thema II: theaterland baden-württemberg
„In Stadthallen lässt sich kein neues Publikum generieren“
Die drei Intendanten der baden-württembergischen Landesbühnen Carsten Ramm, Friedrich Schirmer und Thorsten Weckherlin im Gespräch mit Elisabeth Maier
von Thorsten Weckherlin, Elisabeth Maier, Friedrich Schirmer und Carsten Ramm
Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)
Assoziationen: Baden-Württemberg Badische Landesbühne Württembergische Landesbühne Esslingen Burghofbühne Dinslaken
Ihr Auftrag ist es, mit ihren Spielplänen „risikofreudige, unbequeme und unberechenbare Kunst mit unterhaltsamen und traditionellen Produktionen auszubalancieren“. Das sieht die Konzeption „Kunst 2020“ der badenwürttembergischen Kulturpolitik für die drei Landesbühnen vor. Kurz gesagt: Sie bringen anspruchsvolle Kultur in den ländlichen Raum. Erfolgreich, aber mit ganz unterschiedlichen ästhetischen Konzepten entwickeln die Intendanten Carsten Ramm in Bruchsal, Friedrich Schirmer in Esslingen und Thorsten Weckherlin in Tübingen die Profile ihrer Häuser, die im besten Sinn Wanderbühnen sind.
Grenzen setzen den Landestheatern die finanziellen Möglichkeiten. Siebzig Prozent der Etats finanziert nach dem gängigen Modell das Land, dreißig Prozent tragen die Kommunen. Nur die Bühne in Bruchsal bekommt etwas mehr von der Stadt. Für die vorbildlichen Projekte, die alle drei Landestheater mit ihren Kinder- und Jugendbühnen anstoßen, gibt es zwar zusätzliche Fördermittel, zum Beispiel von der Kulturstiftung des Bundes oder aus anderen Töpfen. Das hat allerdings einen Haken. „Wenn ein Projekt erfolgreich gestartet ist, läuft die Förderung schon bald wieder aus“, bedauert Marco Süß, Leiter der Jungen WLB in Esslingen, etwa mit Blick auf den Innovationsfonds des Landes Baden-Württemberg oder den Topf „Kulturelle Bildung im ländlichen Raum“. Deshalb sein Wunsch: „Das sollte ein Nachhaltigkeitsfonds werden.“ Denn Pläne haben die Theatermacher viele.
Die Landespolitik setzt auf ihre Theater vor Ort, die künstlerisch viel wagen und gewinnen. „Sie erreichen ein Publikum in ihren Regionen, das sonst nicht so leicht Zugang zur Kultur hätte“, sagt Petra Olschowski, Staatssekretärin im Ministerium für Wissenschaft und Kunst. In Zeiten der Krise sind die Theater mit Abstecherbetrieb für sie wichtiger denn je. „Gerade die Kultur bietet die Möglichkeit, mit den Problemen und Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft aktuell steht, umzugehen und Reflexionsmöglichkeiten zu schaffen.“ Der Spagat zwischen ambitioniertem Ensemble- und Repertoiretheater und der kulturellen Grundversorgung auf dem Land funktioniert aus Sicht der Landespolitikerin bestens. Die Frage, ob das Modell Landesbühne noch zeitgemäß ist, stellt sich daher für sie grundsätzlich nicht. Im Gespräch bringen die drei Theaterchefs Ziele und Zukunftsperspektiven ihrer Arbeit auf den Punkt.
Landesbühnen haben durch den Abstecherbetrieb die Chance, Menschen in ganz unterschiedlichen Lebensumfeldern anzusprechen – auch jene, die ansonsten weniger Berührung mit Theater und Kunst haben. Wie beurteilen Sie die politische Bedeutung Ihrer Häuser?
Thorsten Weckherlin: Wir Landesbühnen stellen eine Grundversorgung sicher, die die Teilhabe der Menschen am gesellschaftlichen Leben ermöglicht – und selbstverständlich auch ihrem Vergnügungsinteresse Angebote macht. Kunst ist ein unverzichtbares Lebensmittel für eine Gesellschaft, die sich weiterentwickeln will. Durch unsere Abstecher stellen wir eine Öffentlichkeit her, verhandeln Grundfragen des Zusammenlebens. Das tun wir mit den Mitteln der Theaterkunst; denn sagen lassen sich die Leute nichts, erzählen lassen sie sich alles. Theater hat die Chance, sie mit Kunst zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben zu verführen. Unsere Qualität misst sich dabei daran, ob es gelingt, an diesem Abend, an diesem Ort und mit diesem Publikum einen Zauber zu entfalten. Deshalb heißt unser Slogan am Landestheater Tübingen: Wer ins Theater geht, küsst besser.
Friedrich Schirmer: Wir machen Kunst, nicht Politik. Und das „flächendeckend“, ganz im Sinne der Konzeption „Kunst 2020“ des Landes Baden-Württemberg. Aber seit der Finanzkrise 2007 ist dieser Auftrag erschwert. Denn den Kommunen stehen immer knappere Etats für ihre Kulturprogramme zur Verfügung. Davon lassen sich selbst die vergleichsweise günstigeren Produktionen der Landesbühnen nicht mehr finanzieren. Viele Stadt- und Veranstaltungshallen sind Eigenbetriebe, die wirtschaftlich kalkulieren müssen. Unser Kinder- und Jugendtheater hat mit seinem Leiter Marco Süß ein gut funktionierendes Netzwerk aus Schulkooperationen aufgebaut. Mit dem lapidaren Hinweis, die Kommunen sollen die Finanzierung übernehmen, stellt das Land die Förderung dafür 2018 leider wieder ein. Hier, an der Schnittstelle von Kultur- und Bildungspolitik, wäre etwas mehr Weitsicht über die tagespolitischen Schlagworte hinaus nötig. Dass wir mit unseren Spielplänen beim Publikum ankommen, zeigt unsere Bilanz. Mit knapp 114 000 Zuschauern in der vergangenen Spielzeit haben wir insgesamt die besten Zuschauerzahlen in den letzten 25 Jahren erzielt. Unsere Produktionen wie die Uraufführung von Robert Seethalers „Der Trafikant“ haben sich in den Abstecherorten sehr gut verkauft. Über diese Neugier freue ich mich.
Carsten Ramm: Wir sind nah dran an den Kommunen, in denen wir unsere Abstecher spielen, und praktizieren seit Jahrzehnten eine kontinuierliche Kulturarbeit, machen das Publikum mit neuen Formen und Inhalten vertraut. Ich freue mich, wenn etwa in Bietigheim-Bissingen eine gesellschaftskritische Komödie wie Philipp Löhles „Du (Normen)“ erfolgreich läuft und diese neue Dramatik vom Publikum auch angenommen wird. Da sehe ich es auch als unsere Aufgabe, den Kanon der Theaterstoffe zu erweitern. Innovative Kunst in die Regionen zu tragen ist unser Ziel. Und wir beschäftigen uns mit politischen und gesellschaftlichen Themen, die die Menschen in unserem Umfeld bewegen. In einer Reihe von Lesungen haben wir etwa den Nationalsozialismus in Bruchsal behandelt. Da haben wir als Theatermacher auch Diskussionen in der Stadt in Gang gebracht.
Landesbühnen gastieren noch immer am häufigsten in Stadthallen. Einige dieser Gebäude sind schon stark in die Jahre gekommen. Schwierige Bedingungen für Aufführungen. Kunst-Staatssekretärin Petra Olschowski plädiert dafür, über neue, ungewöhnliche Spielorte nachzudenken, um neue Publikumsschichten für das Theater zu begeistern. Wie denken Sie darüber?
Schirmer: Dieses Ziel verfolgen wir schon lange. Für unsere Junge WLB sind die Stadthallen eher die ungewöhnlichen Spielorte. Die Schauspieler kommen direkt in die Schulen. Für Kindergärten und Vorschulen bieten wir sogenannte Lesekisten an, die in Bibliotheken gezeigt werden. Marco Süß hat für die Stadt Esslingen den Kulturrucksack initiiert. Da hat er alle weiterführenden Schulen und zwei weitere Kulturinstitutionen ins Boot geholt. Allen Schülern der 5. Klassen wird ein breit gefächertes kulturelles Angebot mit kulturpädagogischem Begleitprogramm gemacht. Das ist ein vorbildliches Projekt. Mit unserem „Kulturtäschle“ und Schulpartnerschaften tragen wir diesen Impuls in verschiedene Gastspielorte weiter. Um mit großen Produktionen auf Tour zu gehen, braucht die Junge WLB dringend eine mobile Tribüne für besondere Spielorte. Aber das scheitert an der Finanzierung. Was die Gewinnung von neuen Zuschauern in den Abstecherorten angeht, stehen für mich nicht die Spielorte im Vordergrund. Wir brauchen theaterbegeisterte Verbündete innerhalb und außerhalb der jeweiligen Kulturämter. Neue Zuschauer erreichen wir auch mit Formaten wie unserer Theaterserie „Der Frauenarzt von Bischofsbrück“, in den achtziger Jahren eine Radio-Kultreihe des Südfunks, Produktionen wie „Der Hals der Giraffe“ oder „Nipple Jesus“ von Nick Hornby – ein kluger Monolog über den Kunstbetrieb, den wir in Museen spielen.
Weckherlin: Bei uns in Tübingen laufen einige Projekte, um das Modell Landestheater neu und weiter zu denken. Die Initiative „Trafo – Modelle für Kultur im Wandel“ der Kulturstiftung des Bundes ermöglicht uns, gemeinsam mit dem Regionaltheater Lindenhof, die Theaterwerkstatt Schwäbische Alb. Künstler leben in kleinen Gemeinden und entwickeln mit den Bürgern dort Projekte. In dieser Reihe haben wir zum Beispiel den „Video-Hike Winterlingen“ von Tobias Rausch realisiert, eine Geschichtswanderung. Ein junges Künstlerteam um Jeffrey Döring recherchierte in der kleinen Gemeinde Winterlingen zum Thema Migration und Heimat und hat dort den Begegnungsort „Eden“ eingerichtet, was in dem Projekt „Schule der Sehnsüchte“ kulminierte. Hans HS Winkler und Tilman Neuffer kooperieren mit Heimatmuseen. Sie planen ein Erinnerungsarchiv, wollen die oral history der Dörfer auf der Schwäbischen Alb vermitteln. Schließlich soll eine Werkstatt die Menschen ermutigen, selbst Theater zu machen. Allerdings stellt dieses Projekt mein Team vor eine Zerreißprobe. Es kostet viel Zeit. Da weiß ich nicht, wie lange wir das noch aushalten.
Immer wieder stellen Politiker und Kulturverantwortliche die Frage, ob denn die Landesbühnen noch zeitgemäß sind, oder stellen das Modell sogar ganz infrage. Wie lautet da Ihre Antwort?
Ramm: An unserer guten Zusammenarbeit mit den Partnerkommunen sehe ich, dass das Modell bestens funktioniert. Da gibt es einen regen Austausch, wir werden auch gefragt, wenn zum Beispiel eine neue Halle geplant wird. Ein Problem ist die wachsende Konkurrenz mit anderen Kulturveranstaltern. Dass die Landesbühne Bruchsal allerdings kein eigenes Theater hat, erschwert unsere Arbeit. Mit einer eigenen Spielstätte hätten wir viel mehr Möglichkeiten. Stolz sind wir auf unser Bürgertheater. Die Partizipation ist bei uns in Bruchsal auf einem sehr guten Weg. Von 2012 bis 2015 haben wir mit Unterstützung des Kunstministeriums und vieler Förderer das Zukunftsprojekt „Utopolis“ realisiert. Da haben Bürgerinnen und Bürger, Institutionen und wir Theatermacher Visionen für ein besseres Zusammenleben 2050 entwickelt. Das mehrjährige Projekt mündete 2015 in ein Festival im Rahmen der Heimattage des Landes. Dennoch: Für die Schauspieler sind die Bedingungen an den Landesbühnen nicht einfach, weil lange Fahrten zu den Abstechern an den Kräften zehren. Aber gerade für junge Künstler sind sie ein wichtiges Sprungbrett.
Weckherlin: Das Modell Landesbühne ist keineswegs überholt. Natürlich müssen wir die Qualität unserer Arbeit immer wieder daran messen, ob es gelingt, die richtigen Formen und Inhalte für Sigmaringen, Tuttlingen, Nürtingen und viele andere Spielorte zu finden. Und wir müssen raus aus den Stadthallen, denn da lässt sich kein neues Publikum mehr generieren. Die drei Landesbühnen in Baden-Württemberg arbeiten aus meiner Sicht erfolgreich. Langfristig kann man das Modell schon auf den Prüfstand stellen. Statt unseres jetzigen Modells könnte es dann an anderen Orten zwei Theaterzentren geben, die eine ganz andere Ausrichtung haben. Aber das ist Zukunftsmusik, die in sehr weiter Ferne liegt. Unsere Zahlen sind der beste Beweis dafür, dass unser Konzept, die Menschen auf dem Land fürs Theater zu begeistern, aufgeht. //