Kolumne
Leben lassen
Verpatztes Timing von Nachrufen
Erschienen in: Theater der Zeit: Das Lachen der Medusa – Feminismus Theater Performance u. a. mit Barbara Vinken (01/2021)
Assoziationen: Debatte
Nachrufe lese ich gern. Ich mag das milde Licht, in das die Spanne eines ganzen Lebens getaucht wird, ganz so, als hätte es nie Streit, keine Gemeinheit und keine Enttäuschung gegeben, obwohl es von allem mehr als genug gab. Ich mag den leisen Ton, der unter dem Eindruck eines erlittenen Verlusts angeschlagen wird, vor allem, wenn der Verfasser dem Verstorbenen und seinem Werk nahesteht. Und ich mag die vielen kleinen Details, die eine solche Würdigung auszeichnen. Ein guter Nachruf ist keine schlechte Kunst.
Nicht leicht haben es Rundfunksender und Tageszeitungen, weil sie schnell reagieren müssen, noch schneller, wenn jemand zeitlich so unkooperativ stirbt, dass der Redaktionsschluss kurz bevorsteht. Darum sind einige Medien darauf verfallen, Nachrufe im Voraus schreiben zu lassen, besonders auf betagte oder schwer erkrankte Persönlichkeiten. Von den beiden großen Tageszeitungen, der Frankfurter Allgemeinen und der Süddeutschen Zeitung, steht die eine im Ruf, Nachrufe zu lagern, während der anderen nachgesagt wird, sie produziere sie erst am Tag der Meldung. Tendenziell bekommt man bei der einen einen ausgereiften Artikel zu lesen, der genauso gut in einem Lexikon stehen könnte, während man bei der anderen die unmittelbare Empfindung spürt, es ist ja gerade erst passiert. So war es lange. Wie...