Theater der Zeit

Aus der Praxis

Hören, fühlen, riechen

Ein Erfahrungsbericht aus der Theaterarbeit für Menschen mit und ohne Seheinschränkungen

von Dorothee de Place und Caroline Heinemann

Erschienen in: IXYPSILONZETT Jahrbuch 2023: laut & denken (01/2023)

Assoziationen: Kinder- & Jugendtheater Theaterpädagogik

Body Boom Boom Brain, PINSKER+BERNHARDT, Künstler*innenhaus Mousonturm, Junges Nationaltheater Mannheim 2022.
Body Boom Boom Brain, PINSKER+BERNHARDT, Künstler*innenhaus Mousonturm, Junges Nationaltheater Mannheim 2022.Foto: Maximilian Borchardt

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Vom Recht auf kulturelle Teilhabe Für „das Recht aller Kinder und Jugendlichen auf gleichberechtigte Teilhabe an Kunst und Kultur“ einzutreten – dazu fordert gleich der erste Satz des ASSITEJ-Manifests auf.1 Diese Teilhabe „Kinder(n) und Jugendliche(n) mit Behinderungen oder aus Risikolagen“ zu ermöglichen wird anschließend noch hervorgehoben.

Die Problematik des Begriffs der Teilhabe beschreibt Nickie Miles-Wildin, Regisseurin und Rollstuhl-Nutzerin u. a. bei der britischen Graeae Theatre Company, so: „Es ist ein Unterschied, ob ich bei der Party mit im Raum sein darf oder ob ich zum Tanzen aufgefordert werde.“2

Worum geht es uns also, wenn wir uns vornehmen, Teilhabe zu ermöglichen? Akzeptieren wir notwendige Kompromisse, damit auch junge Menschen mit Behinderungen Zugang zu Räumen erhalten, die wir bereits bewohnen?

Oder fordern wir zum Tanz auf? Das heißt: Wünschen wir uns einen Austausch, der beide Seiten in Bewegung bringt? Erwarten wir von der Perspektive eines inklusiven Publikums, dass sie unsere Arbeit verändern und bereichern wird?

A wie Access

Theater als Medium der physischen Präsenz kann auf allen Sinnesebenen kommunizieren, doch visuelle und akustische Zeichen dominieren unsere ästhetische Praxis. Obwohl die kulturelle Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen ein erklärtes Ziel der darstellenden Künste für junges Publikum ist, schließen unsere künstlerischen Arbeiten daher in der Regel junge Menschen mit Seh- oder Höreinschränkungen von der Rezeption aus – nicht beabsichtigt, es passiert uns.

Maßnahmen zur Barrierefreiheit wie Audiodeskription oder der Einsatz von Gebärdendolmetscher*innen versuchen zwar Abhilfe zu schaffen, aber als der künstlerischen Arbeit nachträglich hinzugefügte Problemlösungen, werden sie sowohl von Künstler*innen als auch von Nutzer*innen oft als Kompromiss erlebt. Die Übersetzung grätscht als Add-On in die Bedeutungsträger des Mediums hinein und stört den Austausch zwischen Künstler*innen und Publikum mit Mitteln der Kunst.

Das Projekt A wie Access3 forderte daher fünf Produktionsteams der freien darstellenden Künste in Hamburg auf, die Anwesenheit eines inklusiven Publikums nicht als Problem sondern als Chance für die Entwicklung der eigenen künstlerischen Praxis zu begreifen: Im Austausch mit einem Probepublikum mit Seh- oder Höreinschränkungen hinterfragten die Produktionsteams im laufenden Prozess die eigenen Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten in Bezug auf ihre Arbeit und suchten nach Wegen, die künstlerischen Mittel so auszuschöpfen, dass auf allen Sinneskanälen Zugänge zu den Erfahrungswelten ihrer Produktionen ermöglicht werden.

In diesem Rahmen entstand auch die Produktion Das lebende Museum. Ein Theater-Spaziergang über die Wallanlagen von Die AZUBIS4. Ziel dieser Arbeit war ein Theatererlebnis, das Menschen mit unterschiedlichen Sehfähigkeiten ein gleichwertiges ästhetisches Erlebnis ermöglicht.

Das Lebende Museum

Während des Probenprozesses bestand Kontakt zum Bildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte Hamburg (BZBS) sowie zu einer Gruppe von Mitgliedern des Blindenund Sehbehindertenvereins Hamburg (BSVH), die als Probepublikum und Berater*innen involviert waren. So konnten wir unsere szenischen Ideen im Laufe der Stückentwicklung mehrfach gemeinsam überprüfen.

Eine Spielerin und die Figur einer Raupe begleiten eine etwa 25-köpfige Publikumsgruppe durch einen Teil der Parkanlage, die vor über 200 Jahren der Wall – eine bewaffnete Verteidigungsanlage – war. Über Kopfhörer hört das Publikum beschreibende Texte und Geräusche, die im heutigen Park eine zweite Zeitebene evozieren. Zudem begegnen ihnen an verschiedenen Stellen Charaktere, die mit der Gruppe im Hier und Jetzt interagieren.

Das Format des Audiowalks ermöglicht es, Beschreibungen direkt in den Stücktext zu integrieren – und macht eine Audiodeskription obsolet. Im Zusammenspiel mit den vielen sinnlichen Eindrücken der realen Umgebung (Geräusche, ansteigende Wege, Blütenduft,...) entsteht so auf mehreren Sinnesebenen ein ‚Bild‘ des Parks.

Die Charaktere sind in ihrer jeweiligen Umgebung durchaus für das Auge inszeniert, jedoch wird jedes Bild mit weiteren Sinneseindrücken verwoben: Ein Müßiggänger, der im goldenen Pyjama unter einem Sonnenschirm sitzt, lädt das Publikum ein, anhand der Geräusche des Parks Geschichten zu erfinden. Sein Sprachduktus, das Plätschern seiner Füße in einem Planschbecken und der Geruch der Sonnencreme, die er verteilt, eröffnen zahlreiche Assoziationsräume, die nicht auf visueller Wahrnehmung beruhen.

Haptische Sinneseindrücke werden en passant in die Handlung eingeflochten: durch die Einladung, Pflanzen am Wegrand zu befühlen oder das Weiterreichen von Requisiten. Die Raupenfigur hüpft gleich zu Beginn allen Kindern, die das wünschen, auf die Hand. So wird das Verhältnis von Fiktion und Realität auch für die Kinder geklärt, die die geführte Puppe nicht sehen können. In der Aufführungspraxis zeigte sich, dass die Unterscheidung von Fiktion und Realität bei einer Performance im Stadtraum, die in engem Bezug zur realen Umgebung steht, oft fragil ist – insbesondere für Kinder, die nicht sehen können, ob die Raupe echt oder eine Puppe ist.

Berührungen vermitteln hier sowohl einen haptischen Eindruck von der Realität des Parks, als auch von den theatralen Elementen des Stücks. Über die Inszenierung haptischer, olfaktorischer und akustischer Wahrnehmungsinhalte wurde eine vielsinnliche Rezeptionserfahrung möglich. Auf anderen Sinneskanälen nach Ausdrucksmitteln zu suchen, erweiterte unsere Formensprache und eröffnete uns und auch unserem sehenden Publikum einen anderen Zugriff auf das Stück. In der Erweiterung unserer Ausdrucksmittel stehen wir dennoch erst am Anfang. Um diese Potenziale auszuschöpfen ist eine langfristige Auseinandersetzung mit eigenen und davon abweichenden Wahrnehmungsmöglichkeiten für uns als sehende Künstler*innen notwendig. Das Sehen ist ein Fernsinn, der einen Überblick ermöglicht: Aus sicherem Abstand nehmen wir in kurzer Zeit unzählige Aspekte einer Situation wahr und stellen diese in ein Verhältnis zueinander. Tastsinn, Geruch oder Geschmack hingegen brauchen eine große Nähe zum Geschehen und vermitteln eher Detail-Informationen über zunächst unverbundene Fragmente. Wie von Geburt an blinde Kinder die Welt wahrnehmen, wie sie Erlebtes einordnen und welche inneren Bilder sie mit unseren Beschreibungen verknüpfen, ist uns also erstmal unbekannt.

Gleiches gilt für Erfahrungswissen und kulturellen Kanon: Angebote wie (Bilder-)Bücher oder Filme, durch die sehende Kinder sich unbekannte Welten und Themen erobern, stehen für Kinder mit Seheinschränkungen nicht in gleichem Maße zur Verfügung. Auf unserer Suche nach Darstellungsformen, Bildern und Assoziationsflächen mussten wir folglich stets überprüfen, mit welchen Vorannahmen wir arbeiten und ob die Wahrnehmungswelten, die wir kreieren, auch dann etwas erzählen, wenn der kulturelle Kontext nicht mitgelesen werden kann.

Differenz als Reichtum

Ein zentrales Merkmal unserer Theaterarbeit für ein junges Publikum liegt in der Annahme, dass unser Gegenüber unsere Erfahrungen und Annahmen nicht zwangsläufig teilt. Die Neugier auf andere Perspektiven und die Suche nach Gemeinsamkeiten und Reibungsflächen, die unseren Blick auf die Welt immer wieder neu justiert und erweitert, ist ein Motor dieser Arbeit.

Unabhängig davon, ob diese Differenz aus dem Altersunterschied, unterschiedlichen Wahrnehmungsfähigkeiten oder anderen Voraussetzungen resultiert, ist sie ein Reichtum, mit dem wir arbeiten und aus dem wir schöpfen können. Entscheidend ist, dass wir den Unterschieden mit Neugier und Intensität begegnen und wir unsere Strukturen so öffnen, dass sowohl im Zuschauerraum als auch in der künstlerischen Produktion mehr Perspektiv-, Wahrnehmungs- und Erfahrungsvielfalt vertreten ist.

Wünschen wir uns einen Austausch, der beide Seiten in Bewegung bringt?

Nur indem Menschen mit Seheinschränkungen die Chance bekommen, Theater als für sie sinnhafte Orte wahrzunehmen, können sie zum Publikum werden, als Multiplikator*innen in ihren Communitys wirken und selbst als Künstler*innen ihre Perspektive in die Kunst hineintragen.

Ein letzter Gedanke: Die Form des Audiowalks im öffentlichen Raum ermöglichte Menschen mit Seheinschränkungen ein reiches Theatererlebnis, schloss jedoch Menschen mit Hör- oder Mobilitätseinschränkungen aus. Jede Form eröffnet bestimmte Zugänge, beinhaltet aber auch Barrieren. Es ist daher auch die Aufgabe einer klugen Förderpolitik, darauf zu achten, dass unterschiedliche Stücke und Formate in ihrer Summe eine Teilhabe Aller ermöglichen. Dies bedeutet, dass künstlerische Konzepte zukünftig Aussagen zu den Zugangsmöglichkeiten und Ausschlusskriterien der beabsichtigten Produktionen enthalten sollten, so dass unbewusste Ausschlüsse weniger und bewusst hergestellte Zugänge mehr werden können.

1 Quelle: https://www.assitej.de/publikationen/assitej-manifest/#page-641, verifiziert am 12.07.2022.

2 Notat aus einem Vortrag von der ALL IN-Konferenz, die im Herbst 2020 in Köln stattfand.

3 A wie Access wurde im Rahmen des #take part-Programms des Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien gefördert. Infos unter: www.a-wie-access.de

4 Das lebende Museum. Ein Theater-Spaziergang über die Wallanalgen ist eine Produktion von Die AZUBIS, von und mit Caroline Heinemann, Dorothee de Place, Kai Fischer und Christopher Weiß und Kostümen von Cora Sachs. Die Produktion wurde in Kooperation mit Planten un Blomen realisiert. Infos: www.dieazubis.de

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