Theater der Zeit

Gespräch

Eine Wette auf magische Momente

Ein Gespräch mit Élise Vigneron, Julika Mayer und Petra Szemacha zum internationalen Projekt „RE-MEMBER”

Am Puppentheater Magdeburg werden aktuell in einer internationalen Zusammenarbeit zwischen dem Ensemble und den Künstlerinnen Élise Vigneron und Julika Mayer die Produktionsarten des klassischen Repertoirebetriebs hinterfragt. „RE-MEMBER“ entsteht in prozesshafter Arbeitsweise, in die die Spieler:innen von Beginn an künstlerisch eingebunden sind, sodass das Projekt weit über die für ein Stadttheater typische Inszenierungsarbeit hinausgeht. Für double sprach Diane Sinizergues mit den Künstlerinnen Élise Vigneron und Julika Mayer sowie Petra Szemacha, der Chefdramaturgin des Puppentheaters Magdeburg.

von Petra Szemacha, Julika Mayer und Élise Vigneron

Erschienen in: double 46: Networking – Netzwerkmodelle im Figurentheater (11/2022)

Assoziationen: Sachsen-Anhalt Puppen-, Figuren- & Objekttheater Puppentheater Magdeburg

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Wie ist das Projekt entstanden? Wie habt ihr euch zusammengefunden?

Petra Szemacha: Das Preisgeld des Theaterpreises des Bundes, den 2019 das Puppentheater Magdeburg gewann, eröffnete uns die Möglichkeit, einem schon länger gehegten Wunsch nachzugehen. Unser Ensemble mit seinen individuellen Künstler:innen sollte stärker in den künstlerischen Entstehungsprozess involviert werden. Im normalen Betrieb stehen dem Team sonst fünf oder sechs Wochen Proben bis zur Premiere zur Verfügung. Hier sollten alle von Anfang an künstlerisch involviert sein, wenn möglich, in einem internationalen Projekt. Von Anfang an war auch klar, dass wir dafür eine offene Produktionsweise ermöglichen wollen – das ist etwas, das uns eher aus der Freien Szene bekannt ist.

Élise Vigneron: Ich hatte nie daran gedacht, mit einem deutschen Theater zusammenzuarbeiten, aber ich kannte Frank Bernhardt schon seit zehn Jahren. Als er mit diesem Auftrag zu mir kam, habe ich vorgeschlagen, mit Julika zu arbeiten. Wir haben viele Gemeinsamkeiten, da wir beide an der ESNAM in Charleville-Mézières studiert haben und unsere künstlerische Praxis viele Ähnlichkeiten aufweist. Der Auftrag von Magdeburg gab uns die Gelegenheit, eine Ko-Inszenierung zu machen.

Julika Mayer: Das Projekt ist eine Begegnung auf mehreren Ebenen: Es ist ja eine deutsch-französische Begegnung zwischen Élise und mir sowie von zwei künstlerischen Arbeitsweisen und Regie-Ansätzen, aber auch eine Begegnung mit dem Magdeburger Ensemble, das eine lange Tradition hat. Ich bin selbst von meiner Arbeit zwischen Deutschland und Frankreich sehr geprägt und sammele seit einigen Jahren auch Erfahrungen an staatlichen und städtischen Theaterinstitutionen.

Ein Ensemble aus individuellen Künstler:innen

Wie waren eure Wünsche an das Projekt zu Beginn?

PS: Wir wollten etwas Neues für das Ensemble probieren, anders arbeiten. Die Ensemblespieler:innen sind alle individuelle Künstler:innen und wir wollten, dass sie – mehr noch als sonst – als Künstler:innen involviert sind und sich einbringen können. Nicht nur auf der Bühne, sondern auch in der Entstehung und beim künstlerischen Wachsen des Projekts. Sie sind in diesem Projekt mehr als Interpret:innen; das sind sie auch schon in vielen Inszenierungen, aber hier in einem sehr, sehr hohen Maße.

JM: Ich habe das Gefühl, dass die Puppentheater-Institutionen, insbesondere in den neuen Bundesländern, auch daran interessiert sind, mit freischaffenden Künstler:innen zusammenzuarbeiten. Das sind Orte mit unglaublichen Ressourcen: Einerseits die große Professionalität und Routine der Darsteller:innen mit ihrem genialen Spielniveau, aber auch die Werkstätten, dramaturgische Begleitung, Ausstattung etc. Diese Theater zeigen für mich einerseits eine gewisse Einschränkung und Grenzen in ihrem System des eng getakteten Repertoirebetriebs, gleichzeitig verfügen sie aber auch über unglaubliche Möglichkeiten. Wenn man hier ansetzt und dieses Zusammensein, dieses Zusammenführen praktiziert als eine Art Teamsport, was Theater ja ist, es ernst nimmt und mit Lust ran geht, was in Magdeburg passiert ist, werden großartige Möglichkeiten freigesetzt.

Kam die Projektidee aus einem Impuls der Theaterleitung heraus oder gab es klare Wünsche vom Ensemble, im künstlerischen Prozess mehr involviert zu werden?

PS: Im Ensemble haben wir zehn individuelle Persönlichkeiten mit jeweils verschiedenen Wünschen: Was bedeutet es für sie, im Ensemble zu spielen? Auf der Bühne zu stehen? Wir als Theaterleitung stehen im permanenten Dialog mit ihnen und es wird automatisch auch über Sehnsüchte gesprochen. Außerdem sieht das Ensemble andere Formen des künstlerischen Ausdrucks in unserem Genre bei den Gastspielen im Rahmen unseres Festivals Blickwechsel. Dadurch entsteht eine Art Dialog zwischen dem Festival und dem festen Haus mit Repertoirebetrieb. Solche Momente führen zu Reflexionen darüber, was der tägliche Spielbetrieb für das Künstler:innen-Dasein im Ensemble ausmacht. Das Projekt entstand auf jeden Fall aus Wünschen vom Ensemble, aber nicht konkret zu diesem Projekt, das wir ja im Dialog mit Élise und Julika entwickelt haben.

Ihr habt euch 2022 zu einem Workshop und dann zu einer ersten Forschungsphase in Magdeburg getroffen. Im September findet die dritte Etappe in Frankreich statt. Wie war die Zusammenarbeit bis jetzt?

ÉV: Zuerst hatten wir fünf Tage Laboratorium mit den zehn Spieler:innen des Ensembles, um unsere künstlerische Praxis zu erforschen. Wir hatten mit Julika ein Programm mit Improvisationen, Austausch, Forschungsmomenten, auch im Wald, vorbereitet. Julika wollte von Anfang an mit dem unglaublichen Puppenfundus des Theaters arbeiten und ich mit Materialien aus der Natur. Die eine hat die andere inspiriert. Parallel konnten die Spieler:innen ihre Wünsche äußern und sagen, was dieses Labor mit ihrer künstlerischen Praxis zu tun hat. Es gab eine echte Synergie bei der Arbeit. Wir sind nicht dabei, alles zu inszenieren und über allem zu stehen. Es sind die Spieler:innen, die uns inspirieren. Wir waren und sind ständig im Dialog.

Nach dem Workshop sollten wir fünf Spieler:innen für die weitere Arbeit auswählen, wobei keine:r gezwungen wurde mitzumachen. Das ist das Wunderbare am Projekt: Wir haben uns wirklich gegenseitig gewählt.
Die Spieler:innen geben viel von sich preis, von ihrer Intimität und auch, wie sie sich in Bezug auf ihre Praxis und das Projekt positionieren. Wir hatten mehrere Berührungspunkte: unsere Praxis als Puppenspieler:innen, aber auch unsere Beziehung zur Natur, aus der sich ein zeitgenössischer Bezug zum Begriff Anthropozän ergab. Wir waren uns schnell einig, dass unsere Kunstpraxis von der heutigen Welt erzählt. Wir arbeiten zusammen an etwas Gemeinsamen, als Herz, als ein Teil oder Fragment der Menschheit, und gleichzeitig sind wir sehr verschieden und haben unterschiedliche Visionen. Das ist, was uns an dem Projekt interessiert: Wie sind wir zusammen?

JM: Genau. Wir sind von den Begegnungen ausgegangen und haben darauf aufgebaut. Ich finde anthropologische Vorgehensweisen inspirierend, wir befinden uns mit diesem Projekt wie in einer Art Feldforschung. Das Feld hier sind der Ort und die Begegnungen zwischen den einzelnen künstlerischen Praxen und Personen.

Offenheit jenseits der Komfortzone

Wie hat das Ensemble darauf reagiert?

PS: Es gab im Ensemble eine große Begeisterung für das Projekt und die Zusammenarbeit mit Élise und Julika. Und zugleich gab es eine große Bereitschaft, sich auf etwas Unbekanntes einzulassen und das in viel größerem Maße als sonst. Sowohl nach dem Workshop, bei dem alle zehn Puppenspieler:innen dabei waren, als auch nach der ersten Forschungsphase mit den fünf Besetzten. Alle in ihrem eigenen Tempo und in der Art, wie sie sind.

In unserem Vorgespräch, an dem auch das Ensemble teilgenommen hat, haben die Puppenspieler:innen erzählt, dass sie sich viel nackter gefühlt haben.

JM: Ja, nackt in dem Sinne, dass sie sich einbringen, zeigen, die Komfortzonen verlassen, Risiken eingehen. Im Repertoirebetrieb müssen sie auf eine bestimmte Art und Weise funktionieren und die Spieler:innen sind in ihrer Arbeit sehr gut optimiert. An einem bestimmten Punkt wird vielleicht ein Schutz aufgebaut. Bei unserem Projekt müssen sie sich öffnen. Das ist ein riesiges Geschenk für uns. Wir hatten es zwar gehofft, aber es ist immer eine Wette. Man weiß nie, ob es funktioniert. Hier hat sich etwas wirklich entwickelt. Irgendwie magisch!

Julika, Élise, inwiefern hat die Zusammenarbeit mit einem deutschen Ensemble mit all seinen Besonderheiten eure Arbeitsmethoden in Frage gestellt?

ÉV: Ich als Außenstehende bemerke den Unterschied zwischen Repertoirebetrieb und Freier Szene nicht. Man spürt zwar, dass das Ensemble miteinander verbunden ist und die Spieler:innen über eine gewisse Virtuosität, eine tägliche Praxis verfügen, die schon bemerkenswert ist. Ansonsten bleiben sie sehr frei in ihrer Art zu kreieren und sind wie ein Team, das ich für eine freie Produktion hätte rekrutieren können. Die größte Herausforderung für mich ist eher die Tatsache, dass ich mit Menschen aus einem anderen Land arbeite. In einer anderen Sprache, an einem fremden Ort.

JM: Als Professorin für Figurentheater an der HMDK Stuttgart, als diejenige, die mitverantwortlich ist für den Nachwuchs und die Zukunft unseres Genres, ist es für mich außerdem spannend zu hinterfragen, wie man die bestehenden Theaterinstitutionen entwickeln kann. Als Hochschule werden wir von den Theatern darauf hingewiesen, wie schwer es manchmal ist, Spieler:innen für feste Engagements zu finden. Wie können wir dafür sorgen, dass diese Strukturen nicht aussterben und wie können wir die Möglichkeit schaffen, die künstlerische Ausbildung mit diesen Institutionen in Resonanz treten zu lassen? Anstatt zu sagen, dass diese Institutionen veraltet und nicht mehr spannend sind, ist es unsere Herausforderung, sie gemeinsam umzugestalten, mit unserer Zeitgenossenschaft neu zu „besetzen“.

Neue Räume für mehr Zufall

Petra, möchtet ihr solche Projekte weiter dem Ensemble anbieten?

PS: Sehr gern, aber solche Projekte sind mit normalen Mitteln im Repertoirebetrieb schwer zu realisieren und zusätzliche Förderung ist nötig. Darüber hinaus braucht eine solche freie Produktion sehr viele Ressourcen aus dem Haus, da viel offengelassen wird und dies in die Produktionsplanung der gesamten Spielzeit eingreift. Nicht nur das Ensemble muss mitmachen, sondern das ganze Haus: die Gewerke, das Atelier, selbst die Verwaltung.

Was nehmen die Künstler:innen aus dem Projekt in ihre alltägliche Theaterpraxis mit? Bemerkst du schon Unterschiede in ihrer Arbeitsweise?

PS: Für eine generelle Aussage ist es zu früh, aber all die Erfahrungen gehen in die Körper rein und es wird sich in der einen oder anderen Form in den nachfolgenden Produktionen widerspiegeln. Daran glaube ich fest. Unsere Puppenspieler:innen nehmen sich selbst mit einer größeren Durchlässigkeit neu wahr, aber auch die anderen Mitspieler:innen. Das ist ein großer Gewinn.

Wird auch die traditionelle Rollenaufteilung Regie/Darsteller:in/Dramaturgie stärker durch die Spieler:innen hinterfragt?

PS: Zum einen forderten Élise und Julika unsere Puppenspieler:innen gezielt auf, sich mit Texten einzubringen, die sonst eher im Dialog von Regie und Dramaturgie geteilt werden. Zum anderen stehen bei uns in Magdeburg nicht alle ausschließlich auf der Bühne. Einige Puppenspieler:innen sind auch Regisseur:innen, die anderen kennen sie in dieser doppelten Rolle. Die Ensemblemitglieder werden dazu ermutigt, eigene Projekte zu starten. Nicht für den kompletten Spielplan, aber das ist bei uns möglich.

Der große Unterschied in Magdeburg ist die Eigenständigkeit des Puppentheaters. Oft ist das Puppentheater eine Sparte in einem Theater und dazu die kleinste, die in den Abläufen vom ganz großen Haus steckt. Andere Projekte oder Arbeitsweisen sind zwar möglich, es hängt allerdings sehr stark von der künstlerischen Leitung ab.

JM: Es gibt ein Rhythmusproblem. Oft muss an den großen Häusern am ersten Probentag das Stück stehen: Bühnenbild, Puppen etc. sind am besten schon gebaut, die Rollen verteilt. Das liegt am Rhythmus des Repertoirebetriebs. Ich glaube aber, dass die kreativen Schaffensprozesse sehr unter diesem Vorplanungsdruck leiden. Eine Stückentwicklung auf der Bühne während der Proben ist so kaum möglich: Unsere Vorstellungskraft ist viel eingeschränkter, wenn wir am Tisch oder überwiegend konzeptionell arbeiten. Dem Zufall wird kaum Raum gelassen. Für unsere Vorgehensweise braucht man viel Energie und Durchsetzungsvermögen, das „noch nicht zu wissen“ zu verteidigen, dem Ungewissen Raum zu geben. Als Künstlerin schlage ich nur eine Methode, einen Weg, kein fertiges Produkt vor. Dafür muss man das Vertrauen der Theater und der Teams gewinnen. Ich denke aber, dass diese offene Vorgehensweise auch in der Institution möglich ist. – www.puppentheater-magdeburg.dewww.julikamayer.comhttps://lentrouvert.com

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