungen stehen.
Die Inszenierung verlässt sich auf die Sprache des Textes, auf ihre Geheimnisse, spürt ihnen mit Genauigkeit und Schauspielkunst nach. Das Ensemble spielt mit großer Freude, mal überschwänglich Lena als Kind, mal bitter enttäuscht oder ernüchtert. Mansur Ajang, Iris Albrecht, Anton Andreew, Marie-Joelle Blazejewski und Isabel Will spielen unabhängig von Alter und Geschlecht die Romanfiguren in wechselnder Besetzung und mit großer Lust daran, den Figuren nahezukommen.
Was nicht erzählbar bleibt: Die Zentrifugalkräfte der „Fleischwolfzeit“, wie Lena die Zeit während des Zerfalls der Sowjetunion nennt. Als Leitmotiv dafür dient das Gemälde des georgischen Malers Pirosmani einer Giraffe, „entstanden aus dem Gedanken, gar nicht erst zu versuchen, die Welt so zu sehen, wie sie war. Weil es gar nicht die Möglichkeit dazu gab“, wie es im Text heißt. Während die alte Zeit im Sterben liegt, und die neue noch nicht geboren ist, ist die Zeit der Monster, wie Gramsci schreibt. Die Sowjetunion, das eigene Leben und die Geschichte narrativierbar zu machen in einer Zeit, in der alles zu zerbrechen scheint, kann Lena nicht gelingen und genauso wenig Edi (Lenas Tochter), deren Vater ihre Beziehungen mit Frauen nicht akzeptiert und in Thüringen die AfD wählt.
Die Geschichten von Edi und Tatjana (Lenas bester Freundin) werden a-chronologisch und in fragmentarischen Einschüben erzählt. Bei Tatjanas Monolog, der von ihrer Ernüchterung in Westdeutschland erzählt, ist es dann auch mit der chorischen Verfremdung und den Effekten des Erzählens vorbei. Psychologisch genau und mit liebevollem Figurenblick wird hier die Geschichte einer Frau in einem einzigen Monolog erzählt. Es sind die Frauen, die an diesem Abend die kompetenteren, lebensfähigen sind. Sie halten zusammen – gegen die Kräfte des Zerfalls.
Elegant, poetisch, sprachlich genau, reduziert und aktuell erzählt der Abend in Magdeburg von den Kräften, die in einem Kollaps wirken, aber auch der Poesie darin. Ohne jede Folklore und mit einem genauen Blick, der nah an der Lebensrealität der Frauen ist, kommt hier auf die Bühne, was fast nicht darstellbar ist.
Erschienen am 19.12.2022