Essay
R Ä U M E
Über die Frage, weshalb ich Theaternebel liebe
Assoziationen: Sachsen Dossier: Labor Kulturjournalismus Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste
![Die Band „Berlin Manson" beim Nebenan/Zblízka-Festival im Bühnennebel.](/_next/image?url=%2Fapi%2Ffiles%2F63042001-99b1-464c-98ee-13aa47bd73b0%2FLABORKULTURJOURNALISMUSLABORKULTURJOURNALISMUS%20LABORKULTURJOURNALISMUSLABORKULTURJOURNALISMUSLABORKULTURJOURNALISMUSLABORKULTURJOURNALISMUSLABORKULTURJOURNALISMUS%20LABORKULTURJOURNALISMUS%20LABORKULT.png&w=3840&q=75)
06.02.2025: Ein Nebel geht um das Festspielhaus Hellerau. Weiße Fäden wickeln sich um den schweren Sandstein; tauchen den achsensymmetrischen Komplex in ein kühles Wasserbad. Wobei: Eigentlich ist es das Licht. Durch schwebende Wassertropfen in einer besonderen Weise gestreut, kitzeln die umgelenkten Sonnenstrahlen vorsichtig unsere Augen. Als ein Bild steht es da, das nasse Gewölk; als ein Mantel legt es sich um die breiten Schultern Helleraus. Im Inneren des Theaters ist der Nebel dann ein anderer: Er riecht süß. Ein Geruch, den ich schon seit vielen Jahren liebe. Wenn er über die Bühnen zieht, hoffe ich, dass er mich erreicht, bevor er verfliegt. Freue mich, wie ein kleines Kind, wenn die Maschine angeht und es leise zischt. Aber wieso ist das so? Wieso liebe ich Theaternebel? Im Festspielhaus Hellerau, auf dem Nebenan/Zblizka Festival, suche ich eine Antwort auf diese Frage.
Die erste Fährte: Die Performance „Tankodróm“ der Künstler:innen Katarína Marková und Marlene Ruther endet im Nebel. Während des Applauses lässt eine süßlich duftende Wolke dem Publikum, das auf dem Fußboden im Ecksalon West Platz genommen hatte, die Sicht auf die Darsteller:innen verblassen. Wir klatschen, ohne die beiden zu sehen. Auch die Leinwand und das von Bierkästen getragene Soundpult sind im Nebel verhüllt. Vielleicht klatschen wir für etwas anderes? Vielleicht klatschen wir für den Raum, den die beiden auf dieser Bühne eröffnet haben: „Ein öffentlicher Ort ohne öffentliches Licht. Da draußen. Wir sind jetzt drinnen“, erzählt Marková. Sie spricht von einem ehemaligen Trainingsgelände für sowjetische Panzer der Tschechoslowakei. Doch ihr Satz macht sich selbstständig. Er wandert in den Bühnenraum und legt sich dort nieder. Auf dem ehemaligen Trainingsgelände begeben sich die Künstler:innen auf eine Spurensuche – spionieren mit der Kamera Baustellen-LKWs hinterher, zoomen in verdächtige Ausschnitte ihrer Videoaufnahmen – Kratzer, Einschusslöcher und freilaufende Hirsche. Sie machen Soundquellen auf dem Gelände ausfindig, mischen sie auf der Bühne zusammen und spielen mit ausgegrabenen Knochen ein Schlagzeug-Solo nach. Immer wieder stolpern diese ästhetischen Spielereien in die Realität – immer wieder wird Satire gewagt: Plötzlich erscheint eine Aufnahme des slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico auf der Leinwand. Zu sehen ist, wie dieser eine Baugrube besucht, dessen Abraum von den Baustellen-LKWs abtransportiert und auf dem Tankodróm abgeladen wird. Marková und Ruther kommentieren das Video mit einem feministisch widerständigen Humor. Es kann gelacht werden. Denn wir sind in einem Raum, in dem das möglich ist. Im Nebel des Schlussapplauses stellt es sich scharf: Wir erproben einen Raum, in dem das ästhetische Subjekt Freiheit atmet.
07.02.2025: Auf dem Konzert des slowakischen Post-Punk Trios Berlin Manson ist er wieder da – der Nebel. Eigensinnig zieht er Bahnen zwischen den tanzenden Zuschauer:innen, begleitet und verfliegt. Er markiert den Raum, in dem wir uns hier und jetzt gemeinsam befinden können. Wie eine liebevolle Erinnerung an das, was in diesem Raum möglich werden kann. Und die Möglichkeiten sind so zahlreich wie die Wassertropfen in den Nebelwolken. „Toto sme mohli byť my. Keby sme boli z inej planéty. A nie z východnej európy, ty“, singt Adam Dragun. Die Zeilen gehören zu seinem erfolgreichen Song „Poor but sexy“. Die deutsche Übersetzung: „Das hätten wir sein können. Wenn wir von einem anderen Planeten wären. Und nicht aus Osteuropa-pa.“ Die Lieder des Trios werfen Licht auf widersprüchliche Lebenserfahrungen in einem osteuropäischen Spätkapitalismus. Und die süßen Nebelwolken im Festspielhaus markieren, dass hier ein Ort ist, an dem diese Dinge gemeinsam gedacht werden können.
08.02.2025: Die audiovisuelle Performance „The Good Times are over“ des Regisseurs und Performers Karol Filo hebt die Varianz der theatralen Räume erneut hervor: Mit einer Kamera dokumentiert der Künstler einen Besuch bei seinem slowakischen Großvater. Während Karol Filo auf der Bühne einzelne Ähren zu einem Weizenfeld zusammenstellt, setzen sich auf der Leinwand generationelle Widersprüche zu einem zutiefst menschlichen Portrait zusammen. Im Gespräch zwischen Enkel und Großvater treffen historische Erfahrungen gelebter und ungelebter Jahrzehnte aufeinander. Es ist die Begegnung zweier Menschen – das Aushalten von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – die hier einen Raum fordert.
Vielleicht ist es das: Kunst kann und sollte nicht dem Erreichen politischer Ziele dienen. Aber Kunst trägt die Verantwortung für das ästhetische Subjekt, das sich den politischen Herausforderungen stellt. Und genau das passiert in den Performances bei Nebenan/Zblízka: Es werden Räume erkundet, in denen sich ästhetische Subjekte formen; in denen die Performer:innen uns die Hand reichen. Im Solo „IHOPEIWILL“ verleiht die Tänzerin Soňa Ferienčíková diesem Gedanken eine Körperlichkeit: Sie steht in der Mitte der Bühne. Als ein Kokon steht sie da. Ihre Körpermitte ist von einem hellen Band umwickelt; wie eine Nabelschnur, die sich zunächst um ihren eigenen Körper schlingt und dann Schritt für Schritt als Verbindung zur Außenwelt sichtbar wird. Mit jeder Drehung löst sich ein weiteres Stück. Mit jedem Gang über die Bühne hakt Ferienčíková einen weiteren Abschnitt des sich lösenden Bandes in einen Karabinern ein. Ein Netz entsteht. Ein Gewebe, auf das sie sich stützt, das sie hin und wieder überwindet und in das sie sich immer wieder kontrolliert hineinlegt – bis das Ende des Bands erreicht ist. Ferienčíková wendet sich an eine Zuschauer:in; streckt die Hand zu ihr aus. Es ist die Bitte, ihre Hand zu ergreifen, das Ende des Bandes für sie zu halten und das gesponnene Netz mit eigener Kraft zu sichern. Die Zuschauer:in nimmt das Angebot an. Aus der Begegnung entsteht erneut ein Raum: Es wird Platz geschaffen, in dem sich Nähe und Verantwortung für die Welt da draußen erproben lassen. Für eine Welt, in der Nebel nicht süß riecht – für eine Welt jenseits unseres gemeinsamen Schutzraums. Vielleicht liegt darin meine Liebe für Theaternebel: in der Dankbarkeit für diese Räume.
Das „Labor Kulturjournalismus“ ist eine Kooperation zwischen der „Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus“, initiiert vom Bündnis internationaler Produktionshäuser, Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste in Dresden und Theater der Zeit.
Die 2019 gegründete „Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus“ hat zum Ziel, Theaterjournalismus im deutschsprachigen Raum zu stärken – in der Überzeugung, dass ein öffentlicher Diskurs über Theater, Tanz und Performance wichtig für Kunst und Gesellschaft ist.
Die Akademie versteht sich als Möglichkeitsraum, in dem journalistische Praxen gegenstandsgerecht gedacht, erprobt und zur Diskussion gestellt werden können. Im Rahmen einer neuen Kooperation entwickeln die Teilnehmenden des fünften Akademiejahrgangs Texte und Videos, die das Verständnis von Kulturjournalismus und Theaterkritik herausfordern und erweitern. Das Labor ermöglicht neue Formate, Schreibstile und Textformen.
Weitere Texte und Videos aus dem „Labor Kulturjournalismus“ gibt’s hier auf der Website und auf unserem Instagram-Kanal @theaterderzeit.
Verantwortlich Theater der Zeit: Lina Wölfel und Nathalie Eckstein
Verantwortlich Akademie für zeigenössischen Theaterjournalismus: Esther Boldt und Philipp Schulte
Erschienen am 11.2.2025