Eigentümliche Stimmen
Zur Arbeit an I went to the house but did not enter
von Heiner Goebbels
Erschienen in: Recherchen 96: Ästhetik der Abwesenheit – Texte zum Theater (08/2012)
Erst die Arbeit an meinem jüngsten szenischen Konzert I went to the house but did not enter für die vier Sänger des britischen Hilliard Ensembles stellte mich plötzlich vor die ungewohnte Frage nach dem Umgang mit der Stimme. Ungewohnt deshalb, weil es bislang für meine Hörstücke und Musiktheaterstücke vielleicht eine unbewusste gemeinsame Formel gab: die Arbeit mit eigentümlichen Stimmen. Da mir die standardisierten und akademischen Formen des Sprechens und Singens immer suspekt waren, scheint mir das zur Voraussetzung aller ästhetischen Mitteilungen überhaupt geworden zu sein.
So habe ich zwar die Stimmen mikrophoniert, geschnitten, gesampelt, geloopt, transponiert und verzerrt; sie von ihren Körpern und Ursachen abgelöst und mit ihnen wieder vereint; habe mit rauen, ungeübten, fehlerhaften, weichen, differenzierten, gehauchten Stimmen gearbeitet; mit jungen und alten Stimmen von Rauchern und Nichtrauchern; mit Stimmen, die nie schreien, selten rufen, wenig singen, meist sprechen; aber nie mit glatten Stimmen, sondern mit Stimmen, die vor allem eines sind: eigentümlich.
Afrikanische Stimmen aus dem Senegal zum Beispiel (Boubakar und Sira Djebate), Stimmen von Passanten (auf den Straßen in Berlin und Boston), die Stimmen meiner eigenen Kinder; iranische, griechische, brasilianische, amerikanische, flämische, kanadische, japanische und schwedische Stimmen (von Sussan Deyhim, Areti Georgiadou, Arto Lindsay, John King,...