Kolumne
Leben lassen
Verpatztes Timing von Nachrufen
Erschienen in: Theater der Zeit: Das Lachen der Medusa – Feminismus Theater Performance u. a. mit Barbara Vinken (01/2021)
Assoziationen: Debatte
Nachrufe lese ich gern. Ich mag das milde Licht, in das die Spanne eines ganzen Lebens getaucht wird, ganz so, als hätte es nie Streit, keine Gemeinheit und keine Enttäuschung gegeben, obwohl es von allem mehr als genug gab. Ich mag den leisen Ton, der unter dem Eindruck eines erlittenen Verlusts angeschlagen wird, vor allem, wenn der Verfasser dem Verstorbenen und seinem Werk nahesteht. Und ich mag die vielen kleinen Details, die eine solche Würdigung auszeichnen. Ein guter Nachruf ist keine schlechte Kunst.
Nicht leicht haben es Rundfunksender und Tageszeitungen, weil sie schnell reagieren müssen, noch schneller, wenn jemand zeitlich so unkooperativ stirbt, dass der Redaktionsschluss kurz bevorsteht. Darum sind einige Medien darauf verfallen, Nachrufe im Voraus schreiben zu lassen, besonders auf betagte oder schwer erkrankte Persönlichkeiten. Von den beiden großen Tageszeitungen, der Frankfurter Allgemeinen und der Süddeutschen Zeitung, steht die eine im Ruf, Nachrufe zu lagern, während der anderen nachgesagt wird, sie produziere sie erst am Tag der Meldung. Tendenziell bekommt man bei der einen einen ausgereiften Artikel zu lesen, der genauso gut in einem Lexikon stehen könnte, während man bei der anderen die unmittelbare Empfindung spürt, es ist ja gerade erst passiert. So war es lange. Wie es heute ist, kann ich nicht sagen. Aber es sieht so aus, als hätte sich alles ein wenig vermischt.
Einmal hat mir jemand von seinem Praktikum bei der FAZ erzählt. Dass er durch simples Herumprobieren das Passwort einer Redakteurin knackte und dadurch eine ganze Reihe von vorgefertigten Nachrufen lesen konnte. Helmut Kohl war darunter, auch Marcel Reich-Ranicki und einige andere, sie alle erfreuten sich noch ihres Lebens, und sie alle sind mittlerweile tot. Ihre Nachrufe konnten gedruckt werden.
Das Irrwitzigste aber ist, und zwar trotz ihres damaligen Credos, der Süddeutschen Zeitung widerfahren. Ein früherer Chefredakteur schrieb einen Nachruf auf einen schwerkranken, ihm offenbar nahestehenden Religionsphilosophen. Er stellte den Text in den Stehsatz, dann fuhr er in Urlaub. Stehsatz heißt: kann gedruckt werden. Was sollte die diensthabende Redakteurin tags darauf also anderes tun, als einen Nachruf, der aktuell sein muss, ins Blatt zu setzen? Am nächsten Tag dann ein Anruf in der Redaktion, der Religionsphilosoph nahm es mit Humor, aber die Aufregung war groß. Eine Sekretärin wurde zu ihm geschickt, um das Adressbuch zu besorgen und unzählige Telefonnummern aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis anzurufen, sich für das Versehen zu entschuldigen. Auch die Zeitung selbst rief ihn ins Leben zurück, durch einen Artikel mit Foto, auf dem der Religionsphilosoph lächelte. Am Morgen traf ich mit dem damals berühmtesten Kollegen der Zeitung zusammen, er sagte, dass er den Philosophen noch nie habe leiden können, und dass er beim Frühstück erschrocken sei, als ihn dieser unverblümt aus der Zeitung angegrinst habe. Vielleicht vier, fünf Wochen später starb er dann tatsächlich. Und ich fragte mich, was der Zeitung dazu einfiele. Siehe Ausgabe vom …
Kürzlich hat Ingo Schulze erzählt, dass er vor Jahren von einer „großen deutschen Tageszeitung“ um einen Nachruf auf Wolfgang Hilbig gebeten worden sei. Hilbig aber lebte noch, wenn auch, was viele wussten, sterbenskrank. Ingo brachte es nicht über sich, es wäre ihm vorgekommen, als schubste er jemanden mit ins Grab.
Wenn ich mich nicht täusche, habe ich höchstens drei Nachrufe geschrieben. Einen kurzen auf den chilenischen Schriftsteller Luis Sepúlveda, der in Spanien als einer der Ersten der Covid-19-Infektion zum Opfer fiel. Einen längeren auf den mexikanischen Schriftsteller Sergio Pitol, der sich nach Xalapa in der Region von Veracruz zurückgezogen hatte, um, wie unter Hausarrest, alte Filme auf alten Videokassetten anzuschauen. Und einen dritten auf Roland Topor, der den von Polanski verfilmten Roman „Der Mieter“ geschrieben hat. Topor war der Einzige, den ich persönlich kennengelernt hatte, im Münchner Volkstheater, ein paar Tage vor der Premiere seines Stücks „Ein Winter unterm Tisch“. Im Foyer zog er an seiner Zigarre, das ging damals noch, und er ließ, ob angebracht oder nicht, sein meckerndes Lachen hören. Dieses Lachen hätte ich ihm gerne geklaut. Es würde über vieles hinweghelfen.
Ich glaube, es hilft auch, wenn ich mir vorstelle, Nachrufe zu schreiben auf Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die mir im Leben auf die Nerven gehen. Plötzlich ist die ganze Person von einem milden Licht umhüllt und gar nicht mehr so schlimm, wie ich dachte. Nur, zu Papier bringen würde ich diese Nachrufe nicht.
Durch einen technischen Fehler hat Radio France International letztens Hunderte Nachrufe veröffentlicht, die für die nähere Zukunft vorgesehen waren. Auf Queen Elisabeth, auf Clint Eastwood, Brigitte Bardot oder den Fußballer Pelé. Kann gut sein, dass die Betroffenen jetzt die schönsten Texte lesen können, die je über sie geschrieben wurden. Und hoffentlich haben sie Humor wie der Münchner Religionsphilosoph. Am besten, sie begegnen der Unverschämtheit mit einem meckernden Lachen. Das ließe die Medien alt und wie Schafsköpfe aussehen. //