Theater der Zeit

Auftritt

Neubrandenburg: Traurige Komödie der verschwundenen Jugend

Theater und Orchester Neubrandenburg Neustrelitz: „Wohnen. Unter Glas“ von Ewald Palmetshofer. Regie Andreas Kloos, Ausstattung Esther Bätschmann

von Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: House of Arts – Über Macht und Struktur am Theater (10/2020)

Assoziationen: Mecklenburg-Vorpommern Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg/Neustrelitz

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Ewald Palmetshofers Komödie über die Not dreier Mittdreißiger – Babsi, Jeani und Max – aus dem Jahr 2008 hat sich im Repertoire der Gegenwartsdramatik etabliert. Vermutlich, weil der Autor, nunmehr mit ganz anderen Themen und Stoffen, mittlerweile zu den wichtigsten deutschsprachigen Dramatikern gehört, ganz sicher aber auch, weil das Stück mit seiner „Stummelsprache“ aus unbeendeten Sätzen einen soziologischen Befund über die behütet Unbehausten vorstellt, der auch für die unmittelbare Gegenwart von Interesse ist.

Früher lebten die drei in einer WG, man war „ein bisschen links“ und schwelgte in jugendlicher Gruppendynamik samt erhoffter Beziehungsanbahnungen. Jetzt hat Jeani, kurz vor ihrer Hochzeit, ihre ehemaligen ­Mitbewohner Babsi und Max zu einer Art nostalgischem Junggesellinnenabschied in ein Berghotel eingeladen. Das ist die Konstella­tion für diese traurige Komödie der verschwundenen Jugend.

Andreas Kloos hat aus Palmetshofers Sprache, die das Alltägliche und Beziehungsbanale in bester österreichischer Manier in eine auftrumpfende Kunstbehauptung wendet, eine Sprechakt-Komödie geformt. Anika Kleinke, deren Jeani als Erste die Bühne betritt, legt sofort los und ergeht sich in Halbsätzen unter körperlichen Verrenkungen in Berichten über die einstige WG.

Auf der Bühne von Esther Bätschmann sind drei im Sicherheitsabstand aufgestellte Stühle samt Telefontischchen zu sehen, die in einem Gasthof mit Jagdambiente stehen könnten, wie es der ausgestopfte Hirsch- ­beziehungsweise Wildschweinkopf zu beiden Seiten nahelegen. Kein hipper Ort, eher ein Raum der Verlassenheit, in dem mindestens fünfzig Jahre lang nicht mehr umdekoriert wurde. Wie Jeani trägt auch Judith Mahlers Babsi ein Dirndl, das zunächst mit einer ­Lederjacke kaschiert wird. Max, in Lederhosen gekleidet, hat sogar einen Gamsbarthut dabei. Derartige Zitate österreichischer Trachten wirken in Verbindung mit den Figuren, die ja mit einem heutigen urbanen Habitus aus­gestattet sind, wie ein Verfremdungseffekt. Eine auf Abstand zielende Setzung, die die Figuren in eine andere (konservative, ländliche) Welt versetzt, in der sie aneinander vorbeireden und in hochtrabender Sprache leiden, weil ihr halbes Leben vielleicht schon das Ganze war. Das jedenfalls kommt sehr stimmig und auch witzig rüber.

Kloos hat sich mit seinen Spielerinnen und Spielern ein paar schöne Extras einfallen lassen. So etwa, wenn Babsi in phlegmatisch angewiderter Zuhörerpose sich immer mal ­wieder auf die Thymusdrüse trommelt, was ja als Yoga-Entspannungstechnik angeblich zur Steigerung des Tatendrangs beitragen soll. Jeani liefert ein paar beeindruckend artistische Soli, darunter ein minutenlanger Lach­anfall. Max schließlich schraubt sich in einem furiosen Monolog über die Elektronikkette Saturn und iPhone-Hüllen mit Nutten-Sprüchen in einen Zustand, der ihn hinterher eifrig in der Bibel lesen lässt. Dieser Max von Momo Böhnke hält ausgezeichnet die Balance zwischen Sprachkunst und Figurenkomik. Als er in einer Bar von der sich nach ihm verzehrenden Jeani zur Bums-Techno-Version des Schla­gers „Holz vor der Hüttn“ angebaggert wird, sieht man ihm die ganze Pein an, die bereits sein halbes Leben bestimmt. Am Schluss wird die Trachtenkostümierung durch Funk­tions­klei­dung ergänzt – vielleicht bricht man ja doch noch zu einer Bergwanderung auf. Allerdings glühen nun auch kleine Teufelshörnchen auf den Köpfen der drei – es könnte also auch in die andere Richtung gehen.

Palmetshofers Stück ist ja schon ganz verschieden gedeutet worden, wobei allen Versionen der Generationenbefund der Mittdreißiger gemeinsam war. Hier in Neubrandenburg spielt der zwar auch eine Rolle, jedoch weniger konkret als vielmehr durch die Komik abgründig hilfloser Figuren abstrahiert, die nicht unbedingt mit dem Unterfutter der neuesten Soziologie ausgestattet sind. Stattdessen wird die Sprache besonders ernst genommen – und damit gelingt diese Inszenierung mit ihrer geschickt gesetzten Verfremdungstechnik. //

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