Theater der Zeit

II. Grundlagen der Ausbildung

Sprechen und Spielen: Maske – zeigen durch verdecken

von Astrid Griesbach

Erschienen in: Lektionen 7: Theater der Dinge – Puppen-, Figuren- und Objekttheater (10/2016)

Assoziationen: Puppen-, Figuren- & Objekttheater Kostüm und Bühne

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Das Spiel mit der Maske ist an der HfS „Ernst Busch“ in der undisziplinierten Disziplin der zeitgenössischen Puppenspielkunst sehr bewusst einer der ersten Ausbildungsbausteine. Die Maske kommt uns, obwohl mit dem schwerem Gepäck des antiken Theaters bepackt, leichtfüßig, frisch und sich immer wieder wandelnd entgegen. Maske und Puppe fordern uns als Zuschauer besonders heraus, unsere Augen übernehmen die Sinnesführung, nicht das Ohr, das die Lüge so leicht entdeckt. Die Maske ist Gegenstand des ersten Szenenstudiums, also das erste szenisch zu untersuchende Theatermittel in unserer Ausbildung.

Die Maske und der Zuschauer gehen in einem Augenblick eine wundersame Verbindung ein; dieser Moment hat eine Einmaligkeit, er ist nicht wiederholbar, der Kopierschutz ist nutzlos, ein analoger Triumph in unserem digitalen Alltag. Daher gibt es auch kein „Rezept“ oder eine „Anleitung“, wie man Maske spielt. Das Erobern der Maske ist nicht durch das pure „Nachmachen“ erreichbar. Der Spieler muss sich die Maske einverleiben, um das Unverwechselbare zu schaffen: das Schöpfen eines neuen Wesens.

Das Ausprobieren, das Sich-Nähern, um der Maske eine Identität zu verleihen, ist eine gemeinsame Suche zwischen Körper und Material. Nach den Grundlagenseminaren, in denen zuerst im Schauspiel der eigene Körper, dann in der Animation die Dinge untersucht worden sind, beginnt der Spieler jetzt lustvoll seinen Körper zu füttern, mal zu viel, mal zu wenig, es herrscht das Entdecken im Tun, bis ein konkretes inneres Bild entsteht, eine Spielphantasie zu fließen beginnt. Und es entwickelt sich eine Wiederholbarkeit, ohne bloßes Kopieren, somit bildet sich über das Mittel Maske ein Grundwerkzeug des Spielers. Sich von außen einer Figur zu nähern, sich über das Material zu äußern, sich durch Objekte Welten zu kreieren, diese fast aus der Zeit gefallene theatrale Sicht auf die Dinge, dieses Handeln durch Dinge, ist der ureigene Ausdruck eines Puppenspiel-Studierenden. Das Mittel der Maske ist in dieser Art der Herangehensweise grenzenlos, ja ver-rückt, und ermöglicht, im wahrsten Sinne des Wortes, eine Verrückung, um neue Sichtachsen auf scheinbar Bekanntes zu entdecken. Und die Maske ist nicht eitel. Sie lebt von innerer Dynamik, vom Rhythmus und von dem Versuch, die Kraft der Sinne zu entdecken und diese gleichsam zu schärfen. Es gilt, eine Membran aufzubauen, durch die sich das Spiel der Maske in einen steten Austausch mit dem Zuschauendem begeben kann. Das ist keine Einbahnstraße: Der Atem, der Ton, die Bewegung, die Gedanken, die Unberechenbarkeit sind in diesem Zusammenspiel die Zutaten, um Aufmerksamkeit zu provozieren. Das Spiel mit der Maske ermöglicht den Studierenden, sich verdeckt zu zeigen, den eigenen Körper im Spiel zu verzerren, durch die Maske hindurch zu agieren und so einen Weg auf der Suche nach einem eigenen darstellerischen Ausdruck zu finden.

Das Ansehen, das haptische Begreifen, das sinnliche Materialgefühl und die äußere Beschreibung liegen ganz am Beginn der Auseinandersetzung mit der Maske. Welche Erkenntnis liefert der erste Blick: Wie ein Zoom kann dieser Phantasieräume eröffnen.

Der Körper des Spielers muss sich die Maske einverleiben, sich z. B. eines anderen Wesens bedienen, einen „fremden“ Kopf aufsetzen. Er muss einen Sinn, wie zum Beispiel das Sehen, kompensieren und einen kreativen Zugang zur imaginierten Welt seiner Maskenfigur entwickeln.

Aus der überbordenden Fülle der unterschiedlichen Maskenarten hier ein Beispiel: die Stirnmaske. Diese Maskenart beginnt am Haaransatz und legt sich über den Oberkopf des Spielers, das Kinn fällt auf die Brust und so wird diese Maske sichtbar. Scheinbar seines Halses beraubt, entsteht eine Verzerrung im Habitus des Spielers. Schultern und Arme scheinen aus dem Masken-Kopf zu wachsen, der Blick des Spielers ist auf den Boden gerichtet, der Körper braucht neue Bewegungskoordinaten. Die Spiegelung durch den Dozenten und die Kommilitonen sind hier unabdingbar, im Dialog mit diesen beginnt die theatrale Untersuchung: Wie blickt diese Maske, welchen Bewegungskanon provoziert sie, woher nimmt sie ihre Atemimpulse, was denkt sie wie – wie denkt sie was, wie zeigt diese Maske Gedankenspiele, wie produziert sie Töne? Wo befindet sie sich im Raum, wenn sie „festgewachsen“ ist, wie groß ist ihr Bewegungsradius, wenn sie laufen kann, wo sind die Raumgrenzen und wie macht man diese sichtbar? Wird sie geschoben oder schiebt sie sich durch den Raum, ist sie allein? Wie spricht ihr Körper, ist Körpersprache universell? Ist der Boden eine heiße Herdplatte oder eine Sanddüne? Wie soll man sich entscheiden bei zwei gleich großen Heuhaufen – und wie zeigt man die Not, sich nicht entscheiden zu können? Was passiert im Körper, wenn man die Luft rauslässt? Und was ist Kauderwelsch? Es gilt, eine Figur ohne Vorbehalte zu hinterfragen, wir drehen sie x-mal, sehen sie mit einem Blick von oben, sehen sie mit dem Blick aus der Hölle, jagen sie durch die Zeiten, kneten sie so lange, bis sie weich und formbar zur Verfügung steht.

Angefüllt von all diesem beginnt der wunderbare Vorgang des Auswuchtens der Figur mittels der Kraft der Imagination des Spielers. Maske und Spielerkörper gehen eine Symbiose ein, wie eine Puppe, von innen geführt.

Szenenstudium 1: Die Arbeit mit der Stirnmaske

Die Studierenden haben sich in der Maskenarbeit zu Shakespeares Troilus und Cressida unterschiedliche Charaktere von Geiern erarbeitet, so hat jeder seinen „Vogel“. Diese haben sie auf der Grundlage ihrer je eigenen Vorstellung der dramatischen Figur entwickelt. Sie haben für ihren Charakter Bewegungsabläufe geschaffen und ihnen einen individuellen körperlichen und stimmlichen Ausdruck gegeben. Die Vogelmasken sind eine Spezies und doch unterscheidbar, obwohl die Masken allein durch den Abguss als Material identisch gestaltet sind. Durch Improvisationen, durch das „Umspülen“ der Grundvorgänge haben sich die Studenten spielerisch Shakespeares Text genähert, sich das Thema „einverleibt“ und begonnen, die verschiedenen Spielebenen zu durchdringen. Sie haben den unabdingbaren Moment des beginnenden Sprechens einer Maske ausgelotet, diese Erweiterung, wenn der Körper in seinem Ausdruck an Grenzen gerät und Töne, Worte sich mit der Maske verbinden: aus einem Krächzen entstehen Shakespeares Verse.

Wir beginnen mit einem Maskenchor. Totenvögel auf dem Schlachtfeld von Troilus und Cressida nach Shakespeare. Die Spieler stehen mit AasgeierStirnmasken auf Podesten. Die Geier blicken auf das Geschehen und haben Hunger. Die Studierenden beginnen, indem sie ihre Maske durch körperliche, rhythmische, gedankliche Unterscheidung zu „ihrem“ individuellen Aasgeier machen und diese Figur dann ins Spiel setzen. Sie haben damit den Stachel gefunden, der die Vorgänge auf der Bühne aufheizt. Unter ihnen eine Szene von kampfunlustigen Kriegern, und die Geier wissen: Krieger, die nur schwatzen, machen nicht satt. Was tun? Die Aasgeier versuchen, die Szenerie zuzuspitzen, aufzustacheln. Sie springen, sie toben, sie tanzen. Nichts hilft, sie müssen hinabsteigen aus ihrer sicheren Höhe. Und hier erleben wir einen spielerischen Mehrwert der Stirnmaske: Sowie das Kinn auf die Brust fällt und dieses andere Wesen Gestalt annimmt, wird scheinbar mühelos die Umkehr des Geschehens vollzogen. Mit dem Aufrichten des Kopfes ist die Stirnmaske aus dem Blickfeld des Zuschauers genommen und der Spieler hat Raum für eine andere, zweite Figur. Er springt sozusagen in die andere Figur; dieser Wechsel, ganz aus dem vorherigen Spiel geboren, ist überraschend und scheinbar unkompliziert, weil der Fluss der Spielphantasie nicht unterbrochen wird. Im Gegenteil, durch die kraftvolle Veränderung ist der Figurenwechsel „barrierefrei“ und scheinbar mühelos für den Studierenden. So auch in diesem geschilderten Szenenstudium: Der fliegende Wechsel geschieht, und aus den Totenvögeln werden blitzschnell kriegerische Gesellen, die durch Verrat das ganze Geschehen anheizen und in ein Schlachtfeld verwandeln, auf dem die Aasgeier nach ihrer neuerlichen Wandlung ihren Hunger stillen können.

Überraschend ist immer wieder, dass nach dem „Demaskieren“, (hier als der spielerische Vorgang des In-die-Rolle-Springens, um schauspielerisch zu agieren), der zweite Charakter, der Totenvogel, scheinbar im Spieler erhalten bleibt. Die Studierenden legen ihn nicht ab, als bliebe er wie ein Schutz, eine unsichtbare Maske.

Szenenstudium 2: Die Flachmaske als Zeichen

Die Veränderung des Körpers ist diesmal nicht aus der Verzerrung des eigenen Spielerkörpers entstanden, sondern aus dem Vorgang, in dem man sich eines anderen Hauptes bedient. In diesem Fall bestimmt das Bild des Kopfes den Körper, besser, der Kopf bemächtigt sich des Körpers.

Diese Maske begegnet uns zuerst als Ikonographie im öffentlichen Raum, hier ganz profan als Papiertragetasche, edel bedruckt mit dem Logo einer Nobelschuhmarke. Dieser mit einem hyperrealistisch gestylten Mädchenkopf bedruckten Tragetasche haben wir den Boden entfernt und so eine perfekte Flachmaske erhalten.

Die Vorbereitungen vor dem Aufsetzen gleichen sich – der lange Blick von außen, das haptische Begreifen –, jedoch ist dieses Material durch seine Ikonographie anders aufgeladen. Mit der Flachmaske, durch die der Aktionsradius des Kopfes zweidimensional ist, haben wir versucht, Bewegungsimpulse aus der Werbefläche herauszufiltern. D. h., diese Maske erhält ihre Impulse von außen, wie an Fäden gezogen, marionettenhaft, so die Starre der Fotografie weitertreibend bis in die Sprache hinein. Die Spielerin ist die an unsichtbaren Fäden agierende Puppe und zugleich deren Manipulatorin – direkt aus der Werbe-Ikonographie extrahiert. Der Sprach- und der Bewegungsimpuls sind nicht kompatibel, werden mit unterschiedlichen Informationen gespeist, die Maskenfiguren wandern so als komplexes Gebilde auf dem schmalen Grat zwischen Bildender und Darstellender Kunst. Es entsteht eine verlebendigte Skulptur, die mit der ihr innewohnenden Dynamik unser Bildsystem verunsichert, uns also interessiert. Zu Beginn der Szenenstudien findet neben dem handwerklichen Erobern des Materials die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Bildenden Kunst als Erkenntnis- und Inspirationsquelle für die Studierenden statt – vom Zeichenhaften als Ideenträger über die Street Art bis hin zum entdeckenden Blick im öffentlichen Raum. Wo stecken die Masken und welche Geschichten transportieren sie? Und wie durchlässig, selektiv und bewusst trainiert man seinen Blick für die uns umgebenden alltäglichen Dinge und wie kann man aus Alltäglichem Kunst kreieren? Wichtige Fragen, die zu Materialsammlungen des künftigen Puppenspielers führen.

Szenenstudium 3: Stirn und Flachmaske

Thema des Szenenstudiums ist die szenische Erarbeitung der Graphic Novel M – eine Stadt sucht einen Mörder. Die Bühne ist Bühne, ein Tableau. Im Hintergrund steht die Gemeinschaft der Bewohner einer Mietskaserne, ortsgebunden, sich nicht von der Stelle rührend, aber alles registrierend, Flachmasken, (mit Street-Art-Elementen besprühte Papiertüten) über den Kopf gezogen. Ganz aus der Körperlichkeit agierend, beinahe phlegmatisch, nur mit kleinsten Bewegungselementen, fast minimalistisch, skizzenhaft die Figuren greifend. Sie brauchten nur einen kleinen Kommentar, eine Kleinstbewegung, um ihre verächtliche Haltung zu zeigen, schon wird aus ihnen ein Chor, eine Ansammlung von Menschen; obgleich unterschiedlich, versuchen sie in der Gruppe aufzugehen, Individualität zu leugnen. Sich unantastbar zu machen, gelingt, je weniger sie „sichtbar“ sind. Wenn sie ihre Flachmasken mit einem Senken des Kopfes bis zum Boden abstreifen, werden die Stirnmasken, hier Tiere, sichtbar. Das Tableau wandelt sich zur Spielarena, zum Kampfplatz, und jetzt ist Raum da zum Agieren; die Absicht, das Innere nach außen zu kehren, stand über der Szenerie. So fungierte sinnigerweise diese Maske als Ausdruck des „Demaskierens“ eines hinter der Uniformität verkrochenen Wesens. Mit dem Heben des Kopfes wäre hier sogar noch eine dritte Maske möglich. Sobald die Spieler aber wieder in ihre „Tüten“ hineinkriechen, wirken sie wie eine Tapete, selbst der menschliche Körper scheint vernebelt. Das Zeigen durch Verdecken erweist sich hier als ein elementares Stilmittel. Die überlagerten Schichten einer Ausgrabung gleich freizulegen und nur scheinbar Klares, Einfaches zu hinterfragen, zu verdrehen, auszuschälen und immer wieder zu wandeln, ist eine wirksame Möglichkeit, spielerisch zum Kern von Geschichten und Figuren vorzudringen.

Die Maske ist eine der ältesten theatralen Ausdrucksformen. Heute, in den Zeiten der Forderung nach dem Authentischen auf der Bühne, scheint der ent-deckende Vorgang des Verfremdens geradezu anachronistisch. Aber so ist das mit dem Schein: Die Maske kann dahinterschauen.

Prof. Astrid Griesbach (geb. 1956), Puppenspielerin und Regisseurin, war Leitungsmitglied von Theater&Philharmonie Thüringen bis 2010 und ist seit dem Wintersemester 2009 Professorin im Fach Puppenspielkunst an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“.

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