Alles auf Anfang
Die Transformationsprozesse im Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin von der Wiedervereinigung bis 2016
von Ralph Reichel und Rita Gerlach-March
Erschienen in: Alles auf Anfang – Die Transformationsprozesse im Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin von der Wiedervereinigung bis 2016 (06/2016)
Assoziationen: Mecklenburg-Vorpommern Theatergeschichte Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin

Die deutsche Wiedervereinigung führte zu radikalen Veränderungen in der ostdeutschen Kulturlandschaft. Auch wenn im Einigungsvertrag in Artikel 35 ihr substantieller Erhalt festgeschrieben wurde, konnte es auf vielen Ebenen kein einfaches Fortführen des bis dahin üblichen Arbeitens geben. Die Theater hatten in der DDR bestimmte gesellschaftliche Funktionen übernommen, die es plötzlich so nicht mehr gab. Das Publikum stürzte sich auf andere, bisher weniger oder nicht zugängliche Kulturangebote und Freizeitbeschäftigungen. Das Theater erlebte eine völlig neue Konkurrenzsituation. Auch die Frage der Finanzierung stellte sich plötzlich und sofort mit Dringlichkeit. Dies betraf auch die rechtliche und wirtschaftliche Organisationsstruktur, die neu geordnet werden musste.
In den zurückliegenden rund 25 Jahren wurde viel erfunden und entworfen, probiert und umgebaut. Dabei ist das Schweriner Theater ein Haus geblieben, welches stark in der Stadt verankert ist, dessen Rückhalt in der Bevölkerung es immer wieder getragen und geschützt hat. Es gehört zum Selbstverständnis der Stadtbevölkerung und erreicht sensationelle Besucherzahlen sowie – für einen Mehrspartenrepertoirebetrieb – überdurchschnittliche Eigeneinnahmen. Selten wurde ein solcher Prozess über ein Vierteljahrhundert mit einem einzigen Intendanten realisiert. Dies gibt uns hier die Möglichkeit, einen langen und für die Theater im Osten sicherlich typischen, zugleich besonders erfolgreichen Weg nicht nur von außen, sondern auch aus einer kontinuierlichen Innensicht zu beschreiben.
Nach mittlerweile über 25 Nachwendejahren als „Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin“ in kommunaler Trägerschaft steht der Übergang in Landesträgerschaft bevor. Am Ende dieses Prozesses wird es ein „Mecklenburgisches Staatstheater“ sein, das überdies das bisherige Mecklenburgische Landestheater Parchim integrieren soll.
1990 wurde vieles „auf Anfang“ gesetzt, alle Selbstverständlichkeiten und Selbstverständnisse außer Kraft gesetzt oder zumindest angezweifelt – wie man mit dieser grundlegenden Infragestellung der bisherigen Qualität, Rolle, Organisation, Finanzierung und Struktur von Theater in den neuen Bundesländern umging, beschreibt am Beispiel Schwerin dieses Buch. Waren Neuanfänge, Umdenken, schrittweise Anpassungen oder Kontinuitäten möglich? Wo formierten sich künstlerische „Widerstandsnester“, wo stieß man auf Barrieren und Angst, wo regierten Pragmatismus und kräftiges Anpacken oder auch Anpassen? Dies beleuchten Macher wie Beobachter, Zeitzeugen wie Nachfolger, Künstler wie Manager – aus ihren verschiedenen Perspektiven.
Das Buch soll natürlich die Chronologie der Entwicklung nachvollziehbar gestalten. Dies geschieht aus verschiedenen Blickwinkeln, die sich ergänzen. Exemplarisch beginnen wir mit einem Überblick aus der Außensicht, in dem Manfred Zelt, der langjährige Theaterkritiker der regionalen Zeitung, primär seine Wahrnehmung des künstlerischen Ergebnisses, der ästhetischen Entwicklung beschreibt. Danach folgt ein Interview mit dem Intendanten Joachim Kümmritz, in dem aus der Innensicht des Theaterleiters die Mühen und die Lust des Umbaus, der Gestaltung des Theaterbetriebs geschildert werden.
Daran schließen sich die Erinnerungen von drei Künstlerpersönlichkeiten an, die das ästhetische Profil der Nachwendejahre bis 1999 am stärksten geprägt haben und mit denen das neue Markenzeichen des Schweriner Theaters, die Schlossfestspiele Schwerin des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin, erfunden und gestaltet wurden: Ingo Waszerka, Werner Saladin und Lutz Kreisel. Wir haben bewusst Form und Inhalt offen- und in der gelieferten Fassung belassen, um die originären Stimmen unverfälscht hörbar zu machen.
Dem schließen sich Texte an, die sich mit den politischen Rahmenbedingungen, den finanziellen Zwängen, dem Druck zum Personalabbau und dem Kampf um den Erhalt des Schweriner Theaters und dessen Ensembles beschäftigen. Dabei wird der Bogen geschlagen von den Grundentscheidungen der direkten Nachwendephase bis hin zu den Demonstrationen für den Erhalt von Theater und städtischer Kultur in den Jahren 2012 und 2013. Die Entscheidungen der Schweriner Stadtpolitik bezüglich der – für den Theaterumbau im Osten geradezu exemplarischen – Orchesterfrage beleuchtet der Stadtchronist aus anderer Perspektive als der Orchesterdirektor und die Operndirektorin. Die Resultate der Sparpolitik für alle Sparten und Ensembles beschreibt, den zeitlichen Bogen schließend, der Abriss der Gegenreaktion „Kulturschutz[X]“.
Unter der gemeinsamen Überschrift „Bauen und Spielen“ beschreiben der Intendant und der langjährige Bauleiter, wie es möglich war, umzubauen und zu sanieren und dabei kontinuierlich weiter im Haus Theater zu spielen, um Publikum oder Ensemble nicht zu „entwöhnen“ – und dabei sogar noch den Kosten- und Zeitrahmen einzuhalten.
Es folgen Beiträge, die sich mit der künstlerischen Entwicklung von Sparten und Spielstätten beschäftigen. Deren chronologisches Rückgrat sind die Interviews mit der Operndirektorin Dr. Ute Lemm und dem Orchesterdirektor Gebhard Kern sowie dem Schauspieldirektor Peter Dehler, die in unterschiedlichen Positionen das Haus in all diesen Jahren erlebt und mitgeprägt haben. Flankiert werden die beiden Interviews von kurzen Artikeln, die Entwicklungen und Besonderheiten der unterschiedlichen Sparten darstellen: Ballett, Fritz-Reuter-Bühne, Puppentheater, Schauspiel, Musiktheater und dabei insbesondere das spezifische Phänomen der Kammeroper sowie Konzert, insbesondere die innovativen MeckProms. Zwei Artikel illustrieren dabei programmatische oder beispielhafte Anstrengungen des Schweriner Theaters, neue Räume in der Stadt und für die Theaterkunst zu schaffen, um näher an das Publikum und die Stadtgesellschaft zu kommen. Die quasi von unten gewachsene (und leider inzwischen zwangsprivatisierte) dritte Spielstätte, die Theaterkneipe werk3 im Domwinkel, wird von deren Gründer porträtiert. Er dokumentiert den Versuch, noch kleineren Formaten, als sie auf der Studiobühne E-Werk probiert wurden, Spielraum zu geben. Anhand der mit Bundesmitteln geförderten „Spielstätte Stadt“, stellvertretend für frühere Zusatzprojekte wie „Magic Net“, zeigen die begleitenden Schauspieldramaturginnen, dass das Schweriner Theater sich nie zurücklehnte und „business as usual“ betrieb, sondern immer zusätzliche Mittel, neue Formen und ungewohnte Spielorte suchte, um die Stadt Schwerin zu bereichern.
Auch die Theaterpädagogik suchte und erarbeitete immer wieder neue Wege zur Vermittlung des abstrakten „Hochkulturguts“ Theater an die Bürger Schwerins und des Umlands aller Altersgruppen und Schichten, um die nachwachsenden Zuschauergenerationen ans Theater heranzuführen. Sie entwickelte immer für das gesamte Haus Ideen für ein vielfältiges Vermittlungsangebot, wie ihr Artikel beschreibt. Hier schließt sich nahtlos eine große Erfolgsgeschichte der Vermittlung der Belange und Bedarfe des Schweriner Theaters in die Stadt- und Bürger - gesellschaft an: die Theaterfreunde Schwerin e. V. (so die satzungsgemäße Kurzform der Gesellschaft der Freunde des Mecklen burgischen Staatstheaters Schwerin e. V.), die inzwischen 1100 Mitglieder zählen. Dass sie die erste Bürgerstiftung an einem deutschen Theater gründeten, unterstreicht einmal mehr Schwerins Vorreiterrolle. Eine langjährige Berichterstatterin porträtiert diese wichtige Entwicklung der vergangenen 25 Jahre und der folgende Aufsatz zeigt ganz konkrete Beispiele des Wirkens und der Tätigkeit der Theaterfreunde auf – aber auch genauso viele Exempel des Engagements der Mitarbeiter des Hauses, der Institutionen in Stadt und Land, die historische Substanz des Hauses bis ins Detail zu erhalten. Dies ist besonders wichtig für ein Theater, zu dessen Identität das historische Gebäude sinnstiftend gehört und das als eines von nur einem Dutzend aller deutschen Theater in die Europaroute bzw. Europastraße Historische Theater aufgenommen wurde. Zudem ist das Theater Teil des Residenzensembles Schwerin, mit dem sich die Landeshauptstadt Schwerin und das Land Mecklenburg-Vorpommern als UNESCOWeltkulturerbe bewerben, bisher mit dem Erfolg, es auf die Vorschlagsliste geschafft zu haben, also als aussichtsreicher Bewerber anerkannt zu sein und nun in der zweiten Runde detailliert geprüft zu werden. All die historischen Instrumente und Gerätschaften innerhalb des Gebäudes sollen und müssen aber weiterhin in Theateraufführungen zu erleben und genießen sein, das Haus will „lebendiges Weltkulturerbe“ sein und bleiben.
Glücklicherweise halfen unzählige Kooperationen, die finanziellen und künstlerischen Herausforderungen des Umbaus der Theater- und Kulturszene zu bewältigen, für die exemplarisch der Direktor des Schweriner Konservatoriums von der Zusammenarbeit berichtet. Ebenso unabdingbar sowohl für die Verankerung in Bevölkerung, Politik und Wirtschaft wiewohl ganz basal für die Ausstattung mit zusätzlichen Mitteln waren und sind in wachsendem Ausmaß die vielfältigen Partner, Sponsoren und Unterstützer, die das Schweriner Theater mit Joachim Kümmritz aktivieren und halten konnte, wie die Kulturwirtin und Marketingleiterin in ihrem Beitrag zeigt. Nicht zuletzt ist das theatereigene Marketing, dessen Entwicklung und Potential die Autorin in einem weiteren Artikel untersucht, eine weitere wichtige Säule für die Kommunikation des kulturellen Angebots, die Attraktion zahlender Besucher und die visuelle Sichtbarkeit des Theaters in der Stadt und darüber hinaus. So skizzieren die letzten Beiträge die unterschiedlichen Wege, das Schweriner Theater in der Stadt zu vernetzen, Präsenz und Relevanz zu zeigen und nicht zuletzt die Sinnhaftigkeit der Investition von Steuergeldern in dieses unschätz- und unabdingbare Kulturgut zu begründen.
Die ausgewählten Texte beschreiben nicht nur eine wichtige Ära für das Schweriner Theater, sondern damit auch beispielhaft einen Umbauprozess, den die Theater und Orchester im Osten Deutschlands nach 1989 durchlaufen mussten. Die Fragen und Aufgaben, die sich den Theaterleuten im Osten Deutschlands nach der Wiedervereinigung stellten, waren sehr ähnlich, die Antworten, Lösungen und Wege jedoch teilweise sehr unterschiedlich. Einen Weg, der das Stadttheater in der Region verankerte und hielt, ist das Schweriner Theater mit seinen oft über lange Zeit dem Haus verbundenen Mitarbeitern gegangen. Davon wird hier berichtet. Dass nicht alles komplett auf Anfang gesetzt wurde, nicht gesetzt werden sollte oder konnte, aber doch überall Aufbruch, Veränderung, Neuorientierung und Vorwärtsstreben parallel zur Traditionsbesinnung zu verzeichnen waren, bestätigen die vielstimmigen Beiträge dieses Buches.
Mai 2016