Thema
Mit Atmosphäre umgeben
Ob Schauspiel, Oper oder Konzert – beim Live-Erlebnis macht die britische Szenografin Es Devlin keine Unterschiede
von Matt Trueman
Erschienen in: Theater der Zeit: Frontmann Hamlet – Der Dresdner Musiker-Schauspieler Christian Friedel (03/2013)
Assoziationen: Dossier: Musik im Schauspiel
Vier Opern, eine Tanzproduktion, ein Schauspiel, zwei Performances der Sängerin Rihanna und die Kleinigkeit einer Abschlusszeremonie der Olympischen Sommerspiele: Das war Es Devlins Jahr 2012. Einige wenige Szenografen dürfen sich quantitativ mit ihr messen, doch wenn es um Vielfalt und Variationen geht, kann der 41-jährigen Britin niemand das Wasser reichen.
2011 pendelte Devlin zwischen Hector Berlioz und Gary Barlow, sie arbeitete gleichzeitig für das Londoner Royal Opera House am Bühnenbild für „Les Troyens“ in der Inszenierung von David McVicar und am Bühnendesign der Progress-Tour von Take That. Parallelen blieben da nicht aus. Am Ende gab es einen knapp zwanzig Meter hohen eisernen Riesen für Take That und ein überdimensioniertes trojanisches Pferd aus Altmetall für „Les Troyens“. „In meinem Studio laufen so viele Dinge gleichzeitig, da bleibt gelegentlich eine gegenseitige Beeinflussung nicht aus“, bestätigt Devlin. „Das Ganze ist ein ziemlich offener Prozess. In jüngerer Zeit waren Shows mit Modellstädten recht populär. Irgendwann wehrte ich mich nicht mehr dagegen.“
Aktuell sind vier schwarz-weiße Bühnenmodelle in ihrem Atelier in South London in einem Halbkreis angeordnet, dieses Mal jedoch steht jedes für sich. Eines davon ist verspielt naturalistisch, filigrane Figuren scheinen um die Möbel herumzuirren. In einem anderen Modell erinnert ein imposantes Raster mit vorspringenden Treppen und verstrebten Wänden an M.C. Escher. Daneben ragt eine geometrisch durchlöcherte Wand in den Bühnenraum – die Vorbereitung auf eine Tournee der Pet Shop Boys. Das vierte Modell wird allmählich zum Theater an der Wien.
Inmitten dieser Miniaturen steht, ebenso zierlich wie entschlossen, Es Devlin selbst. Dass sie bis um fünf Uhr morgens gearbeitet hat, lässt Devlin sich nicht anmerken. Sie bekennt, dass sie auch deswegen gern am Modell arbeitet, weil das etwas Gottähnliches hat: „Du bestimmst. Du hast alles unter Kontrolle.“ Dann gibt sie einem ihrer drei jungen Assistenten noch einen letzten Tipp, bevor wir nach oben in ihre Wohnung gehen. Ihre große Wohnküche ist farbenfroh und eklektisch. Nichts passt zusammen, und doch unterliegt alles einer klaren Ordnung, ein perfekt ausgewogenes Durcheinander.
Das ließe sich auch über die Vielheit von Devlins unterschiedlichsten Projekten sagen, sie selbst unterscheidet aber gar nicht: Pop, Theater und Oper sind für sie dasselbe, sind das, was Peter Stickland vom Londoner Theatre of Mistakes in den siebziger Jahren einst „öffentlich träumen“ nannte. „Es geht um die direkte, unmittelbare Erfahrung: Menschen in einem Raum, die sich gemeinsam etwas vorstellen und gemeinsam fühlen, erleben sich so als eine Gemeinschaft“, sagt sie. „Genau das ist es, was wir machen. Und das Theater – und auch Pop ist für mich Theater – ist vermutlich der einzige Ort, an dem das möglich ist.“ Diese Grundsätze stehen im Zentrum ihrer Arbeit. „Charles Eames hat einmal gesagt: ‚Delegiere niemals das Verstehen.‘ Ich stelle mir täglich grundlegende Fragen: Warum machen wir Theater? Warum kauft jemand eine Karte? Warum wollen die Leute das drei Stunden lang sehen? Egal was für eine Produktion du auf die Bühne bringst – dies sind Fragen, die du dir beantworten musst.“
Als Kind war Es Devlin nur mäßig an theatralen Formen interessiert. Dank Begegnungen mit Pantomime und Andrew Lloyd Webbers Musicals steuerte sie langsam darauf zu. Als Teenager begeisterte sie sich für die Oper, und nach ihrem Anglistikund Kunststudium („Ich liebe immer noch den Geruch von Kunsthochschulen: giftige Tinten und Farben!“) landete sie bei Motley Run, einem kleinen, unabhängigen Kurs für Bühnenbildner des Theatre Royal in der Londoner Drury Lane. „Jeden Abend um circa 22.30 Uhr hörten wir, wie der Helikopter in ‚Miss Saigon‘ landete.“
Doch noch war Theater nicht das Wichtigste für sie. „Ich wusste, dass ich – sollte mir dieser Bühnenkram nicht gefallen – den Schlüssel zu einem Studio in Covent Garden hätte, wo ich eben malen oder sonst etwas machen könnte.“ Doch dann traf sie am Theater auf genau die Gruppe von Menschen, zu der sie gehören wollte. „Ich fühlte mich vom ersten Moment an zu Hause. Daran bestand kein Zweifel. Also schaute ich mir alles an und informierte mich. Es gibt eine ganze Menge Mist auf der Bühne, und das kann einem richtig die Begeisterung nehmen. Allerdings kannte ich ja jetzt die Leute, die mich zu den außergewöhnlichen Produktionen führen würden.“
Vergessen war Lloyd Webber. Stattdessen traten Robert Wilson, Robert Lepage und die britische Theaterkompanie Complicite auf den Plan – ein Mix optischer Theatereindrücke, die dazu beitrugen, dass sich Devlins Bühnenbilder von den üblichen, stark naturalistischen Ausstattungen im britischen Theater deutlich unterschieden. Drei Jahre nach ihrem Einstieg engagierte das Londoner National Theatre sie 1998 als Bühnenbildnerin für „Betrayal“ (Regie Trevor Nunn). Ihre Arbeit wirkte wie Dynamit für das Haus. Die an Blaupausen oder Fotonegative erinnernden, geisterhaft überlagerten Orte waren von Rachel Whitereads „House“ inspiriert. „Armer Harold Pinter, armes Drama! Eigentlich hätte es nicht mehr als ein Sofa und einen Sessel gebraucht. Stattdessen heuerten sie mich an. Und ich gab mich völlig hinein, war geradezu berauscht vom visuellen Theater.“
2003 gestaltete Es Devlin die Auftritte für die Punkband Wire und für die Chapman Brothers. Sie hatte sich international bereits einen Namen gemacht, als Kanye West sie einlud, seine „Touch the Sky“-Tour zu gestalten. Weitere Künstler folgten: Take That, Mika, Jamie Cullum, Lady Gaga. „Die Popstars begannen sich für meine Entwürfe zu interessieren, weil ihnen die Fotos gefielen, die sie davon sahen. Denn wenn das Licht nicht so grell ist, kann man die Menschen erkennen.“ Nach wie vor sind ihre Projekte von diesem Ansatz geprägt: „Ein Popkonzert sehen vielleicht ein paar Zehntausend Menschen live. Aber wie viele Millionen verfolgen es auf dem Bildschirm? Es geht immer um das Bild und darum, welchen Eindruck es hinterlässt.“
Es Devlin ist eben auch eine ausgesprochen geschickte Promoterin ihrer eigenen Marke. Sie kümmert sich intensiv um ihre Website („Sie ist das Buch, das zu schreiben ich nicht die Zeit habe“) und legt viel Wert auf die Fotografie ihrer Arbeiten. „Viele meinen, meine Bühnenbilder in Gänze zu kennen, doch sie haben nur Fotos davon gesehen“, erklärt sie. „Ein Foto einer Veranstaltung ist jedoch nicht die Veranstaltung selbst, sondern immer nur mein Blick darauf.“ Das Bild reflektiert etwas, doch vermittelt es nicht das Grundprinzip. „Pop heißt, dass du einen Raum voller Menschen hast, die du bewegen willst. Du musst sie mit einer Atmosphäre umgeben, die nicht alltäglich ist. Sie wollen keinen Film sehen. Sie wollen von der Musik durchdrungen werden und sie erleben.“
Es geht um das immersive Eintauchen. In einem Stadion mit 80 000 Plätzen ist das keine einfache Sache. „In einer Arena musst du die Regeln bestimmen, denn diese sind per se offen. Ist der Mensch deine Referenz, sind die Parameter so weit gesteckt, dass du alles machen kannst.“ Für Devlin bedeutet das grünes Licht für die gestalterische Selbstverwirklichung. „Mein kleiner Trödelladen im Herzen, meine Obsession, beeinflusst den Gesamteindruck. Wenn jemand kommt und sagt: ,Hier hast du ein weißes Blatt. Tu, was du willst!‘, fällt mir für den ‚Parsifal‘ nur etwas ein, wenn ich mir zuvor den Kopf über Wagners ‚Ring‘ zerbrochen oder Schopenhauer gelesen habe. Hier wirken Einflüsse gegenseitig.“ Es Devlin, das spürt man, geht es um mehr als Formgebung. „Als ich jung war, fand ich Kunst interessant. Heute halte ich sie für essenziell.“ Das sagt sie ohne jede Spur von Snobismus, zwischen Hoch- und Populärkultur unterscheidet sie nicht. „Wenn du mit 80 000 Menschen im Wembley-Stadion bist, die Sonne geht unter, dort steht eine zwanzig Meter hohe Stahlfigur, und es läuft ein Song, den jeder mitgröhlen kann – ich wette, du wirst mitmachen!“ //
Aus dem Englischen von Lilian-Astrid Geese.