Theater der Zeit

Rezension

Staatsschauspiel Dresden: Apokalyptische Elegie in Slow Motion

„Vernichten“ nach dem Roman von Michel Houellebecq – Regie und Bühne Sebastian Hartmann, Kostüme Adriana Braga Peretzki, Musik Friederike Bernhardt, Animation Tilo Baumgärtel

von Michael Bartsch

Assoziationen: Theaterkritiken Sachsen Sebastian Hartmann Staatsschauspiel Dresden

„Vernichten“ nach dem Roman von Michel Houellebecq in der Regie und Bühne von Sebastian Hartmann am Staatsschauspiel Dresden Sebastian Hoppe
„Vernichten“ nach dem Roman von Michel Houellebecq in der Regie und Bühne von Sebastian Hartmann am Staatsschauspiel DresdenFoto: Sebastian Hoppe

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Schwarze Vorhänge, die vorübergehend sich verengende Rechtecke matten Lichts freigeben. Davor erinnern die scherenschnittartigen Silhouetten dreier Bäume tatsächlich an die Romantik, von deren Verwandtschaft zum Werk Houellebcqs Chefdramaturg Jörg Bochow im Programmheft schreibt. Aber die Innenwelt entfaltet längst keine erhellende Kraft mehr. Schwarze Kostüme zwischen Manga, Wave Gothic und Oskar Schlemmers „Triadische[m] Ballett“. Düsternis allenthalben, Zelebrierte Endzeitstimmung, masochistische Lust am Morbiden.

Der im Untergang des Abendlandes badende Michel Houellebecq hat im Existenzialisten Sebastian Hartmann den passenden Übersetzer in die große Grabkammer der Bühne gefunden. Geworfensein ins Nichts, ein opulentes Requiem, ja eine Todesfuge. Hartmann pickt sich aus der Romanvorlage fast ausschließlich die beiden Krankheitsgeschichten heraus, wobei die des siechen Vaters nur angedeutet wird. Politische Implikationen der Vorlage wie die Morddrohungen gegen den Minister blendet er völlig aus. Das Leben oder das, was von ihm übrig ist, ist ein Leben zum Tode. Aber ob auch in Freiheit?

Es beginnt schon im Nichts zu sparsamen Klavierimprovisationen von Friederike Bernhardt, die sonst außer jeweils zum Einstieg in die drei Teile nichts zu tun hat. Nach Minuten der Einstimmung in die Leere tauchen schemenhaft erste Gestalten auf und wechseln im Zeitlupentempo die Bühnenseiten. Weil es ohnehin keine Abfolgen und dramatischen Entwicklungen gibt auf der Hartmannschen Schau-Bühne, spielt es keine Rolle, dass der Schlussteil des Buches an den Anfang vorgezogen wird.

Die erste halbe Stunde vergeht mit der detailreichen, ja makaber-genussvollen Schilderung der Symptome und der martialischen Operationsmethoden eines Mundhöhlenkrebses. Hauptfigur Paul Raison ist von ihm befallen und entschließt sich gemeinsam mit seiner wiedergefundenen Frau Prudence, den medizinisch-maschinellen Eingriff abzulehnen. Die Tragweite der Diagnose erkennend, folgt ein fünfminütiges Verzweiflungsgebrüll.

„Ich bin todkrank. Ich bin Paul!“ In dieser Weise geht es weiter. Gegen Ende des ersten Teils taucht immerhin eine der wenigen Inseln der Freundlichkeit auf, wenn auch verbunden mit einem Ritual des Todes. Unter den Augen andächtiger Zuschauer:innenwäscht eine Frau einen aufgebahrten nackten Toten, erweckt ihn sogar ansatzweise zum Leben. Ein erschütterndes Bild. Sogar vom „ungestillten Verlangen nach Liebe“ ist die Rede.

Nur eine spätere Szene strahlt romangetreu dann noch einmal einen Hauch von überwindender Kraft der Liebe aus. Paul und Prudence, seit zehn Jahren einander völlig entfremdet, entdecken einander plötzlich auch sexuell wieder. Eine Erlösung ist das nicht, zumindest aber einer der äußerst raren Momente von Interaktion. Zeitgeistgetreu ist jeder mit sich selbst beschäftigt. Wenn gesprochen wird, dann ausschließlich in Monologen.

Zum Beispiel der lange über die Abwertung des Alterns, als es um die Unterbringung in einem Altenheim geht – eine der seltenen konkreten Passagen. Wie vom Regisseur kaum anders zu erwarten, dominieren Bilder ohne Beschreibung, Allegorien, metaphorische Anspielungen. Nur nicht nach einer Aussage fahnden! Man ergebe sich der großen Kunst, kaum der dramatischen, vielmehr der bildgestaltenden. Naja, mit Ausnahmen. Der Riesenskorpion als Symbol des frühen Todes mit einem ausgewachsenen Schauspieler darunter krabbelt allzu naturalistisch über die Bühne.

Solche Postdramatik würde verpuffen ohne die überwältigenden Animationen von Tilo Baumgärtel und die hier einmal wirklich kunstvoll eingesetzten Videos von Jan Speckenbach. Geschickte Vervielfältigungen und Superpositionen entführen in ein düster-romantisches Geisterreich, zelebrieren Untergänge im Bilderrausch. Gegen Schluss könnte man mit etwas gutem Willen in dem wallenden und wabernden Urstoff und in den von ihm gezeugten Gespenstern sogar eine Andeutung von Vitalität entdecken. Damit das effektvoller wirkt, werden in der zweiten Pause 3D-Brillen an die verbliebenen etwa zwei Drittel der Zuschauer:innen der ohnehin nicht ausverkauften Premiere verteilt. Es riecht ein wenig nach Hartmann-Effekten seiner Leipziger Intendanz. Aber es bleibt eine richtige Entscheidung, auch ihm am Dresdner Staatsschauspiel die Insbildsetzung eines Stoffes pro Spielzeit zu überlassen.

Ein kryptischer Turm ohne Öffnungen, einfach ein Kubus, gibt weitere Rätsel auf. Die Kamera beobachtet, wie im Inneren wohlgesichert Leitern erstiegen werden. Mit Hilfe einer Handvoll Bühnenarbeiter:innen wird die rechteckige Röhre dann effektvoll in die Horizontale flachgelegt, eine wirklich spannende Szene. Warum eine Frau die ersten zweieinhalb Stunden unbeirrt vermutlich einen Mini-Kamerawagen zwischen den Bühnenrändern an der Rampe entlangschiebt, erschließt sich vielleicht nach der dritten Vorstellung.

Ohnehin gilt: Nicht so viel nachdenken, wirken lassen! Sich hineinziehen lassen in die vermuteten Träume des Paul Raison – wobei man nach Träumen des Morgens bekanntlich am heftigsten ins Grübeln gerät. Dann orientiere man sich an Wendungen von der „Gemeinschaft der Verurteilten“, die fragen: „Ist diese Reise unsere letzte Reise?“. Und sollte sich die masochistische Lust an der Apokalypse immer noch nicht einstellen, helfen Sätze wie: „Es ist klar, dass dieses System in einem gewaltigen Kollaps zusammenbrechen wird!“ Da hilft auch kein „Deal With God“ nach Kate Bush.

Als auf der Bühne und im Zuschauerraum schon tief durchgeatmet wird, klopft nach so viel Finsternis plötzlich der gute alte Brecht an. Es muss ein guter Schluss sein, muss, muss, muss! Völlig überraschend klebt Nadja Stübiger einen optimistisch-satirischen Epilog hintendran, entlehnt der 1884 erschienenen Novelle „Flatland“ von Edwin Abbott. Das flachdenkende Quadrat hat keine Chance gegen die dreidimensionale Kugel. Noch weiter geht die abschließende Physikvorlesung, die lehrt, dass wir nicht bei Einstein und der Lichtgeschwindigkeit stehenbleiben müssen. Per aspera ad astra!

So langsam wie seine Szenenbilder schleicht Sebastian Hartmann zum Premierenapplaus auf die Bühne, muss von den Spieler:innen beinahe gestützt werden. Auch dieses Bild passt. Keine vernichtende Kritik zu „Vernichten“, nur die Schlussfrage der Philosophen: Nichtet nun das Nichts – oder das Dasein – oder vielleicht das Theater?

Erschienen am 4.5.2023

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