Theater der Zeit

Auftritt

Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin: Kein Vulkan für Sally

„Cabaret“ von Joe Masteroff, John Kander und Fred Ebb – Musikalische Leitung Martin Schelhaas, Regie Steffi Kühnert, Bühne und Video Joachim Hamster Damm, Kostüme Julia Kneusels, Choreografie Davina Kramer-Perju

von Thomas Irmer

Assoziationen: Theaterkritiken Mecklenburg-Vorpommern Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin

Martin Gerke als Conférencier in „Cabaret“ in der Regie von Steffi Kühnert am Mecklenburgischen Staatstheater. Foto Silke Winkler
Martin Gerke als Conférencier in „Cabaret“ in der Regie von Steffi Kühnert am Mecklenburgischen StaatstheaterFoto: Silke Winkler

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Tanz auf dem Vulkan, schräges Vergnügen in bedrohlichen Zeiten – in dem Musical-Evergreen von 1966 heute nach Aktualitätsanschlüssen zu suchen ist nicht allzu schwer. Und ein handfestes Schauspiel steckt ja auch drin, das ordentlich erzählt werden muss. Ideal für Sparten zusammenführende Inszenierungen, wo ein Haus wie das Mecklenburgische Staatstheater mal zeigen kann, was es alles hat und damit kann.

Steffi Kühnert, die schon mehrfach in Schwerin inszeniert hat, und Joachim Hamster Damm haben mit der räumlichen Anordnung der Bühne – vorn Berliner Mietshausfassaden am Bühnenportal, hinten der Kit Kat Club mit der Staatskapelle, zum Teil auf der Drehbühne – eine Entscheidung getroffen, nicht mit der fiebrig lasziven Clubatmosphäre Stimmung zu machen, sondern vor allem das Sozialdrama zu erzählen. Der Auftritt des exzellenten Langhaar-Baritons Martin Gerke als Conférencier im Glitzerjackett und ohne androgyn geschminktes Gesicht – eher eine Brecht’sche Erzählerfigur als Heavy-Metal-Moritatensänger – deutet darauf hin, dass in diesem „Cabaret“ einiges anders ist. Auch die Schwarz-Weiß-Projektion der tristen Außenansicht des Kit Kat Clubs, mit den Konterfeis von Gerke und Dirigent Martin Schelhaas als Werbeschild auf einem Gaze-Vorhang zeigt: Hier geht’s nicht um Glamour hinter der Fassade, sondern darum, was sich davor und drumherum abspielt. Kein „Life is a cabaret, bei uns ist das Leben wunderschön“, wo im Parkett auch schon mal das Bein mitschwingt und Liza Minelli filmerinnerungsselig ins Ohr dringt.

Die Fahrt des amerikanischen Autors Clifford Bradshaw nach Berlin wird im Video erzählt, mit erstaunlichen historischen Details einer Eisenbahnfahrt vor hundert Jahren – gefilmt von Hamster Damm. Bradshaw lernt Ernst Ludwig kennen, Sprungbrett in das Stück, das Kühnert zwischen den Mietshauswänden auf der Vorderbühne ankommen lässt. Sally Bowles, im Kern eine jugendliche Figur der Unentschlossenheit der Verhältnisse zwischen Kunst und Leben, wird von Wassilissa List zu einer glaubhaften Gegenwartsfigur gestaltet. Nur, dass sie den Kit Kat Club verrückt machen kann und sich dafür mehr ausrechnet, das bleibt blass. Wie auch Till Timmermann als Lover und um seine besondere Beobachtungsgabe ringender Schriftsteller, der diese brüchigen sozialen Verhältnisse durchdringen will.

Damit rückt eine Nebenhandlung in den Vordergrund, die Geschichte des resolut-berlinerischen Fräulein Schneider, die mit ihrer Pension alle Figuren dieses Hinterhof-Cabarets zusammenbringt, und ihrer Verlobung mit dem lange um sie werbenden jüdischen Obsthändler Herr Schultz. Es ist die Romanze eines gealterten Paars, von Katrin Heinrich und Jochen Fahr mit den Nuancen des psychologischen und auch Farben des Boulevard-Theaters gespielt. Bis alles grob wegen der Nazis und dem hinterlistig agierenden Ernst Ludwig (Rudi Klein) schnell zu Ende ist. Die Kapelle spielt jetzt nicht mehr ganz so schmissig, das Arrangement der Musik von John Kander ist nicht mehr keck Kurt-Weill-Amerikanisch. Sowas geht nur im Musical.

Diese Vertauschung von Innen und Außen im Hinten und Vorn, als Betonung des zeitkritischen Stücks gegenüber dem immer noch hinreißenden Musical, das nimmt dem Tanz auf dem Vulkan, der den ambivalenten Reiz von „Cabaret“ für alle Zeiten ausmacht, das Feuer. Auch, wenn alles so stimmt mit dieser Interpretation für heute. 

Erschienen am 19.4.2024

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