Theater der Zeit

Abschied

Der utopische Körper

Ein Nachruf auf den Tänzer und Choreografen Ismael Ivo, der im April 2021 an Covid-19 verstarb

von Johannes Odenthal

Erschienen in: Theater der Zeit: Das große Kegeln – Zur Machtdebatte am Theater (06/2021)

Assoziationen: Südamerika Tanz Akteure Haus der Kulturen der Welt

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Ich hatte schon als Kind diesen Traum, die Welt zu verändern. Und als Schwarzer immer die Vorstellung, die Wahrnehmung der Menschen zu verändern. Die Veränderung der Wahrnehmung ist die Grundlage für die Veränderung der Wirklichkeit“: Transformation ist die zentrale Motivation für den 1955 in einem Armenviertel von São Paulo geborenen Performer, Choreografen und Festivalgründer Ismael Ivo gewesen, der den eigenen Körper zum Medium seiner Emanzipation aus sozialer und politischer Diskriminierung gemacht hat. Was er auf seinem Weg über New York, Berlin, Wien und Venedig, über Weimar und Stuttgart transformiert, verarbeitet und bewegt hat, erscheint von heute aus gesehen kaum fassbar in seiner Dynamik und Vielfalt. Wichtig ist es, an seinen Ausgangspunkt zu erinnern, an die engagierte schwarze Befreiungsbewegung in Brasilien, die das Theater, die Literatur und die Wissenschaften einsetzte als Medien der Revolte, als zivile Widerstandsbewegung gegen Ungerechtigkeit, Rassismus und Diskriminierung. Prägend für ihn war die Zusammenarbeit mit Aktivistinnen und Aktivisten sowie Künstlerinnen und Künstlern wie Tereza Santos oder Abdias do Nascimento, Menschen, die ihre afroamerikanische Geschichte als politischen Auftrag verstanden und den alltäglichen Rassismus in der brasilianischen Gesellschaft scharf kritisierten. Diesen gesellschaftskritischen Ansatz hat Ismael Ivo sowohl in seinen Choreografien als auch in seiner institutionellen Arbeit niemals aufgegeben.

Eine Schlüsselproduktion für sein Gesamtwerk war die tänzerische Adaption von Jean Genets „Zofen“ aus dem Jahr 2001, produziert vom Haus der Kulturen der Welt in Berlin und dem Theaterhaus Stuttgart. Charakteristisch für ihn: der kooperative Ansatz mit seinem kongenialen Tänzerpartner Koffi Kôkô, dem Theatermeister Yoshi Oida (Regie), dem Komponisten und Musiker João de Bruçó und der Bühnenbildnerin Kazuko Watanabe sowie der Produzentin Christiane Uekermann. Jean Genet beschreibt in den „Zofen“ das Gefängnis der Abhängigkeiten der Dienerinnen, aus dem es in letzter Konsequenz nur den Ausweg in Rituale der Körperüberschreitung gibt. Eine Inspirationsquelle für Ismael Ivo war der Kurzfilm „Un chant d’amour“, in dem Genet die Situation von zwei Gefangenen in nebeneinanderliegenden Gefängniszellen beschreibt, die keinen Sichtkontakt zueinander haben und ihre Liebesbeziehung nur dadurch leben können, dass sie mit einem Strohhalm den Mörtel der trennenden Mauer durchbohren können und durch diese Verbindung den Atem oder den Rauch einer Zigarette aus dem Mund des einen zum Körper des anderen senden. Eine intime Verbindung, die als Metapher der gewaltsamen körperlichen Trennung und ihrer Überwindung gelesen werden kann. Es ist die Alternative zur brutalen Erniedrigung durch den Gefängniswächter, der die körperliche Nähe mit Gewalt erzwingt.

Dieses Gefangensein im eigenen Körper und die Überwindung der sozial konstruierten Mauern und Projektionen war ein Schlüsselthema für Ismael Ivo. In der ganzen Wucht wird es deutlich mit Bezug auf die koloniale Konstruktion von Rasse, wie sie Frantz Fanon, intellektueller Wegbegleiter Ismael Ivos, in „Schwarze Haut, weiße Masken“ und später dann in „Die Verdammten dieser Erde“ als Kampfschrift formulierte. Frantz Fanon, der als französischer Staatsbürger die Erfahrung der Fremdbestimmung durch den kolonialen Blick als Schwarzer radikal erfahren musste, hat den Aspekt der Gewaltausübung aus einer psychoanalytischen Perspektive beschrieben. Dieser theoretische Ansatz ist für den Tänzer Ismael Ivo zur performativen Praxis geworden.

Was ihn für die Werke von Frantz Fanon, Jean Genet oder Heiner Müller so eingenommen hat, war ihre revolutionäre Kraft, die er auch bei Vaslav Nijinsky und Antonin Artaud fand. Das Theater wird in ihren Arbeiten mit einer gesellschaftlichen Energie aufgeladen, mit dem Potenzial der Veränderung. Für Ismael Ivo stand dabei der revoltierende und utopische Körper im Zentrum, ein Konzept, das ihn auch mit Pier Paolo Pasolini, Yukio Mishima und insbesondere Artaud verband: „Ich suche immer die radikale Seite der Kunst als einen Weg, meine Präsenz, mein Da-Sein zu bestätigen. Ich habe mich als schwarzer Tänzer mit diesen radikalen Positionen verbunden, weil ich in ihnen eine Antwort auf meine Fragen zur Diskriminierung suchte.“

Wie ein roter Faden zog sich dieses Lebensthema durch die Choreografien von Ismael Ivo. „Artaud, Artaud!“ entstand 1984 in New York, uraufgeführt im Alvin Ailey American Dance Center. Mit „Delirium of a Childhood“ von 1989 übersetzte der Performer die Erfahrung von existenzieller Armut, von Hunger und Tod in ein szenisches Ritual. In „Apocalypse“, auch von 1989, war es die Kooperation mit Ushio Amagatsu, dem radikalen Choreografen der Butoh-Kompanie Sankai Juku, und dem Pianisten Takashi Kako, die den Performer an die Grenzen der körperlichen Möglichkeiten führte. In „Mapplethorpe“ (2002) arbeitete Ismael Ivo seine Begegnung mit dem amerikanischen Fotografen Robert Mapplethorpe auf, der in seiner kompromisslosen Darstellung des nackten männlichen schwarzen Körpers die ambivalenten Strukturen des Begehrens und der Macht aufdeckte. Die Gewalt dieses kolonialen Gefüges brachte Ismael Ivo gleich im Anfangsbild der Aufführung zum Ausdruck. In dem mit seinem Bühnenbildner und Lebenspartner Marcel Kaskeline entwickelten Szenenbild war er nackt eingeklemmt zwischen zwei massiven Glasscheiben, die senkrecht auf der Bühne standen, dann zum Publikum kippten und auf dem Bühnenboden mit Gewalt aufschlugen.

So suchte Ismael Ivo auch die Kooperation mit Heiner Müller, der für den Tänzer einen Text über Antonin Artaud verfasste. „Fremd im eigenen Körper: Auswanderungen“ wurde 1997 als Tanztheater in Weimar realisiert. Müller beschreibt da­rin das Theaterkonzept von Artaud als einen Versuch, aus der Körperfeindlichkeit der christlichen, insbesondere katholischen Kultur auszubrechen. „Artaud erhielt eine französisch-katholische Erziehung, die ihn von seiner eigenen Sexualität, seinem Körper entfremdete – der Körper sei das Böse, die Sünde, dessen natürliche Impulse verdammt und unterdrückt werden müssen ... Der Körper wird abgebunden, gefesselt, in einem komaähnlichen Zustand gehalten.“

Heiner Müller unterscheidet in diesem Text zwischen einer Zivilisation der Wirtschaftlichkeit, der vollständigen Ausbeutung, und einer Zivilisation der Verschwendung, die sich stets an der Möglichkeit, an der Potenzialität orientiert. Ismael Ivo sieht er als ­Person, die beide Zivilisationen in sich trägt, und endet mit dem Aspekt der kolonialen Perspektive. „Der schwarze Tänzer, der die Grenzen seines Körpers und seiner Haut(-farbe) durchbrechen will. Grenzen, auferlegt durch Rassismus – und sie aufzubrechen als Voraussetzung für Menschheit. (ENTWEDER NIEMAND ODER JEDER).“

In dieser Linie stehen auch die Tanztheaterproduktionen „Francis Bacon“ von 1993 und „Othello“ (1996), die Ismael Ivo mit Johan Kresnik und der Bühnenbildnerin Penelope Wehrli am Theaterhaus Stuttgart produzierte. Das Motiv des politischen Körpers führte Kresniks Ansatz von Tanztheater mit dem emanzipatorischen und revoltierenden Körperbild von Ismael Ivo zusammen. Der Körper als Schlachtfeld zwischen Subjekt und Objekt, zwischen ideologischer Instrumentalisierung und emanzipatorischer Befreiung.

Das Haus der Kulturen der Welt produzierte im Jahre 2004 mit Ismael Ivo zwei große Arbeiten zum Thema des Black Atlantic. Neben dem Tanztheaterprojekt „Olhos d’Agua“, das seinen Ausgangspunkt in einer Erinnerung an seine Urgroßmutter nahm, die noch als Sklavin geboren worden war, und anhand deren Geschichte Ismael Ivo die Rolle der Frauen als Trägerinnen des kulturellen Gedächtnisses, der Befreiung und des Überlebens thematisierte, war seine Idee einer „Black Atlantic City Bus Tour. Poesie des Unsichtbaren“ visionär, die den Spuren der Black History in Berlin erstmals nachging. Vor allem die Verbindung von Information und Performance – so zum Beispiel am Denkmal der deutschen Soldaten, die bei dem Genozid an den Herero und Nama im heutigen Namibia Anfang des 20. Jahrhunderts umgekommen waren, am Aufführungsort von Josephine Baker in den zwanziger Jahren am Ku’damm oder an den Straßenschildern im Wedding mit den Namen der Kolonialherren – brachten das unsichtbare Thema des deutschen Kolonialismus und Rassismus erstmals mit den Mitteln von Tanz und Performance ins Bewusstsein einer deutschen Öffentlichkeit.

Die Institutionen in Berlin blieben mit Ausnahme vom Haus der Kulturen der Welt und der Schaubühne Ismael Ivo Zeit seines Lebens so gut wie verschlossen. Es waren das Deutsche Nationaltheater Weimar, an dem Ismael Ivo zwischen 1997 und 2000 eine Tanztheater-Sparte aufbauen konnte, die Biennale in Venedig, deren Tanzprogramm er zwischen 2005 und 2012 kuratierte, das ­Theaterhaus in Stuttgart, das für ihn zum wichtigen Produktions- und Spielort wurde, und vor allem das von ihm und Karl Regensburger 1984 gegründete ImPulsTanz Festival in Wien, das ohne Zweifel zu einer der wesentlichen Plattformen für den zeitgenössischen Tanz in Europa und weltweit geworden ist.

Es war vor allem diese eigene Erfahrung von Ismael Ivo, mit den Möglichkeiten von Tanz, Theater und Performance über den Körper einen Weg aus der „Verdammnis“ (Fanon) zu finden, einen Raum in der Gesellschaft zu behaupten, Autor seines eigenen Körpers und seiner eigenen Geschichte zu werden, die ihn mit einer unerschöpflichen Energie ausstattete. Er hat diesen Grundimpuls niemals aufgegeben, auch nicht, als er 2017 Direktor des Balletts der Stadt São Paulo wurde, dann sogar Mitglied des Führungs­teams am Theatro Municipal, das ihm als Jugendlicher vollkommen unzugänglich war. In einem Interview für Theater der Zeit (November 2017) sprach Ismael Ivo über den Aufbau einer experimentellen Kompanie, einer Art Labor, das sich in die existenziellen Konflikte der Metropole einmischte. Die Hochburg des bildungsbürgerlichen weißen Brasiliens wurde für Hunderte von Jugendlichen in den Favelas und Gettos zum Netzwerk. So feierte das neobarocke Opernhaus den Monat der Bürgerrechte für ein schwarzes Selbstbewusstsein mit Sambaschulen, DJs, Auftragsproduktionen aus den Stadtvierteln und einer Produktion von ­Ismael Ivo selbst, die sich mit dem internationalen Organhandel auseinandersetzte.

In São Paulo hatte Ismael Ivo einen überwältigenden Erfolg, nicht nur in der Kulturpolitik, sondern vor allem beim Publikum und in den regionalen und überregionalen Medien. Hier entstand auch das von ihm initiierte Projekt eines übergreifenden Tanzzen­trums, das die soziale Dimension seiner Vision von Tanz für die Zukunft fortführen wird. Das gilt genauso für das Tanzfestival in Wien.

Im April 2021 ist Ismael Ivo infolge einer Covid-19-Infektion verstorben. Über fast vierzig Jahre hinweg hat er in Europa und in Lateinamerika eine künstlerische Perspektive für zahllose Tänzerinnen und Tänzer geschaffen, die seine Utopie einer Befreiung durch den Körper auch nach seinem Tod fortschreiben werden. //

Die Zitate von Ismael Ivo entstammen einem Interview mit Johannes Odenthal für die Publikation „Zeitgenössische Künstler aus Brasilien 2013“, Steidl/Positionen 6, Steidl Verlag, Göttingen 2013.

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