Auftritt
Oper Halle: Moral vom Fließband
„Der goldene Drache“ von Peter Eötvös und Roland Schimmelpfennig - Regie Katharina Kastening, Ausstattung Jon Bausor, Video Tal Rosner
von Thea Plath
Assoziationen: Sachsen-Anhalt Musiktheater Theaterkritiken Katharina Kastening Roland Schimmelpfennig Oper Halle

Wir befinden uns in einem Paketzentrum. Ein Fließband schlängelt sich bis in den Orchestergraben hinein, die große Videoleinwand dahinter zeigt eine Lagerhalle. Zu den Stimmgeräuschen des Orchesters schieben Maskierte in Arbeitskleidung mechanisch Pakete hin und her. Sind das noch letzte Umbauarbeiten für den Abend? Das Licht geht aus, ein Warnsignal markiert den Beginn der Musik und der eigentlichen Handlung. Am Ende werden wir mit dem Ertönen dieses Warnsignals wieder in die Lagerhalle zurückgeholt. Die Originalerzählung von der Unterdrückung zweier Menschen ohne gültige Papiere ist zu Ende und alles geht weiter wie bisher. Regisseurin Katharina Kastening schafft einen Handlungsrahmen, der zwar in das Stück eingebunden ist, jedoch nur bedingt mit dem Inhalt zu tun hat. Sie ergänzt eine andere Ebene der Ausbeutung mit Fokus auf Konsum und Kapitalismus. Die letzte Videoanimation zeigt einen Müllhaufen als Überbleibsel der im Paketzentrum versendeten Waren, noch während sich „Der Kleine“ aus dem Leben verabschiedet. Diese Miseren hängen in einer globalisierten Welt zusammen, können aber nicht in 90 Minuten Bühnengeschehen umgesetzt werden. Dennoch bleibt ein positiver Eindruck des Abends, das Stück lohnt sich allemal.
Peter Eötvös bezeichnet sein 2014 entstandenes Werk ausdrücklich als „Musiktheater“. Die Grundlage dafür bildet ein Theaterstück von Roland Schimmelpfennig. Laut Eötvös hilft die Musik dabei, die Szenen zu verstehen und Charaktere wiederzukennen. Das ist gar nicht so einfach, handelt es sich doch um eine Kombination aus mehreren parallelen Handlungssträngen. Zwei Sängerinnen und drei Sänger schlüpfen in 18 Rollen, allen voran die des „Kleinen“ Chinesen. Dieser arbeitet im Schnellrestaurant „Der goldene Drache“. Er hat furchtbare Zahnschmerzen, kann aber nicht einfach zum Arzt gehen – er ist ohne Papiere im Land um seine Schwester zu suchen. So ziehen ihm seine Kollegen kurzerhand den Zahn, was zu einer klaffenden Wunde führt. Es ist eigentlich eine komische Idee: In der entstandenen Zahnlücke sitzt die Familie des Kleinen und spricht aus der Heimat zu ihm. Am Ende verblutet er jedoch an der nicht verheilenden Wunde als Symbol für das traurige Schicksal des Chinesen und seiner Schwester. Deren Geschichte wird in Form einer Fabel erzählt: Die Grille gerät durch finanzielle Not in die Hände der Ameise, die sie zur Prostitution drängt, was letztlich auch ihr Ende bedeutet. Weiterhin treten unter anderem zwei Stewardessen, eine junge Frau und deren Freund auf.
Eötvös’ Musik gliedert und verbindet die oft unübersichtlichen Handlungsstränge. In ihrer kammermusikalischen Besetzung ist sie vor allem durch das vielfältige Schlagwerk sehr einprägsam. 16 Musikerinnen und Musiker produzieren einen farbreichen Klangteppich, der die Handlung unterstützt und letztlich Teil von ihr wird. In Halle führt sogar ein direkter Weg per Fließband von der Bühne in den Orchestergraben. Das ist eine von vielen sinnigen Ideen, die Kastening und Ausstatter Jon Bausor einbauen. Die schnellen und häufigen Rollenwechsel sind gut nachvollziehbar, was auch den durchdachten Kostümelementen zu verdanken ist: Durch das Überwerfen eines Fleecepullovers etwa, wird aus der Ameise im Latexkostüm eine junge Frau in Sportleggins. Das Bühnenbild lässt sich vielseitig interpretieren. So wird aus dem Steg in der Lagerhalle später das obere Geschoss eines heruntergekommenen Hauses, eine Brücke oder das Rotlichtviertel. Die Küche des Restaurants befindet sich in einer Schleife des Fließbandes, an einer anderen Stelle löffeln die Stewardessen ihre Thaisuppe. Auch die Lagermitarbeiter vom Anfang werden noch gebraucht um die Grille nach und nach mit Paketband zu fesseln und ihre Leiche in einem Karton in den Orchestergraben zu schicken. Vieles ist stimmig, anderes verlangt ziemliche gedankliche Kopfstände: Wieso nach der brutalen Entfernung des Zahnes plötzlich grüne Bälle auf die Bühne fallen und der Kleine fortan ein Cape aus ebensolchen Bällen trägt, bleibt der Fantasie des Publikums überlassen. Hinweise dazu gibt womöglich die Videoanimation mit einem grünen Erdball, um den der Zahn fliegt.
Generell irritieren die teils kryptischen Animationen von Tal Rosner eher. Sie verlangen nach einem leeren Raum für sich, auf der Bühne kommen sie nicht richtig zur Geltung und lenken vom eigentlichen Geschehen ab. Handlung und Musik allein beschäftigen den Zuschauer ausreichend. Unterstützt von der durchdachten Lichtregie und dem Raum einnehmenden Bühnenbild entsteht ein Gebilde, das nur selten durch Animationen verbessert werden kann, ohne reizüberflutend zu wirken. Durch einen sparsameren Einsatz von Effekten würde auch die schauspielerische Leistung, insbesondere von Vanessa Waldhart und Andreas Beinhauer, besser zur Geltung kommen. Katharina Kastening akzentuiert in der Personenregie vor allem die komischen Stellen in der ersten Hälfte des Stückes, was vom Publikum quittiert wird. Gesanglich kommt es auf die Wandlungsfähigkeit der Stimmen an, was alle fünf Darstellenden solide unter Beweis stellen. Es macht Freude ihnen zuzuhören, sie singen klar und textverständlich. Das Orchester stützt die gesanglichen Linien unter José Miguel Esandi, der die 16 Musikerinnen und Musiker der Staatskapelle gut zusammenhält. Kleine rhythmische Unstimmigkeiten sind hier zu verzeihen. Der Kapellmeister verdient sich uneingeschränkten Applaus von einem Publikum, das ansonsten geteilter Meinung zum Abend ist.
Erschienen am 27.1.2023