Wilde Laute. Ein Spiel abseits der Sprache
von Lorenz Aggermann
Erschienen in: Recherchen 102: Der offene Mund – Über ein zentrales Phänomen des Pathischen (03/2013)
Eine Studie, die diesem Spiel, wie es im offenen Mund paradigmatisch zum Ausdruck kommt, sowie seinen akustischen und visuellen Figurationen in ihrer gesamten Bandbreite nachgeht und ebenjenen Raum durchmißt, den diese mit ihrem Oszillieren zwischen dem Symbolischen, dem Realen und dem Imaginären, zwischen Sprache, Klang und Affekt eröffnen, muß demnach wohl beim Gähnen ihren Ausgangspunkt nehmen und im Schrei mitsamt seinen Derivaten wie Jammern und Heulen, bis hin zum Wimmern, Weinen und Klagen enden. Dieses Vorhaben mag sehr umfassend erscheinen, doch es kann sich auf ein Theaterstück berufen, das sich einem ähnlichen Unterfangen verschrieben hat.
Nachdem er in jugendlichem Furor das Publikum schon einmal einen Abend lang einer Beschimpfung preisgab, läßt Peter Handke, heute eher als Romancier denn als Dramatiker geschätzt, in seinem Stück Untertagbluesseinen Protagonisten, den „wilden Mann“, das Publikum nur noch müde „angähnen“ (so die Regieanweisung zu Beginn der sechsten Szene).91 Das Gähnen bildet den Auftakt zu einem Spiel, in welchem der Protagonist das ganze Spektrum des Oralen durchmißt und so vom sprachlichen Register immer wieder zum Geräusch, zum optischen Ausdruck, zum Klang, als auch ins Affektive wechselt. Nach dem anfänglichen Gähnen steigert die Figur nicht nur ihren Redefluß, sondern verfällt auf ebenso ungewöhnliche wie markante...