Theater der Zeit

Auftritt

Deutsches Theater Berlin: Von O. zu Pelicot

„Die Marquise von O. Und – “ nach der Novelle von Heinrich von Kleist – Regie Ildikó Gáspár, Bühne und Kostüm Lili Iszák, Musik Flóra Lili Matisz, Video András Juhász, Licht Cornelia Gloth

von Thomas Irmer

Assoziationen: Berlin Theaterkritiken Deutsches Theater (Berlin)

Bögen und Bezüge zur die „Marquise“-Erzählung: „Die Marquise von O. Und – “ in der Regie von Ildkikó Gáspár am Deutschen Theater Berlin. Foto Eike Walkenhorst
Bögen und Bezüge zur die „Marquise“-Erzählung: „Die Marquise von O. Und – “ in der Regie von Ildkikó Gáspár am Deutschen Theater BerlinFoto: Eike Walkenhorst

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Gegen Ende der knapp zweistündigen Inszenierung, mit der die ungarische Regisseurin und Dramaturgin Ildikó Gáspár am Deutschen Theater debütiert, wird eine weitere kritische Ebene zu Kleists Novelle und den damit verbundenen drei anderen Vergewaltigungs- und Misshandlungsfällen aus der Gegenwart aufgemacht. Aus einer Lektürehilfe fürs Studium werden abschließende Deutungen renommierter (west)deutscher Germanistik-Professoren zu „Die Marquise von O.“ zitiert, die alle das Eigentliche der Erzählung – die Vergewaltigung der Marquise während ihrer Ohnmacht – in gespreizter Wissenschaftlichkeit geradezu haarsträubend vermeiden oder in bizarrer Auffassung als Allegorie fehldeuten.

Gáspár hat das als einen letzten Zünder in ihre große Montage für eine sehr offene Bühnensituation eingebaut, die über weite Strecken wie die Probe einer Band mit ihren Instrumenten in einer Art Installation in einem weißen Ausstellungsraum wirkt. Elektroklavier, Gitarrenständer, Mikrophone. Dahinter eine große gläserne Vitrine. Das Thema des zur Betrachtung und männlichen Begehrens stillgestellten weiblichen Körpers wird mit der historischen „anatomischen Venus“ in diesem Schneewittchen-Sarg eingeführt (siehe dazu auch Marie Schleefs Essay in TdZ 1/25 https://tdz.de/artikel/ce1abbd4-623f-46fb-84b9-632051e45a3b), als Motiv von Kleist bis zum Fall Gisèle Pelicot, von der Ohnmacht in einer Kriegssituation zur gezielt herbeigeführten Sedierung. Schon der Titel kündigt das mit seinem Und-Gedankenstrich an.

Das exzellente Ensemble steigt in Kleists Erzählung ein, spricht die Figuren mit minimaler epischer Darstellung: Mara Eggert als O., Alexander Khuon als Graf, Jörg Pose als Vater und die gleich mit dem ersten Satz alles situierende Mutter Almut Zilchers, dazu der Bruder, den Florian Köhler als Sänger einer Mörder-Ballade an der Gitarre in andere Abschnitte der Inszenierung weiterführt. Alle tragen Rock, Jackett und Sonnenbrille zu einer Patti-Smith-Zottelperücke. Das bleibt rätselhaft.

Hinein geht es in drei bestürzende Fälle, von denen der jüngste von Pelicot zwar der bekannteste ist, mit den anderen beiden aber auch Muster jeweiliger gesellschaftlicher Verhältnisse im Rückblick auf Kleists soziale Familienzwänge einer ungewollt Geschwängerten klar werden.

Die Sizilianerin Franca Viola weigerte sich 1966, ihren Vergewaltiger zu heiraten, was eine Wiederherstellung der Ehre nach damaliger Auffassung bedeutet hätte. Was heute nach Täterbelohnung aussieht, war jahrhundertelang Brauch – schon die noch ältere Vorlage Kleists, eine Geschichte von Montaigne, hat diesen Fokus auf ein seltsames Sittenrecht. Die Schilderung des Falls der Ungarin Erika Renner gelangt dagegen in eine noch ungeheuerlichere Dimension von Rache-Verstümmelung durch Säure durch ihren Ex-Partner. Nichts davon wird gezeigt, alles ist in den Worten dokumentarischen Berichtens.

Diese Fallschilderungen in der Großaufnahme von Gesichtern über Video führen immer wieder in die „Marquise“-Erzählung zurück, stellen Bögen und Bezüge her – und letztlich die in den jeweiligen Fall eingeschriebene gesellschaftliche Bewertung des Opfers.

Im Fall Pelicot werden die Gerichtsdokumente herangezogen, darunter die Aussage von Monsieur Pelicot, warum er das seiner Frau angetan hat und wie alles begann. Jörg Pose spricht diese andauernde Rache für eine Demütigung direkt in die Kamera, vielleicht der beklemmendste Moment dieser Inszenierung.

Sicher, die Form des Ganzen bleibt mehr Demonstration des Dokumentarischen als wirkliches Spiel, etwas aufgelockert durch die von den Spieler:innen selbst gemachte Musik und die mit besonderen Scheinwerfern und Stroboskopeffekten aufwendige lichttechnische Gliederung der Einzelteile. Beeindruckend ist vor allem die zu einer großen Nachdenklichkeit zwingende Montage, die eben nicht nur auf eine Theaterbetroffenheit aus ist. 

Erschienen am 29.10.2025

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