Auftritt
Staatsoper Berlin: Frauen wissen es besser
Musikalische Leitung Anja Bihlmaier, Inszenierung, Video Marie-Eve Signeyrole, Bühne Fabien Teigné, Kostüme Yashi
Assoziationen: Berlin Theaterkritiken Musiktheater Marie-Ève Signeyrole Staatsoper Berlin

„Ototoï popoï da“, klagt die Wahrsagerin Kassandra in Aischylos‘ „Orestie“ aus dem Jahre 458 v.Chr. Unübersetzbar und doch für jedermann verständlich. Die Tragödie wird geschehen. Troja wird untergehen und die Eisberge der Antarktis sowieso. Seine „Cassandra“ sei keine „aktivistische Oper“, sondern die „Tragödie einer jungen Aktivistin“, betont der Komponist Bernard Foccroulles. Die Tragödie der jungen „Klimatologiedoktorandin“ Sandra Seymour, die mit allen Mitteln der Kunst vor der Erderwärmung und ihren Folgen warnt – sogar als Stand-Up-Comedian. Und der doch keiner Glauben schenken will. 2023 wurde „Cassandra“ am Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie uraufgeführt und nun in der Brüsseler Besetzung an der Berliner Staatsoper Unter den Linden präsentiert.
Cassandra versus Sandra, mythologische Seherin versus heutige Umweltaktivistin, griechische Antike und Gegenwart – all dies in 13 Bildern miteinander verwoben. Als Opernsujet klingt dies auf dem ersten Blick spannend. Ob sich daraus ein veritables Drama entwickeln lässt?
Ein Kraftwerk der Gefühle wird von vielen eine Oper genannt. Doch die Inszenierung von Marie-Ève Signeyrole vermag kaum zu berühren. Das liegt größtenteils am überladenen Libretto von Matthew Jocelyn, das eine Menge belehrend plakativer Phrasen aus der Welt der Umweltaktivisten enthält, durchaus aber auch Fakten und Informationen. Nur ist die Oper nun mal kein Ort für wissenschaftliche Traktate und intellektuelle Diskussionen. Ausnahme: Gleich das erste Bild zeigte eindrucksvoll und drastisch, wie trotz der vehementen Warnungen von Cassandra Trojas Mauer krachend einstürzt. Verzweifelte Menschen kämpfen um ihr Leben, das Entsetzen ist in Close-ups in ihren Gesichtern zu sehen, auch als Apollo (Bariton Joshua Hopkins als lustvoller Bösewicht) sich in den Trümmern an den Leichen verlustiert und Kassandra nachstellt. Geschmackvoll war das nicht. Dennoch: Großartige Schauspielkunst! Gleichzeitig phänomenaler Einstand für Katarina Bradic als Cassandra. Mit der Wucht der Tragödin gab die serbische Mezzosopranistin der ohnmächtigen Prophetin überlebensgroßes Format.
Signeyrole verzichtete weitgehend auf dramatische Zuspitzungen. Sie arbeitet lieber mit poetischen Bildern. Bildern von Bienen, Bienenschwärmen, weil das Bienensterben ebenfalls zu einem Symbol für die Umweltkatastrophe geworden ist. Den Bienen galt auch die besondere Liebe des Komponisten: Gleich drei naturalistische Intermezzi sind ihnen gewidmet, zuerst als lustiges Schwarmballett, am Ende nur noch als trauriges Summen, als eine Art Sphärenmusik.
Emphatisch versuchte Klimaktivistin Sandra Seymour (mit gewaltigem Sopran und mitunter schriller Höhe: Jessica Niles) ihre Botschaft zu vermitteln. Als „Stand-up-Comedy“ wird ihre Rolle im Teaser-Text der Staatsoper beworben, doch Witze hatte die auf die Rettung der Menschheit bedachte Klima-Comédienne nicht auf Lager. Gepasst hätte das ohnehin nicht zu dem Ernst ihrer Botschaft, egal wie plakativ diese vorgetragen wird. Ihr optisch eher unattraktiver Liebhaber Blake ist ein halbherziger Klimaaktivist. Er liest lieber die Klassiker und erforscht, was wohl Kassandras „Ototoï popoï da“ wirklich bedeuten mag. Das Grauen vor dem sicheren Ende, das die anderen nicht wahrhaben wollen?
Er wird dieses bald erleben, denn er kommt bei einer Schiffskatastrophe (natürlich in der Antarktis) ums Leben. Paul Appleby (mit klarer Diktion und hellem Tenor) übernahm im Hintergrund den Gesang, während der erkrankte Valdemar Villadsen die Rolle mit Maske auf der Bühne verkörperte. Feine Töne gelangen Sarah Defrise als Sandras schwangerer Schwester Naomi – trotz halsbrecherischer Intervalle. Auch Gidon Saks überzeugte mit tiefem Bariton und auch schauspielerisch als moderner (Alexander) und antiker Vater (König von Troja Priam).
Sie alle aber kann Sandra nicht von der Notwendigkeit des Klimaschutzes überzeugen. Ihr Vater (Klischee, Klischee) ist nur am Geld und nicht an der Umwelt interessiert. Ihre Schwester hat eigene Probleme. Der Einzige, der auf die schlaue Sandra gehört hat, scheint der Bühnenbildner Fabien Teigné. Sein 5×5 Meter großer, vielseitig verwertbarer und multifunktionaler Kubus, der mal Videoleinwand, mal Styropor-Mauer und Bibliothek, mal einen Bienenstock, mal das Arktis-Eis darstellte, dürfte einen möglichst niedrigen ökologischen Fußabdruck hinterlassen.
Anja Bihlmaier lotete am Pult der Staatskapelle Berlin die Partitur in allen ihren Details und Klangfarben aus. Manchmal klang es wie Monteverdi, dann wieder wie Debussy. Besonders berührend wirkte die Musik dort, wo Foccroulle, der auch Organist ist, die Musik eines anderen zitierte. „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig“, sang der Chor aus Johann Sebastian Bachs Kantate BWV 26. Tatsächlich gibt es in Chile eine Eisplatte mit einer Ausdehnung von etwa 72 km, die Bach-Schelfeis genannt wird. „Who wants to live in a world without Bach?“, fragt Sandra an einer Stelle. Niemand.
Erschienen am 2.7.2025