Prolog – Grenzen (auf) der Bühne: Wie geht Darstellung ohne Zurschaustellung?
Theater mit Geflüchteten in Südafrika und Deutschland
von Julius Heinicke
Erschienen in: Recherchen 148: Sorge um das Offene – Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater (05/2019)
Assoziationen: Wissenschaft Debatte Afrika
Sie kommen aus dem Norden. Die Grenze ist löchrig, und Schlepperbanden besorgen den Rest: zu Fuß, über das Land, herunter vom Hochplateau, aus den angrenzenden Nachbarländern, Zimbabwe, Mosambik, Angola, aus Zentralafrika, dem Kongo, aber auch aus dem Nordwesten, Senegal, Elfenbeinküste. Sie kommen aus dem Süden. Zu Fuß, durch die Wüste, überqueren Landesgrenzen des Kontinents, aus Nord-, Ost- und Zentralafrika, Eritrea, Somalia, dem Sudan, ein lukratives Geschäft für die Schlepperbanden. Denn sie müssen weiter über das Wasser, das Meer der Toten, heutzutage die gefährlichste Route der Welt.
Das Ziel derer aus dem Norden ist Südafrika. Sie leben in den Townships, deren Armut, Gewalt und Kriminalität. Dort nennt man sie „Aliens“. Sie sind die untersten in der menschenverachtenden Hierarchie, arbeiten hart und schicken das wenige Geld zu ihren zurückgebliebenen Familien. Sie werden gehasst, geschlagen und getreten. Das Ziel derer aus dem Süden ist Europa. „Asylanten“ – klingt wie „Aliens“, Schimpfworte. Manchmal dürfen sie weiterziehen, kommen von Auffanglagern in Flüchtlingsheime, sie werden eingepfercht, ausgegrenzt, malträtiert und beschimpft.
Südafrika und Europa: Ein Land und ein Kontinent, beides Metaphern für Wohlstand und Traumlandschaften, deren Lobgesänge nicht verstummen wollen. Hier ist Arbeit, hier blüht das Leben, nämlich Wirtschaft und Export. Darauf ist man stolz, deswegen kommen sie vom Norden in den Süden und vom Süden in den Norden, aufwärts und abwärts wie die Ströme des Konsums, nur in entgegengesetzter Richtung. Wein, Früchte und Bodenschätze aus dem Süden, Autos, Waschmaschinen und Wertstoffe des Recyclings aus dem Norden. Routen der Globalisierung.
In Südafrika erkennt man sie, weil sie anders sprechen. Offenkundig, wenn sie aus frankophonen Ländern Westafrikas kommen, doch auch die Menschen aus Zimbabwe, Mosambik und Malawi sprechen andere englische Akzente und fremde Sprachen wie Shona, Ndebele, Portugiesisch, kein Xhosa, Afrikaans oder Zulu. Sie bringen selten Autos oder Waschmaschinen mit und werden verächtlich „Kwerekwere“ genannt, weil sie „Kauderwelsch“ sprechen, unverständliche Sprachen.
Der Theaterautor Blessing Hungwe nimmt das onomatopoetische Schimpfwort in den Titel seines Theaterstücks auf. Burn Mukwerekwere Burn erzählt von den Gewalterfahrungen eines zimbabwischen Flüchtlings in Südafrika und richtet sich auf die grausamen Vorfälle der letzten Jahre, bei denen Geflüchtete im Großraum Johannesburg von blutrünstigen Mobs verfolgt und angezündet wurden. In der Inszenierung des Stücks integriert der Regisseur Giles Ramsay das Spielen zweier Instrumente, der mbira (Zupfidiophon) und ngoma (Trommeln). Der Geflüchtete wird von einzelnen Südafrikanern brutal massakriert. Die Fußtritte, die szenisch nur angedeutet sind, werden durch einzelne Trommelschläge markiert und verstärkt. Doch zwischen den Szenen der Gewalt erklingt das sanfte Zupfen der mbira. Es entstehen Momente, in denen der geschundene Mensch nicht nur zur Ruhe kommt und innehalten kann, sondern in denen Traurigkeit über den Hass, aber auch Hoffnung auf eine gemeinsame friedvolle Zukunft der unterschiedlichen ethnischen Gruppen erwächst. Da das Instrument im gesamten südlichen Afrika verbreitet ist, betont sein Einsatz gemeinsame kulturelle Hintergründe und Verwandtschaft zwischen Zimbabwern und Südafrikanern und ihre ähnlichen Erfahrungen wie Kolonisation und Apartheid. Das Gemeinschaftsgefühl wird verstärkt, indem die Darsteller, wenn sie musizieren, aus ihren Rollen heraustreten, die ihnen der Text vorgibt. In den Musikszenen stellen sie keine verfeindeten Protagonisten mehr dar. Die Inszenierung geht somit einen Schritt weiter als der Theatertext, der primär die Gewalt, den Hass und die Polarisierung der südafrikanischen und zimbabwischen Bevölkerung thematisiert.
In Nicolas Stemanns Inszenierung der Schutzbefohlenen am Hamburger Thalia Theater scheint es genau anders herum zu sein. Auch im deutschsprachigen Raum widmen sich Theaterakteure der Flüchtlingsthematik, allerdings tut sich das Kunsttheater hierzulande schwer, eine angemessene Darstellungspraxis für diesen aktuellen „Stoff“ zu finden. Elfriede Jelineks Text versucht nicht nur, die Stimmen der Schutzbefohlenen als Chor in den deutschsprachigen Kanon zu integrieren, sondern verbindet diese mit den Mythenschichten vermeintlich westlicher Kultur. Der Rückgriff auf Aischylos’ Schutzsuchende, die Referenzen auf die danaischen Nachfahren der Io, die zum Schutz vor der eifersüchtigen Hera wegen ihrer Affäre mit Zeus von diesem zur Kuh verwandelt wurde und seitdem, das ist Heras Racheakt, von einer Bremse verfolgt über Landesgrenzen und Meere hinweg flüchtet, versinnbildlichen in Jelineks Text – ähnlich dem mbira-Spiel in Burn Mukwerekwere Burn – die Gemeinsamkeiten zwischen den europäischen und afrikanischen Protagonisten. Blicken wir auf die Antike samt ihren Ursprungsmythen, müssen wir feststellen, dass wir Europäer alle einmal kolonisiert wurden und Fremde waren, die dem abendländischen Kanon mit seiner christlichen Heilsbotschaft und seinem griechischen vollen phonetischen Alphabet einverleibt wurden.
Was Jelinek als Text gelungen ist, nämlich die Kulturschichten und Lebensfäden miteinander zu verweben, wird in der Hamburger Inszenierung bewusst zerschlagen. Die bühnenerprobte Kunstsprache der einzelnen Schauspieler2 hebt sich deutlich vom Chor der Flüchtlinge ab und löst die kollektiven Intentionen des Jelinek’schen Textkanons auf. Die Inszenierung zelebriert in erster Linie die wichtige, aber folgenschwere Frage, wieso die Flüchtlingsdramatik das Kunsttheater an seine Grenzen führt. Die Regie will jedoch keine Antwort geben, sondern holt die betroffenen Menschen selbst auf die Bühne, die mit ihren Körpern die Realität nicht nur symbolisieren, sondern diese leibhaftig sind. Was gut gemeint ist, riecht verdammt schnell nach Exotismus. Das ist so gewollt, denn der Teufel kann hier wohl nur mit dem Beelzebub ausgetrieben werden, was Franz Wille folgerichtig die höhere Mathematik des Darstellungsrassismus getauft hat.
Doch stellt sich die Frage, ob wir trotz jahrzehntelanger multikultureller, postkolonialer und neuerdings postmigrantischer Diskussionen keine anderen Darstellungsweisen gefunden haben? Hier lohnt sich ein Blick zurück auf die Inszenierung von Burn Mukwerekwere Burn. Wie in den Schutzbefohlenen stellen sich hier den Geflüchteten Mitglieder der Nation entgegen, in welcher die Menschen um Asyl bitten. Während die afrikanische Inszenierung jedoch eine Darstellungsweise gefunden hat, nämlich über die Musik eine Gemeinschaft zwischen zimbabwischen und südafrikanischen Protagonisten zu erschaffen, betont die deutsche Aufführung weniger die Gemeinsamkeiten, sondern vielmehr die Differenz zwischen geflohenen und nicht-geflohenen, deutschsprachigen und nicht-deutschsprachigen Darstellern. Was in der Schriftsprache des Textes von Jelinek, also auf der Ebene der Symbole, gelingen mag, nämlich, dass die geflüchteten Menschen Teil des kollektiven Kanons werden, will die Bühne nicht einlösen, weil sie es offenbar (noch) nicht vermag.
Vielleicht sollte hieraus gefolgert werden, dass die deutschsprachige Gesellschaft und ihr Theater sich hinsichtlich der Flüchtlingsthematik zunächst einmal mit sich selbst und ihren Ressentiments, Ängsten und Degradierungsbestrebungen beschäftigen will, bevor sie Methoden entwickelt, um die „Fremden“ und „Anderen“ in die Bühnen- und Rezeptionsästhetik aufzunehmen. Orpheus in der Oberwelt: Eine Schlepperoper von andcompany&Co. zäumt das Pferd von hinten auf. In der Aufführung im Berliner HAU erscheinen keine Menschen, die um Asyl bitten, leibhaftig auf der Bühne, sondern werden von Schauspielern in Vogelkostümen repräsentiert, um der Absurdität von Grenzen Ausdruck zu verleihen. Im Zentrum stehen jedoch nicht die fliegenden und flüchtenden Protagonisten, sondern die Auseinandersetzung mit der abendländischen Kultur, ihrer Symbolik und den Mechanismen von Aus- und Abgrenzung. Die Schlepperoper ist voll von derlei Verweisen, das Bühnenbild ist überfrachtet mit Symbolen, und die Opernmusik von Monteverdi tut das Ihrige, um einen westlichen Gestus zu suggerieren. Doch es reicht nicht, dies zu sehen und sich selbstständig zu erschließen. Andcompany&Co. legen – allerdings überdeutlichen – Wert darauf, dass diese Referenzen verstanden werden, und dozieren und erklären vom Bühnenrand aus. So wähnt sich das Publikum auf einmal in einer Vorlesung der Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun: Die Geschichte des Abendlandes beginnt mit dem Alpha, dem ersten Buchstaben des Alphabets, das in seiner Ursprungsform zunächst die Hörner des Stiers, doch mit den Jahren den Ochsen und dessen Joch symbolisiert, was auf die Domestizierung der Männlichkeit im christlichen Abendland hindeutet. Ein cleverer Verweis, wird doch ersichtlich, dass so mancher Pegida-Demonstrant und Flüchtlingsgegner jenen Kompetenzverlust noch nicht überwunden hat und seine Aggression sich aus eben diesem nicht reflektierten Degradierungstrauma nährt. Hier funktionieren die Bezüge auf der Bühne, wenn auch nur mit Hilfe didaktischer Anwendung.
Eine andere Herangehensweise, sich mit Flüchtlingen im Theater zu beschäftigen, hat eine oft von der hohen Theaterkunst belächelte Szene hervorgebracht. Viele Akteur*innen auf dem Feld des Applied Theatre arbeiten in Flüchtlingsheimen und Jugendzentren mit geflüchteten Menschen zusammen. Sie nutzen Theater, um mit ihnen in Dialog zu kommen, Grenzen und Ängste abzubauen und ihnen eine Stimme zu geben. Am Hamburger Hajusom erarbeiten jugendliche Geflüchtete und Migranten Theater- und Tanzstücke. Ende November zeigte das Theater auf seinem Festival „If we ruled the world – 15 Jahre Hajusom“, dass es jede Menge künstlerische Ansätze transnationaler Theaterarbeit gibt. Hajusom avancierte mit den Jahren zur Talentschmiede einer neuen vielversprechenden Generation Kunstschaffender. Im Berliner Haus der Kulturen der Welt hat der Refugee Club zusammen mit geflüchteten Menschen Letters Home auf die Bühne gebracht. Die Darsteller*innen berichten ihren zurückgebliebenen Freunden und Verwandten über ihre Flucht und ihren Alltag in Deutschland. Im Publikum waren viele Menschen, die in Flüchtlingsheimen leben und in Bussen anreisten. Der Akt, gemeinsame Erfahrungen zu teilen, wurde jedoch abrupt abgebrochen. Die Performance überzog die Zeit, die Busse mussten fahren, bevor der Theaterabend zu Ende war, und diejenigen, die eben nicht frei sind, sondern auf die Busse angewiesen, mussten hektisch aufspringen und zurück in ihre Flüchtlingsheime, bevor sie applaudieren konnten. Applied Theatre ist eben eine besondere Theaterform. Die Akteure sind meist Laien. Sie sind verletzlich, denn die Geschichten, die hier verhandelt werden, sind mit der eigenen Biographie eng verknüpft. Angewandtes Theater ist stets mit gesellschaftlichen, politischen oder therapeutischen Zielsetzungen verbunden, welche, falls ein Publikum vorgesehen ist, auch an die Rezipienten gerichtet sind, sodass ein rein ästhetischer Kunstgenuss oft weniger im Vordergrund steht.
Wie aber können diese Themen und Geschichten im Theater jenseits der Applied-Theatre-Szene verhandelt werden, ohne Zurschaustellung? Leonie Pichler hat mit dem Künstlerensemble Bluespot Productions in Augsburg mehrere Monate Geflüchtete begleitet und hieraus künstlerische Werke geschaffen, welche die Zusammenarbeit und Berührungspunkte repräsentieren. Ein kleines Büchlein unter dem Titel Ich bin „Un“Sichtbar.de zeugt davon. In Theaterstücken, Porträts, Liedern, Filmen, Kurzgeschichten, Dramentexten und Performances verarbeiten Künstler ihre Erfahrungen im Zusammentreffen mit Flüchtlingen. Doch auch ihnen wird von Kritiker*innen unterstellt, sie bereicherten sich an den Geschichten der Unterdrückten. „Am Anfang der Kampagne“, so schreibt die künstlerische Leiterin Petra Leonie Pichler, „kam oft der Vorwurf, wir würden die Flüchtlinge nur ausbeuten, um unser Kunstprojekt zu verwirklichen. Ich habe mich dann oft gefragt, wie man jemanden ausbeuten kann, der alles verloren hat?“ Tatsächlich entsteht in den einzelnen Projekten ein Gespür für das Miteinander; das gemeinsame Arbeiten geht über die künstlerische Arbeit hinaus in den Alltag. Der eine backt für den anderen, man unternimmt zusammen Ausflüge, ein erster gemeinsamer Anfang.
Das Magnet Theatre im südafrikanischen Kapstadt folgt einem ähnlichen Ansatz und hat ausgefeilte Theatertechniken und Inszenierungsmethoden entwickelt. In einigen Produktionen stehen individuelle Geschichten von Geflüchteten im Mittelpunkt, die von professionellen Schauspielern auf der Bühne aufgeführt werden. Infolge der ausländerfeindlichen Attacken in den letzten Jahren produzierte das Theater mehrere Stücke, die sich mit Flucht, Migration und Xenophobie auseinandersetzen und hierzu innovative ästhetische Strategien nutzen. Every Year, Every Day, I am Walking erzählt die Geschichte einer Mutter und ihrer Tochter auf ihrem Weg aus einem zentralafrikanischen Land nach Südafrika. Im Mittelpunkt stehen jedoch die Verkörperungen dieser Geschichten jenseits der Sprache. Das Magnet Theatre, das seit 28 Jahren in den Townships von Kapstadt arbeitet und begabten Jugendlichen eine professionelle Ausbildung gibt, legt dabei den Schwerpunkt auf körperlichen Ausdruck.
Das Hauptaugenmerk richtet die Trainingsleiterin Jennie Reznek darauf, ob die Verkörperung der Geschichte überzeugt. In einem Land mit elf Nationalsprachen, die Sprachen der Migranten nicht eingeschlossen, ist die Fokussierung auf die körperliche Darstellung nachvollziehbar. In der Inszenierung von Every Year, Every Day, I am Walking ergänzt der Regisseur Mark Fleishman die Dramaturgie der Fluchtgeschichte mit Tanz- und nonverbalen Ausdrucksszenen, welche die Bezüge zur Heimat und den dort gewohnten Ritualen schaffen, jedoch auch traumatische Gewalterfahrung thematisieren. Das Stück genießt großen Erfolg, sowohl im Ausland, wo es in 18 Ländern aufgeführt wurde, als auch in den Townships in Südafrika. Es scheint, als habe das Magnet Theater eine Bühnensprache gefunden, die in ihrer Symbolik und Form in den unterschiedlichsten kulturellen Kontexten verständlich ist. Vielleicht auch aufgrund der langjährigen Erfahrungen mit vielfältigen Kulturen und den seit dem Ende der Apartheid stattfindenden Versuchen fairer, gleichberechtigter Aushandlungen ist Südafrika Deutschland offensichtlich einiges voraus.
Andere Produktionen des Magnet Theatre spiegeln den fremdenfeindlichen Habitus, der einigen Ortschaften in Südafrika innewohnt, auf der Bühne wider. Die Vreemdeling (Der Fremde), das auf Afrikaans, dem ehemaligen „Kapholländisch“, aufgeführt wird, handelt von einer kleinen südafrikanischen Stadt, die sich zum Schutz vor fremden kulturellen Einflüssen von der Außenwelt abgeschottet hat. Doch auf einmal ist er da, die Vreemdeling, in Gestalt eines Protagonisten, dem Fremden, dem die Einheimischen zunächst mit Ressentiments und Vorurteilen begegnen, dessen Wissen und Erfahrungsreichtum im Verlauf des Stücks jedoch ebenso begrüßt und angenommen werden. Das Besondere der Produktion ist jedoch nicht der für Migrationsstücke eher typische Plot, sondern die Art und Weise, wie sich die Fremdheitserfahrung unabhängig von der Thematik des Stoffs durch das Theatersetting allein konstituiert. Die Bürger der kleineren Ortschaften, in denen die Produktion aufgeführt wurde, wie zum Beispiel Springbok, Leifontein und Citrusdal, hegen keine besonders große Affinität zum Theater. Da das Magnet Theatre jedoch in Schulen und Jugendzentren und mit Workshops und anderen Veranstaltungen für die Produktion warb, waren die Aufführungen sehr gut besucht. Viele Zuschauer gingen zum ersten Mal und so mit einem Gefühl des Ungewohnten ins Theater, was sich im Verlauf des Stücks mit dem Fremdheitsgefühl gegenüber den unbekannten Traditionen und Ritualen des Protagonisten, die Vreemdeling, vermischte. Ob und inwieweit sich die Zuschauer nun im Laufe des Abends zu Theaterliebhabern gewandelt und Vorurteile gegenüber „dem Fremden“ überwunden haben, sei dahingestellt. Jedoch ist es bemerkenswert, wie es dem Magnet Theatre gelingt, Ressentiments gegenüber Menschen aus anderen Kulturen in Fremdheitsgefühle gegenüber Kunstpraktiken zu verwandeln, die der eigenen Kultur entnommen sind.
Im Vergleich zu Südafrika ackern sich die deutschen Bühnen auffällig hartnäckig an der korrekten Darstellbarkeit der vermeintlich „Fremden“ ab. Denn die Frage, wer überhaupt geflüchtete Menschen darstellen kann und darf, betont, wie wir im Fall der Schutzbefohlenen gesehen haben, vor allem die Differenz zu ihnen. Die Blackfacing-Debatte hat zwar endlich den deutschsprachigen Theaterdiskurs erreicht, doch vermag sie auch, die Theaterpraxis und das Rezeptionsvermögen des Publikums zu wandeln?
Um eigene Grenzen aufzubrechen, lohnt es sich, in andere Gewässer einzutauchen und den Blick woandershin zu wenden. Koproduktionen zwischen Theatern weltweit haben oft nicht nur zu neuen Erkenntnissen, sondern auch Praktiken geführt, sodass die Initiative der Bundeskulturstiftung TURN, afrikanisch-deutsche Kunstproduktionen zu fördern, vielversprechend ist. Bernhard Stengele, Schauspieldirektor der thüringischen Bühnen Altenburg und Gera, der bereits in seiner Würzburger Zeit international arbeitete, erhielt eine Förderung für das gemeinsame Theaterprojekt mit dem Carrefour International de Théâtre de Ouagadougou in Burkina Faso: Die Schutzlosen. Obwohl wenige Flüchtlinge in Europa aus Burkina Faso kommen, entpuppte sich die Thematik der antiken Schutzflehenden für beide Seiten als äußerst aktuell und dringlich. Die Adaption der Texte von Euripides und Aischylos verfasste Stengele mit dem burkinischen Autor Paul Zoungrana zum Teil auf der Insel Lampedusa, die mit dem Untergang eines Flüchtlingsschiffs mit Hunderten von Menschen kurz vor ihren Stränden im Jahr 2013 grausame Metapher für die vielen afrikanischen Toten im Mittelmeer geworden ist.
Das Stück beginnt im Foyer der Bühne am Park in Gera. Eine Fotoausstellung von Lampedusa lenkt die Gedanken auf die Mittelmeerinsel, deren Badebuchten und Kliffe, die dunkelblaues Wasser umspült. Die Türen zum Saal öffnen sich, doch der Weg zu den Plätzen führt über die Bühne, entlang an Bauzäunen, hinter denen die Schauspieler um Hilfe betteln und sich flehend an die Gitterstäbe klammern. Eine bedrückende Situation, die umso bedrückender ist, da etwas wahr wird, was Stengele vorher prophezeit hat. Die Inszenierung funktioniert nur, wenn die Geflüchteten von den burkinischen Schauspielern dargestellt werden. Der blonden Schauspielerin nimmt man nämlich nicht nur das Betteln hinter den Gitterstäben nicht ab, sondern es ist das einzige Mal, in der sie in die Rolle eines Flüchtlings schlüpft. Zwei Schritte weiter fleht ihre Kollegin mit dunklen Haaren und dunkler Haut, und man ist betroffen, sie wird das ganze Stück lang Flüchtling sein. Vielleicht spielt sie einfach besser, oder ist man reingefallen auf die üble Schwarz-Weiß-Symbolik? Wieso nimmt man der dunkelhäutigen Darstellerin das Schauspiel eher ab als der hellhäutigen? Dies wirft uns wieder zurück auf die Frage, warum nicht nur in Gera, sondern auch in Hamburg, geflüchtete Menschen nicht von den eigenen Ensemblemitgliedern dargestellt werden, sondern die Rollen einmal mit echten Flüchtlingen, das andere Mal mit echten Afrikanern besetzt werden. Beide Inszenierungen lassen uns bei einer Antwortsuche im Regen stehen, weil sie es bewusst so wollen. Die Schutzlosen deuten auf den Rassismus in unserer Gesellschaft hin, der den burkinischen Schauspielern ganz alltäglich in Deutschland begegnet. Statt Gastfreundschaft legt man Fremdenfeindlichkeit an den Tag. Nicht nur die Bühne, sondern auch der Alltag legen hierzulande offenbar großen Wert darauf, die Differenz von Äußerlichkeiten zu betonen.
Das ist eine der vielen ernüchternden und erschütternden Fakten, die das Ensemble mit Nachdruck schafft. Den Platz eingenommen, präsentiert das Stück eine Revue aus kurzen Szenen, in denen Statistiken, Erklärungen und Ausführungen über die Unzulänglichkeit und Abartigkeit unseres Asylrechts eingewebt sind. Man verspürt Unverständnis und Wut auf deutsche und europäische Behörden, deren Unzulänglichkeit, geflüchteten Menschen zu helfen, stattdessen den Banken und ihren BWL-Kumpels das Geld nachzuwerfen. Mit Fakten und Informationen gesättigt, hat der Zuhörende nun ein Ohr für die poetische Bildsprache Zoungranas. Wärmefolien werden zu Herrschermänteln, Papierbötchen gehen auf der Leinwand unter, und wieder ist es die Musik, bei der die Schauspieler Kämpfe und Rivalitäten beenden und zueinander finden. Doch je weiter der Abend rückt, umso mehr mischt sich König Pelasgos aus Aischylos’ Schutzflehenden ein und äußert seine staatsmännischen Bedenken gegenüber den geflüchteten Töchtern des Danaos, die um Asyl bitten. Das abstrakte Gesetz des Rechtsstaats, ungefähr zur gleichen Zeit entstanden wie die Tragödie, wiegt schwerer als Humanität, welche die Schutzflehenden einfordern, schlimmer noch, es ist über die Jahrhunderte offensichtlich zum Naturgesetz geworden. Doch hier in Gera, wo die Wohnungen leer stehen, die Kinder wegziehen, Menschen gebraucht werden, spielen uns Die Schutzlosen vor, welch menschenverachtender und rassistischer Gestus diesen Gesetzen und unseren Sehgewohnheiten innewohnt. Für das deutschsprachige Kunsttheater ist es offensichtlich von Vorteil, Impulse aus anderen Kontinenten aufzunehmen. Vielleicht wird es irgendwann – wie in Every Year, Every Day, I am Walking am Magnet Theatre der Fall – keine Rolle spielen, welche Hautfarbe die Darstellerin der Frau hat, die aus dem Norden gen Süden geflohen ist.
Erschienen in: Theater heute 2 (2015), S. 27 – 31.
Um eine geschlechtergerechte Sprache zu nutzen, jedoch ebenso eine gute Lesbarkeit zu garantieren, wechselt die Arbeit zwischen männlichen und weiblichen Formen, was zu Irritationen führen kann und somit bewusst auf geschlechterfaire Sprache aufmerksam macht.